08.07.2024
Leben wir in einem Interregnum?
Der demokratische Rechtsstaat dankt ab, so Novo-Redakteur Kolja Zydatiss und Mark Feldon in einem neuen Buch. Seine Nachfolge ist noch nicht geregelt, wir befinden uns in einer Übergangsphase.
Es gibt Menschen, die behaupten, dass wir in einem postfaktischen Zeitalter leben. Aber leben wir auch in einem postdemokratischen? Diese Frage stellen sich Kolja Zydatiss und Mark Feldon in ihrem neu erschienenen Buch „Interregnum“. Wobei der Untertitel „Was kommt nach der liberalen Demokratie?“ schon die Antwort zu geben scheint.
Dabei beginnt das Buch optimistisch mit der kurzen Darstellung einer liberalen Demokratie als eine Art Ideal. Dass dieses Ideal nie erreicht wurde, geben die Autoren direkt selbst zu, wenn sie schreiben: „Die von uns skizierte Liberale Demokratie mit großem „L“ hat es natürlich historisch ebenso wenig gegeben […] oder sonst eine Gesellschaft der ‚Freien und Gleichen‘“. Trotzdem orientiert sich die weitere Argumentation des Buches immer wieder, wenn auch meistens implizit, an dieser idealen liberalen Demokratie. Um sich nun dem Vorgang des Interregnums, also der Übergangszeit zwischen zwei Herrschaftszuständen, zu näheren, beginnen die Autoren mit einem kurzen historischen Abriss über Aufstieg und Fall des „klassischen“ Liberalismus von Thomas Hobbes bis in die Jetztzeit. Dabei werden alle zentralen Punkte der liberalen Geschichte aufgegriffen, ohne sich zu sehr in Einzelheiten zu verlieren oder die dem Liberalismus inhärenten Widersprüche auszublenden.
Auf die Erörterung der Geschichte folgt dann eine Zustandsbeschreibung des heutigen Liberalismus, der von den Autoren als Hyperliberalismus bezeichnet wird. Der gemeine Bürger würde vielleicht von woker Ideologie sprechen. Detailliert, aber nicht langatmig diskutieren Zydatiss und Feldon dann die Erscheinungsformen des Hyperliberalimus in den Bereichen Vielfalt, Ökologismus und Transhumanismus – jeweils mit der Zusatzbezeichnung „Regime“ in den Kapitel-Überschriften. „Eine neue Zeit der Selbstkasteiung und der rituellen Buße war angebrochen“, heißt es über die politischen Reaktionen auf Bewegungen wie Black Lives Matter. Zum Thema Transhumanismus wird z.B. von einem Trans-Mann berichtet, der unter anderem unter: „einem stressbedingten Herzinfarkt, einer Sepsis und einer 17 Monate wiederkehrenden Infektion zu kämpfen hatte“.
„Es gelingt den Autoren gut, sowohl die Erscheinungsformen des Hyperliberalismus als auch dessen autoritären Charakter herauszuarbeiten.“
Insgesamt arbeiten sich die Autoren kenntnisreich und polemisch an der gesamten Woke-Agenda ab, was den Leser immer wieder zwischen Zuständen des Schmunzelns und des blanken Entsetzens schwanken lässt. Selbstverständlich darf dabei eine Betrachtung der Corona-Pandemie nicht fehlen. Es gelingt den Autoren hier gut, sowohl die Erscheinungsformen des Hyperliberalismus als auch dessen autoritären Charakter herauszuarbeiten. Ohne es explizit zu sagen, verstehen Zydatiss und Feldon „Wokesein“ hier ganz deutlich als Merkmal des einsetzenden Interregnums, zumindest in den westlichen Gesellschaften.
Doch das Interregnum kann auch andere Wege einschlagen und die werden im weiteren Verlauf untersucht. Unter dem Titel: „Antipoden des Hyperliberalimus“ werden drei alternative und, um präziser zu sein, direkter autoritärere Modelle diskutiert. Beginnend mit dem eher moderaten Sozialkonservatismus, wie er in Polen oder Ungarn Anwendung findet bzw. fand, über den Sonderfall Singapur bis hin zu modernen autoritären Staaten wie Russland, wird eine große Bandbreite derartiger Systeme abgehandelt. Auffällig ist hier, dass die Autoren zumindest in Teilen mit dem Sozialkonservatismus ein wenig zu sympathisieren scheinen. So z.B., wenn er mit einer niedrigen Arbeitslosenquote oder attraktiven Wirtschaftsstandorten einhergeht. Es werden aber auch dessen negative Seiten benannt, so dass nicht der Eindruck einseitiger Werbung für dieses Modell entsteht.
„Die Autoren scheinen in den europaweiten Bauernprotesten eine Chance zu erblicken, dass sich das Interregnum doch noch in eine andere Richtung entwickeln könnte.“
Deutlich wird die Abneigung gegen die Antipoden dann beim Kapitel über den Neofaschismus vulgo den autoritären Staat. Das Kapitel startet direkt mit der Beschreibung einer Durchgangsstation für russische Soldaten, die an die Front müssen. Von Brutalität und Köperflüssigkeiten ist die Rede. Die Autoren lassen keinen Zweifel an ihrer Abneigung gegen das russische Modell und verurteilen auch manchen zu russlandfreundlichem Teil der konservativen Gemeinschaft, die sie ansonsten eher positiv darstellen.
Dieser Buchteil schließt mit einer kurzen Betrachtung zu den europaweiten Bauernprotesten, die als eine Art kleine Revolution betrachtet werden. Die Autoren scheinen hier eine Chance zu erblicken, dass sich das Interregnum doch noch in eine andere Richtung als den Hyperliberalismus entwickeln könnte. Am Ende des Werkes steht dann ein kurzer Abriss über den sich seit dem Überfall der Hamas auf Israel immer stärker manifestierenden Antisemitismus der woken Linken. Auch hier wird der autoritäre und im Endeffekt freiheitsfeindliche Charakter des Hyperliberalismus nochmal deutlich.
Fazit: Ein sehr lesenswertes Buch. Auf die Frage, was denn nach der liberalen Demokratie kommt, kann es zum jetzigen Zeitpunkt freilich noch keine vollumfängliche Antwort geben.