12.02.2018

Wissenschaft im Gleichschritt

Von Boris Kotchoubey

Die Suche nach der Wahrheit verliert in der Wissenschaft immer mehr an Bedeutung. Darüber konnte auch der „March for Science“ nicht hinwegtäuschen.

In einem russischen satirischen Theaterstück aus dem 19. Jahrhundert fragt der Held, ein junger Freidenker, einen erzkonservativen General, wer dessen Lieblingsdichter sei. Er erwartet vielleicht die Antwort, der General lese überhaupt keine unnützen Bücher, und ist völlig überrascht, als dieser den Namen Beaumarchais nennt. Wie – der Verfasser des „Figaro“? „Aber was gefällt Ihnen an diesem Autor?“, fragt der Mann entgeistert. „Klar“, antwortet der General, „er kann offensichtlich gut marschieren!“ („évidemment, il peut beau marcher!“).

Diese Anekdote vom „Dichter beau marcher“ kam mir in den Sinn, als ich im April 2017 innerhalb weniger Tage zwei Erinnerungen aus dem Rektorat bekam, unbedingt am „Marsch der Wissenschaftler“ teilzunehmen. Marschieren galt immer als militärisches Exerzitium, eine repetitive und monotone Übung, das genaue Gegenteil einer geistigen Tätigkeit. Natürlich haben auch bisher Gelehrte, Menschen des Geistes, an verschiedenen Märschen für oder gegen eine bestimmte Politik teilgenommen; aber niemals gingen sie als Gelehrte, als eine besondere Gruppe, die ihre eigene Sache verfolgt, auf die Straße. Deshalb war „der Marsch der Wissenschaftler“ etwas in der Geschichte der Wissenschaft Einzigartiges.

Wofür oder wogegen gingen Wissenschaftler marschieren, statt Experimente durchzuführen, über Daten und Theorien nachzudenken oder einfach ihre ohnehin knappe Freizeit mit der Familie zu verbringen? Es gab unter den Organisatoren und Befürwortern des Marsches folgende Antworten: Die Wissenschaftler sollen „ihre Solidarität kundgeben“, „für wissenschaftliche Fakten stehen“, „für die bessere Anerkennung der herausragenden Rolle der Wissenschaft in der modernen Gesellschaft“ kämpfen und „den erschreckenden Entwicklungen in mehreren Ländern dieser Welt, nicht zuletzt in den USA“ entgegenwirken.

„Wissenschaftler stehen deutlich stärker als die Allgemeinbevölkerung für einen regulierenden, eingreifenden Staat.“

Fangen wir mit der „Anerkennung“ an. Das ist ein unbestimmtes Wort. In welcher Form soll unsere Arbeit von der Gesellschaft anerkannt werden? In Form einer unverbindlichen Sonntagsrede eines Politikers, der die Leistungen der Wissenschaftler lobt, oder in einer substanzielleren? Da muss eine kurze Erklärung her.

Die Zeiten, als sich wissenschaftliche Revolutionen (z.B. in der Pharmakologie) in privaten Unternehmen ereigneten, sind längst vorbei, und heute wird die überwiegende Mehrheit wissenschaftlicher Projekte vom Steuerzahler finanziert.  1 Eine klassisch-liberale Fiskalpolitik (niedrige Steuer, schlankes Etat und sparsame Ausgaben) lässt zwar Arbeitern, Unternehmern usw. im Schnitt mehr Netto vom Brutto in der Tasche, zwingt aber diejenigen, die vom Staatsetat leben, ihre Gürtel enger zu schalten. Und zu diesen gehören neben den Beamten, Sozialhilfeabhängigen, dem Militär usw. – auch die Forscher. Im Gegensatz zeigt eine staatszentrierte Fiskalpolitik (hohe Steuern, üppiges Etat und großzügige Ausgaben) gegenüber den modernen Gelehrten ein freundliches Antlitz. Eine Kombination von niedrigen Steuern, schlankem Etat und hohen Ausgaben gibt es leider nur im Traumland.

Diese Sachlage verleitet leider einige Wissenschaftler und insbesondere Wissenschaftsfunktionäre dazu, Sparsamkeit als „Wissenschaftsfeindlichkeit“ anzuprangern und Großzügigkeit (auf Kosten der Steuerzahler) als Respekt vor dem Wissen zu loben. In den USA ist diese Diskussion schon längst bekannt. Die großen Forschungsmonopole wie National Institute of Health und National Science Foundation versuchen immer wieder, die Anhänger einer stringenten Finanzpolitik der Wissenschaftsfeindlichkeit oder sogar Wissensfeindlichkeit zu beschuldigen. Diese Politiker antworten jedoch, dass es ihnen gar nicht um die Wissenschaft speziell, sondern insgesamt um den „schlanken Staat“ geht. Wir sind nicht gegen die Forschung, sagen die Politiker, sondern nur gegen die Gießkanne. Der Staat solle nicht, wie es einst die Fürsten gemacht haben, auf dem Marktplatz Gold in die Menschenmenge werfen, um populärer zu werden, sondern bei seinen Ausgaben vor allem Prioritäten setzen; auch in der Forschung.

Dabei stehen Wissenschaftler deutlich stärker als die Allgemeinbevölkerung für einen regulierenden, eingreifenden Staat. Auch hier zeigen sich paradigmatische Balanceverschiebungen v.a. in den USA. Das Verhältnis von demokratischen zu republikanischen Wählern unter den Wissenschaftlern stieg von Mitte des 20. bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts von ca. 2:1 auf 9:1. Republikanische politische Ansichten werden an den Universitäten im besten Fall verpönt, im schlechteren pathologisiert. Die Konservativen werden von den universitären Eliten nicht als politische Gegner, sondern als sozial und geistig unterentwickelte Personen angesehen. Politisch rechtes Denken, so die verbreitete Meinung an vielen sozialwissenschaftlichen Fakultäten, sei keine falsche politische Alternative, gegen die diskutiert werden soll, sondern eine ansteckende Krankheit, die es auszugrenzen gilt. In besonders schweren Fällen sollten solche „Denkunfähigen“ aus den Universitäten entfernt werden. Immer mehr amerikanische Wissenschaftler, die politisch rechts stehen, berichten, dass sie ihre Ansichten verbergen müssen, um ihre Stellen und ihre Karrieren nicht zu gefährden.

Investition gleich Innovation?

Wenn wissenschaftliche Institutionen gegen die möglichen Etatkürzungen auftreten, gehen sie davon aus, dass sich jede Investition in die Forschung selbstverständlich auf lange Sicht lohnt. Die Gründe für diese Annahme sind allerdings nicht nachvollziehbar. Seit ca. 1970 wachsen die Investitionen in die Forschung exponentiell, und der wissenschaftliche Fortschritt ist in diesen Jahren beträchtlich, aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass er sich im Vergleich mit vorangegangen Epochen (z.B. 1870 bis 1920 oder 1920 bis 1970) beschleunigte. Die fragwürdige Annahme verwechselt auf die unwissenschaftlichste Art und Weise so viele Äpfel und Birnen, dass die daraus resultierende Marmelade ekelhaft schmeckt. Zum einen stimmt es natürlich, dass Wissenschaft eine tolle Zivilisationsleistung ist, und ich glaube, dass auch der amerikanische Präsident, dessen Name übrigens zum „Marschieren“ fast so gut passt wie Beaumarchais (vgl. engl. to tramp), daran nicht zweifelt.

„Wer behauptet, jede Investition in die Wissenschaft führe automatisch zum Fortschritt, sollte zuerst erklären, was er unter Wissenschaft versteht.“

Aber aus dieser Prämisse folgt gar nicht der Schluss, dass man immer mehr Geld in dieses Unternehmen reinpumpen soll. Auch Kunst ist eine wunderschöne Erfindung des menschlichen Geistes; wie würden wir aber lachen, wenn uns ein Vorsitzender eines Künstlervereins weismachte, dass der künstlerische Wert direkt von der Höhe des Honorars abhänge, und dass wir im Nu neue Giocondas und Zauberflöten bekämen, wenn wir nur genug Milliarden in Malerei und Musik investierten. In der Wissenschaftspolitik sind ähnliche Argumente kein Witz.

Zum anderen ist die Verallgemeinerung von einer bestimmten Grundlagenwissenschaft auf alle Forschungsgebiete überhaupt fragwürdig. Weist man nach, dass z.B. in der Physik wachsende Investitionen tatsächlich zu raschem Wissenszuwachs führen, so darf man diesen Schluss nicht ohne weiteres auf Genderforschung oder Friedensforschung übertragen. Noch 1972 hat der britische Soziologe Stanislav Andresky darauf hingewiesen, dass die Gesellschaftsforschung viel zu oft mit bloßen Wissenschaftsformen jongliert (verwirrende, aufgeblasene Sprache voller lateinischer und griechischer Wörter; mathematikähnliche Formeln, hinter denen keine klaren Begriffe stehen), ohne einem strengen, aus den Naturwissenschaften gewohntem Denken zu folgen.  2 Seit dem Erscheinen seines Buches hat seine Kritik leider nicht an Aktualität verloren, was an einem einfachen Beispiel veranschaulicht werden kann. Jedes Handy, mit dem wir telefonieren, jedes Auto, in dem wir fahren, sind überzeugende Beweise, dass jeden Tag Hunderte höchstkomplizierter technischer Probleme mit Hilfe der Naturwissenschaften erfolgreich gelöst werden – und jetzt nennen Sie bitte zum Vergleich ein schwieriges soziales Problem, das in den letzten Jahrzehnten mit Hilfe der Sozialwissenschaften gelöst worden ist. Dabei hilft das Gegenargument nicht, dass Sozialforscher zur Lösung sozialer Probleme nicht verpflichtet werden können. Das stimmt zwar vollkommen, aber genauso wurden Newton, Einstein und Niels Bohr keineswegs zur Lösung technischer Probleme verpflichtet – und dennoch werden diese Probleme aufgrund ihrer theoretischen Beiträge gelöst! Am Ende wird ein Baum an seinen Früchten erkannt.

Wer behauptet, jede Investition in die Wissenschaft führe automatisch zum Fortschritt, sollte zuerst erklären, was er unter „Wissenschaft“ versteht. Kriterien der Wissenschaftlichkeit sind ein schwieriges erkenntnistheoretisches Thema, das weit über diese Diskussion hinausgeht, aber es gibt zumindest eine Definition der Wissenschaft, die mit Sicherheit falsch ist: Die Wissenschaft sei alles, was an Universitäten und sonstigen Forschungseinrichtungen betrieben wird. Das ist etwa, als wenn man sagen würde, die Lehre Jesu Christi sei alles, was in christlichen Kirchen betrieben wird, von der Inquisition bis zum Kindesmissbrauch. Wissenschaft ist nicht unbedingt überall drin, wo das Wort „Wissenschaft“ draufsteht.

Replikationskrise, Fälschungen, triviale Hypothesen

Insbesondere seit 2000 häufen sich die Anzeichen einer tiefen Krise, die zwar in verschiedenen Fächern und verschiedenen Regionen der Welt unterschiedlich stark ausgeprägt ist, doch mittlerweile fast den gesamten globalen Wissenschaftsbetrieb erfasst hat. Das bekannteste Symptom dieser Krankheit ist die sogenannte Replikationskrise. Ein Forschungsbefund ist erst dann ein wissenschaftlicher Fakt, wenn er von mehreren Forschergruppen unabhängig voneinander wiederholt (repliziert) wurde. In anderen Worten ist es nicht das erste Mal, dass ein neues Phänomen beobachtet wird, das für unser Wissen entscheidend ist, sondern das zweite Mal. Das, was nur ein Forschungskollektiv einmal gesehen hat, ist genauso nichtexistent, wie das, was niemand je gesehen hat; das zweite Mal ist notwendig, das dritte erwünscht.

„Die Häufigkeit der absichtlichen Fälschungen nimmt also zu, und zwar umso steiler, je ansehnlicher der Ruf einer Fachzeitschrift.“

Die Erhebungen der 2010er-Jahre zeigen, dass v.a. in der Biologie, Psychologie, Krebsforschung und Pharmakologie die Replikationsrate deutlich unter 40 Prozent liegt. Der amerikanische Statistiker John Ioannidis wählte 49 klinische Studien aus, deren Ergebnisse am häufigsten zitiert wurden, und fand heraus, dass 55 Prozent dieser Ergebnisse nicht repliziert worden sind. Noch schlimmer, Replikationen werden zunehmend als „Forschung zweiten Ranges“ angesehen. Von 1151 psychologischen Fachzeitschriften laden nur 33 (3 Prozent) ausdrücklich die Autoren ein, Replikationsberichte einzureichen. Im Gegenteil sagen die Homepages von 391 Zeitschriften (34 Prozent) entweder explizit oder implizit („we publish only original studies“), dass Replikationen unerwünscht sind.

Der Replikationsmangel ist nicht das einzige Symptom der Krise. Während im 20. Jahrhundert, soweit vorhandene Daten das beurteilen lassen, die Häufigkeit des Rückzugs einer Publikation stabil auf dem Niveau von 1 pro 100.000 hielt, wuchs sie seit 2000 rapide und erreichte 2011 schon 1 pro 5000 (Zunahme um das Zwanzigfache in nur 11 Jahren).  3 Obwohl der Grund für den Rückzug häufig ein Zufallsfehler ist, konnte z.B. in der Medizin eine absichtliche Datenfälschung in 26 Prozent der zurückgezogenen Manuskripte festgestellt werden, ein wörtliches Plagiat in 14 Prozent und weitere vorsätzliche Verstöße gegen die elementare wissenschaftliche Ethik in 10 Prozent. Die Häufigkeit der absichtlichen Fälschungen nimmt also zu, und zwar umso steiler, je ansehnlicher (!) der Ruf der entsprechenden Fachzeitschrift. Spezielle Analysen haben gezeigt, dass das letzte Phänomen nur zum Teil durch die höhere Sichtbarkeit höherrangiger Zeitschriften erklärt werden kann. Fälschungen werden tatsächlich gerade bei diesen Zeitschriften öfter eingereicht, wahrscheinlich weil sie einen bedeutenderen Beitrag zur individuellen wissenschaftlichen Karriere leisten können.

Absichtliche Datenfälschung oder Plagiat sind dennoch extreme und seltene Fälle. Ein anderes Phänomen verbreitet sich dagegen schon fast wie eine Pestepidemie: Das Verschwinden negativer Ergebnisberichte: Immer, wenn Forscher eine Hypothese überprüfen, bestätigen sie diese. Noch vor 20–30 Jahren sagten 25–30 Prozent der wissenschaftlichen Berichte, dass die Studienhypothese zurückgewiesen oder mindestens nicht bestätigt wurde. Heute findet man solche negativen Resultate in 5–10 Prozent der Publikationen, in einigen Fächern liegt die Quote sogar unter 3 Prozent, Tendenz fallend. Das kann entweder bedeuten, dass die Wissenschaftler nur triviale Hypothesen überprüfen, an deren Richtigkeit sowieso kein Zweifel besteht, oder dass die negativen Ergebnisse in der Schublade bleiben. Aus der ersten Option folgt, dass eine solche sich immer bestätigende Forschung keine neuen Erkenntnisse bringt, aus der zweiten, dass das real existierende System der wissenschaftlichen Publikationen die Öffentlichkeit belügt.

„Wiederholung ist das mächtigste Mittel, aus dem Zufall das gewünschte Ergebnis zu bekommen.“

Offensichtlich findet beides statt. Einerseits werden immer häufiger wissenschaftliche Projekte beantragt, deren Ergebnisse bereits feststehen. Andererseits nimmt die Tendenz zu, dass negative und sonstige unerwünschte Befunde entweder gar nicht zur Publikation eingereicht oder eingereicht, aber abgelehnt werden. Ein sehr verbreitetes Phänomen ist eine starke negative Korrelation zwischen der Ausprägung eines gefundenen Effekts und der Stichprobengröße (d.h. je mehr Objekte oder Personen untersucht werden, desto schwächer der Effekt). In ähnlicher Weise nimmt die Ausprägung eines gefundenen Effekts mit dem Publikationsjahr systematisch ab (sog. „Verfallstendenz“): Die erste Publikation zeigt immer einen starken Effekt, die zweite einen schwächeren usw., bis manchmal vom ursprünglich sensationellen Effekt gar nichts übrig bleibt. Interessant, wenn auch nicht unerwartet, ist die Tatsache, dass diese negativen Tendenzen in den Sozial- und Geisteswissenschaften stärker ausfallen als in der Biologie, und in der letzteren stärker als in der Physik.

Vor kurzem habe ich alle 61 Artikel analysiert, die in einem engen Bereich der klinischen Neurowissenschaft publiziert worden sind. Drei davon (5 Prozent) sind wirklich gut, weitere 18 (31 Prozent) ebenfalls akzeptabel, wenn auch in einzelnen Punkten angreifbar. Alle anderen Publikationen sind nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind. Der häufigste Grund dafür ist schlicht die bei Weitem unzureichende Anzahl von Patienten, die zur Untersuchung herangezogen worden sind, so dass aufgrund der Ergebnisse keine Aussage gemacht werden kann. Da die notwendige Patientenzahl schon im Voraus (zumindest grob) eingeschätzt werden kann und soll, sollte die Nutzlosigkeit solcher Studien eigentlich von vornherein klar sein. Deshalb sind solche kleinen Studien ein wahres Millionengrab, wird hier doch eine Arbeit durchgeführt, von der man, noch bevor man loslegt, mit Sicherheit weiß, dass sie nichts bringt.

Wenn direkte Fälschungen immer noch selten sind, warum ist die gegenwärtige Wissenschaft voll von falschpositiven Befunden, die nicht repliziert werden können? Nehmen wir ein Beispiel. Werfen Sie eine richtige Münze 5 Mal. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Münze bei allen 5 Würfen auf den Kopf fällt, ist nur minimal höher als 3 Prozent, also sehr klein. Wiederholen Sie jetzt diese Serie von 5 Würfen 10 Mal. Die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens einmal alle 5 Würfe – per Zufall – mit 5 Köpfen enden, ist auf ca. 28 Prozent gewachsen, und das ist nicht mehr sehr gering. Wiederholung ist das mächtigste Mittel, aus dem Zufall das erwünschte Ergebnis zu bekommen. Dass die Politik das macht, ist selbstverständlich. Endet z.B. ein Referendum mit einem klaren „Nein“, so wird es so oft wiederholt, bis einmal (per Zufall) das ersehnte „Ja“ ausfällt, und dieses Ergebnis lässt man gelten. Das gleiche wird zunehmend in wissenschaftlichen Studien praktiziert – Versuche werden wiederholt, zusätzliche Variablen werden gemessen (aber nicht berichtet) – und jeder dieser Eingriffe erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Studienhypothese per Zufall bestätigt wird. In der überwiegenden Mehrheit von Fällen bleiben diese Eingriffe unbewusst. Wenn man davon überzeugt ist, dass Leukämiewerte in der Umgebung von KKW erhöht sein müssen, so findet man immer methodische Mängel in den 19 von 20 Studien, die keine Erhöhung dieser Werte gezeigt haben, und glaubt nur an die eine Studie, die die Hypothese bestätigt hat, und nur deren Ergebnisse gehen in die Publikation ein.

Kern der Wissenschaftskrise

Was sind also jene „katastrophalen Tendenzen“, gegen die zu protestieren wir zum Marsch aufgerufen wurden? Ist damit der rasche Anstieg von Datenfälschungen gemeint oder die Leugnung negativer Forschungsergebnisse oder die Proliferation von Methoden, mit denen wir Schwarz als Weiß uminterpretieren können, oder die wachsende Trivialisierung der Forschung, indem vor allem das untersucht wird, was ohnehin bekannt ist? Nein, die katastrophale Tendenz ist für uns die Gefahr, dass unser Budget gekürzt wird.

„Die Krise der Wissenschaft ist selbstgemacht.“

Besonders bitter an all diesen Erscheinungen ist die Tatsache, dass sie ausgerechnet zu der Zeit verstärkt auftreten, wo die Gesellschaft den klassischen wissenschaftlichen (rationalen) Ansatz mehr denn je braucht. Gerade jetzt, da es am meisten gilt, die globalen Probleme unserer Epoche mit wissenschaftlicher Strenge zu analysieren, arbeiten Wissenschaftler „erfolgreich“ daran, Wissenschaftlichkeit in den Augen des breiten Publikums zu diskreditieren. Unlautere Politiker können natürlich diese Situation für ihre Zwecke ausnutzen, aber erschaffen können sie die Situation nicht. Die Krise der Wissenschaft ist selbstgemacht, nicht von außen (z.B. von der Politik) eingeführt.

Es gibt hier keinen Raum, genaue Ursachen der Krise und konkrete Lösungsvorschläge zu deren Überwindung zu analysieren.  4 Vor einigen Jahren habe ich in dieser Zeitschrift darüber geschrieben, dass die westliche Wissenschaft ein Produkt der christlich-humanistischen Kultur ist, und dass sie, wenn sie diese Basis verlässt, auch ihre wichtigste Eigenschaft, nämlich die Orientierung auf Wahrheit, einbüßt und zum Spielball wirtschaftlicher und politischer Einflüsse verkommen kann.

Eine soziale Institution ist auf dem besten Weg, ihren Ruf zu ruinieren, wenn sie mit schönen Worten wie „Freiheit“ oder „Wahrheit“ auf die Straße zieht, während man allen Grund für die Vermutung hat, sie sei nichts als eine Interessengruppe wie jede andere auch, vergleichbar mit der Auto- oder der Tabaklobby. Statt gegen angebliche „Wissenschaftsfeinde“ zu demonstrieren, täten Wissenschaftler besser daran, wenn sie ihre Probleme anerkennen, ihre Integrität wiederherstellen, sich auf ihre klassischen humanistischen Werte und Grundsätze der „organisierten Skepsis“ (R. Merton) besinnen würden. Wie der amerikanische Wissenschaftshistoriker und Kolumnist der Zeitschrift Nature Daniel Sarewitz 2014 schrieb, genießen Wissenschaftler immer noch ein viel höheres Ansehen als Politiker. Indem aber erstere sich immer stärker parteipolitisch engagieren, heben sie nicht das Ansehen der Politiker auf ihr eigenes Niveau, sondern laufen Gefahr, auf das Niveau der Politiker zu sinken.

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