28.06.2013

Humankapital statt Bildung

Kommentar von Patrick Jütte

Der Bologna-Prozess will Bildung ökonomisieren und delegitimiert damit die humanistische Vorstellung von der Erkenntnis als Selbstzweck. Der gesellschaftliche Verzicht auf die eher praxisfernen Disziplinen würde jedoch zu einer geistigen Verarmung führen.

In Zeiten der Effizienz gerät manch ein Student der Geisteswissenschaften in Verlegenheit, wenn er sein Interesse an der Sprache, an Geschichte oder Kunst vor dem Tribunal der Nützlichkeit rechtfertigen soll. Es scheint, als könne er für sich nicht beanspruchen, eine sinnvolle Funktion innerhalb der Gesellschaft einzunehmen. Ohne klare Verortung in der Arbeitswelt steht er gänzlich außerhalb des produktiven Austauschs. Diesem Eindruck, dass er sich auf den Leistungen der Mehrheit ausruhe, kann er nur begegnen, indem er die Bereitschaft zeigt, sich den ökonomischen Kreisläufen in gleicher Weise einzufügen. Bildung stellt sich dann auch ihm nicht mehr als ein erstrebenswertes Ziel dar, vielmehr gewinnt sie den Charakter einer Investition von Zeit und Aufwand zur Erreichung einer möglichst vorteilhaften Beschäftigung. Darin besteht dem Anschein nach die Rendite des Geistes.

„Die geistige Emanzipation hat ihren Ort eben auch an der Universität, ja sie macht geradezu deren Identität aus.“

Die heutige Evidenz solchen Denkens muss sich gewiss gegen eine Tradition behaupten, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts unser Bildungsideal prägte. Aufklärer wie Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schleiermacher hatten damals noch die Unabhängigkeit der Wissenschaften verteidigt. In freier Entfaltung sollte sich eine „geisterfüllte Geselligkeit“ [1] bilden, an der Professoren wie Studenten in selbstzweckhaftem Streben nach der Wahrheit gleichberechtigt teilhätten. Dieser innere Freiraum der Universität sollte durch die finanzielle Autonomie nach Außen gewährt werden, zum Beispiel durch Landbesitz. Schließlich wollte man den Arbeitsmarkt nicht nur mit gleichgeschalteten Fachkräften bedienen. Vielmehr legte Schleiermacher Wert auf die individuelle Entwicklung des kritikfähigen Subjekts. Bildung war in erster Linie Persönlichkeitsbildung.

Natürlich wirkt eine solche Studiengestaltung angesichts unserer anonymen Massenuniversitäten eher nostalgisch als pragmatisch. Dass sich jeder Zweite einer Generation im Elfenbeinturm einschließt, ist weder denkbar noch gewollt. Und man darf annehmen, dass auch preußische Staatsuniversitäten hinsichtlich ihrer Ausbildungsziele nicht völlig interesselos ausgerichtet waren. Doch berechtigen hohe Studierendenzahlen und Finanzknappheit dazu, dem Humboldt’schen Bildungsverständnis gänzlich die Aktualität abzusprechen? Ist die derzeitige Vorstellung vom Studium als einer vorgegebenen Anhäufung abgeschlossener Wissenshappen eine sinnvolle Konsequenz aus dem Verlangen nach Arbeitsmarktintegration, insbesondere bei den Geisteswissenschaften?

Das eine Maß aller Dinge

Spätestens seit Bologna ist diese Verschiebung der Maximen jedenfalls festgeschrieben. Die Kultusministerkonferenz (KMK) verkündete unzweideutig die Berufsqualifikation zur Primärfunktion des Regelstudiums. [2] Alle wesentlichen Reformschritte durch die Bachelor- und Masterstruktur leiten sich aus diesem neuen Ausbildungsideal ab.

Durch sie wird das fortschreitend ökonomische Selbstverständnis des Studenten, das zu seiner Existenzberechtigung unerlässlich scheint, weiter gefördert. Er nimmt die Rolle des unternehmerischen Lehrlings ein, der zur Bereicherung seines Humankapitals in die Lehrprodukte der Dozenten investiert, die sich entsprechend der höchsten Nachfrage auszurichten haben. Jenen Randbereichen, in denen intellektuelle Dienstleistungen weniger konsumiert werden, ist offenbar kein Mehrwert zu entnehmen. Es geraten darum vor allem spezifizierte Geisteswissenschaften, die sich in dieses Konzept nicht einfügen lassen, die von einer leidenschaftlichen Bildungsgemeinschaft abhängen, auf die rote Liste der aussterbenden Fächer: Arabistik, Medizingeschichte, Logik und Wissenschaftstheorie. Auch Klassische Archäologie ist rückläufig. Muss eine solche Verkümmerung des kulturellen Horizonts nicht in die hochschulpolitische Bilanz mit einberechnet werden?

An die ökonomische Zange schließt sich zudem eine technokratische an. Um nämlich die studentische Ausbildung zuverlässig standardisieren zu können, muss die Erforschung neuer Wege auf die hierarchisch distanzierten Dozenten beschränkt bleiben. Das Arsenal an Leistungen und technischen Fähigkeiten soll bei jedem Absolventen in gleicher Weise abgesteckt sein. Zum Zwecke dieser Vereinheitlichung wird das Studium in schrittweise Ausbildungsentitäten modularisiert, die in sich abgeschlossen und inhaltlich abgestimmt sind auf das „Eintrainieren eines instrumentell abrufbaren arbeitsmarktrelevanten ‚Wissens‘.“ [3] Das mag noch bei methodisch reglementierten und faktenbasierten Fächern funktionieren. Die meisten Geisteswissenschaften aber leben gerade davon, dass man sie ständig umfassend vertieft und dabei auch Abwegiges nicht scheut. Ohne Spontaneität kann sich kein offenes Denken etablieren. Ein solches lässt sich nicht „wissen“, man kann es sich nur tastend und experimentell aneignen. Und eben solche Kompetenzen sind es auch, nach denen ein Arbeitgeber verlangt: Kreativität, selbständige Problemlösung, substantielle Fachkenntnis. Was nützen uns Soziologen und Politologen, die zwar anhand eines theoretischen Inventars Daten auswerten können, aber zugleich jeden Einblick in die Wurzeln ihrer Variablen, der Konflikte und Kulturen vermissen lassen? Ganz zu schweigen von einer Kritik ihrer statistischen Methoden selbst.

Die rigiden Bestimmungen zur Studiengestaltung sorgen dafür, dass die Hochschulen ihre Studiengänge in ein enges Korsett schnüren müssen, wenn diese durch eine der deutschen Akkreditierungsagenturen anerkannt werden sollen. Deren Bestreben, „Qualität“ zu definieren und zu überprüfen, impliziert die Notwendigkeit, Bildung bürokratisch messbar zu machen. Als ein quantitatives Kriterium dient ihnen dafür der Zeitaufwand: „Nicht Wertschätzung bildet Wert [...], sondern nacktes Arbeitsvolumen.“ [4]

Und hier gilt es, keine Grauzonen zu belassen. Überließ man dem alten Studenten noch die Verantwortung dafür, sich durch den Besuch verschiedenster Vorlesungen und eine breite Autodidaktik selbst in sein Fach einzufinden, so begründet sich das neue Misstrauen in die Eigenverantwortung selbst, indem es vorsorglich und aus didaktischem Wohlwollen die Module mit Zwangsverläufen und einem umfangreichen studienbegleitenden Prüfungskatalog versieht. Die zeitliche Vereinnahmung durch solch penible Kontrollen vermag bei vielen Studenten jegliche Eigeninitiative zu ersticken und die Mentalität zu wecken, sich auf den vorgefertigten Bahnen treiben zu lassen. Man ist gewohnt, sich an den banalen Leistungskriterien isolierter Module abzuarbeiten und nicht mehr vermittelte Schlüsselkompetenzen durch obligatorische „Fachergänzungen“ zu kompensieren. Das freischaffende Milieu, das der universitäre Lehrbetrieb eigentlich sein sollte, findet sich als eine Art intellektueller Subkultur immer mehr an den Rand gedrängt. Dabei finden zum Beispiel Ethnologen, Kulturwissenschaftler und Philosophen gerade erst über breitenwirksame Vorträge und Kolloquien zu ihrer Aufgabe, das gesellschaftliche Selbstbewusstsein zu entwickeln, anzuregen und zu öffnen.

Universität oder Fachhochschule?

Helmut Schmidt sagte schon 1968, wir hätten viel zu viele Politologen. Die Verlegenheit des Geisteswissenschaftlers liegt eben darin begründet: Sich selbst rechtfertigen kann man vielleicht gerade noch, aber auch 73.000 Studierende der Germanistik? Man könnte insofern dankbar auf den Bologna-Prozess blicken, der die allgemeine Tendenz, Legitimität durch Ökonomisierung zu bewahren, nun auch offiziell institutionalisiert hat. Die Universität soll nun den Charakter einer Fachhochschule annehmen. Diese praktisch ausgerichteten Ausbildungsstätten sind auch durchaus geeignet zur Berufsqualifikation, solange es sich um technischere Fächer handelt, wie BWL, Ingenieurswesen oder Informatik. Doch hinsichtlich der Kunstgeschichte führt eine solche Methode sicher nicht zum gewünschten Ergebnis.

Der Sinn der Universität hat eben darin bestanden, auch solcherlei Forschung den nötigen Freiraum zu bieten. Die Vorstellung der Geisteswissenschaften als Selbstzweck ist ein Ideal, das wir dem Bildungsverständnis der Aufklärung entnehmen und auch heute festhalten können. Deshalb sollte man sich aber nicht in eine Abwehrhaltung gegenüber Nützlichkeitserwägungen versteifen. Wie oben bereits angedeutet, wohnt der vernünftigen Auseinandersetzung mit unserem Kulturgut immer auch ein gewisser Pragmatismus inne. Eine Dienstleistungsgesellschaft verlangt in vielfältigen Bereichen nach eben jener Souveränität und fachlichen Authentizität, die durch glatte Studienverläufe und oberflächliche Einblicke gerade beeinträchtigt werden. Es ist zudem unvorstellbar, welcher Verarmung und Stagnation unsere kulturelle Weiterentwicklung und unser intellektueller Fortschritt ausgesetzt sein würden, wenn wir auf die geistige Emanzipation der Gesellschaft keinen Wert mehr legen. Und diese Emanzipation hat ihren Ort eben auch an der Universität, ja sie macht geradezu deren Identität aus. Ihrer Bewahrung sollte sich nicht nur die Hochschulpolitik verschreiben: Sie wertzuschätzen, ist Sache des Menschen überhaupt.

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