06.09.2012

Die deforme Universität

Essay von Günter Ropohl

Eine Kritik an den Unireformen der letzten Jahre. Kleine Fächer werden abgewickelt. Ökonomische Denke breitet sich aus. Das Humboldt’sche Ideal von autonomer Bildung wird einem technokratischen Ansatz geopfert

Die Universität als Stätte wissenschaftlichen Forschens, Lehrens und Lernens gibt es in Europa seit 800 Jahren, und selbstverständlich hat sie durch die Jahrhunderte immer wieder Veränderungen erlebt. Eine Veränderung, die den Namen „Reform“ wirklich verdient, ist die Neuordnung gewesen, die durch Wilhelm von Humboldt 1810 zunächst der Berliner Universität gegeben wurde und die sich im 19. Jahrhundert als Erfolgsmodell der deutschen Wissenschaft erweisen sollte – ein Erfolgsmodell, das erst in den 1930er Jahren brüchig wurde, als politischer Terror die Universitäten vergewaltigte und viele der besten Köpfe in die Emigration trieb. Die Restauration nach dem Zweiten Weltkrieg hat noch einmal wenige Jahrzehnte an die frühere Blüte anknüpfen können, zumal ein Teil der Emigranten zurückkehrte. Dann aber setzte gegen Ende des 20. Jahrhunderts das ein, was entgegen aller beflissenen Reformrhetorik, ganz ohne Terror, die Deformation der deutschen Universität angerichtet hat.

Gewiss ist auch die Humboldt’sche Universität nicht jene idyllische Gelehrtenrepublik gewesen, die gelegentlich mit nostalgischen Sehnsüchten beschworen wird. Sie ist immer zuallererst ein Dienstleistungsbetrieb gewesen, den die Mehrzahl der Studenten [1] in Anspruch nahm, um Berechtigungsscheine für den Zugang zu den höheren Ämtern in den Kirchen, der Rechtspflege, der Medizin, dem Bildungswesen und der Verwaltung zu erwerben. Und viele Professoren waren auch eher mittelmässige Brotgelehrte, denen Status und Einfluss in ihrem beschränkten Wirkungskreis wichtiger waren als die uneigennützige Wahrheitssuche in „Einsamkeit und Freiheit“. Doch die Rahmenbedingungen machten auch anderes möglich: einerseits den Forscher, der sich bedingungslos seinen Erkenntnisbemühungen hingab und seine Schüler damit begeistern konnte, und andererseits den Studenten, der von wissenschaftlicher Neugier erfasst wurde und das Ethos der Wahrheitssuche höher stellte als den schnellen Erwerb einträglicher Ämter. Das ist der Nährboden gewesen für all die hervorragenden Persönlichkeiten, an denen die deutsche Wissenschaftsgeschichte so reich ist. [2]

Aber diese Zeiten sind vorbei. So genannte „Bildungs“-Politiker haben in den letzten zehn Jahren eben jene Rahmenbedingungen zerstört, denen die Universität früher ihre Spitzenleistungen in Forschung und Studium verdankte. Dabei wurden sie von opportunistischen Hochschulfunktionären unterstützt, besonders aus den Reihen des Wissenschaftsrates und der Hochschulrektorenkonferenz, aber auch von einem ominösen „Centrum für Hochschulentwicklung“, einer selbsternannten Beratungsagentur im Dunstkreis der Bertelsmann-Stiftung, der Mehrheitseigentümerin des gleichnamigen weltweiten Medienkonzerns. Das Gros der Professoren stand und steht der Deformation der Universitäten natürlich ablehnend gegenüber, und zahlreiche Kollegen haben begründete Argumente ins Feld geführt. [3] Warum sich gleichwohl die Professorenmehrheit von jener Minderheit der Funktionäre hat überrollen lassen, gehört zu den Mirakeln der jüngsten Universitätsgeschichte und bedarf wohl noch der kritischen Aufklärung.

Die Anlässe für den „Reform“-Eifer sind höchst banal: Einerseits ist das Interesse an akademischen Studienabschlüssen, vor allem der erwarteten beruflichen und gesellschaftlichen Erträge wegen, gewaltig gestiegen, und die Universität muss sehr viel mehr Studenten betreuen als in früheren Jahrzehnten (von denen selbstredend nur ein viel geringerer Anteil für den wissenschaftlichen Nachwuchs in Frage kommt). Andererseits aber ist die Politik nicht bereit – und vielleicht auch in einer im Grunde bildungsfernen Gesellschaft gar nicht in der Lage –, den entsprechend gestiegenen Finanzbedarf auch nur annähernd zu decken. In den letzten 35 Jahren hat sich die Zahl der Studenten mehr als verdoppelt und betrug 2010 rund 2,2 Millionen. [4] Die Grundmittel für die Hochschulen sind aber keineswegs in gleichem Ausmaß gestiegen. Vorsichtig gerechnet, entfallen auf einen Studienplatz heute kaufkraftbereinigt nur noch knapp drei Viertel der Mittel, die 1975 aufgewendet wurden. [5]

Mit Recht beklagen die Universitäten diese Unterfinanzierung, doch die Politik hat alles versucht, um mit Pseudoreformen davon abzulenken. Vor allem wird die Universität an die Kandare des Effizienzprinzips genommen, das man von der Wirtschaft unpassenderweise auf die Wissenschaft zu übertragen sucht. So ist die früher selbstverwaltete Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden in einen dirigistischen Betrieb umgemodelt worden. Das Regulierungsdogma, das sich überall in der Gesellschaft breit macht, ist auch den Universitäten nicht erspart geblieben: Reguliert wird das Studium, reguliert wird die akademische Verwaltung, und reguliert wird die Forschungsarbeit.

Alfabetini alla Bolognese

Ausgerechnet in jener italienischen Stadt, in der um 1200 die erste europäische Universität gegründet worden war, in Bologna, vereinbarten europäische Wissenschafts- und Bildungsminister 1999, das System akademischer Studien auf dem ganzen Kontinent zu vereinheitlichen. Wem die historische Heterogenität und die kulturelle Vielfalt der nationalen Bildungseinrichtungen bewusst ist, dem muss dieser bürokratische Uniformisierungsversuch als geradezu abenteuerliche kulturelle Vergewaltigung erscheinen. Vorsorglich erklärte man denn auch, man wolle nationale Besonderheiten gebührend respektieren, aber selbstverständlich hat niemand Einspruch erhoben, als Deutschland seine akademischen Traditionen aus freien Stücken über Bord warf.

Besonders deutlich zeigt sich das darin, dass die hier früher üblichen vier- bis fünfjährigen Studiengänge, die mit einem Diplom, einem Magister oder einem Staatsexamen abgeschlossen wurden, durch ein zweistufiges Modell ersetzt werden, das nach drei Jahren zum akademischen Grad des „Bachelor“ führt und nach weiteren zwei Jahren mit dem Grad des „Master“ abgeschlossen wird. Allein schon die Tatsache, dass nun an deutschen Universitäten englischsprachige – und meist auf Englisch ausgesprochene – Titel vergeben werden, ist Ärgernis genug. Wer das Englische als allgemeine Wissenschaftssprache durchsetzen will, verabschiedet sich schon dadurch vom emphatischen Begriff der Bildung: weil nämlich im Englischen gar kein angemessener Ausdruck dafür geläufig ist.

Ebenso ärgerlich aber ist der Hintergedanke deutscher „Bildungs“-Politiker, man könne das dreijährige „Bachelor“-Curriculum zum „berufsqualifizierenden“ Regelstudium machen und die große Menge der Studierenden vom wissenschaftlichen „Master“-Studium ausschliessen. Mit einem Schlag könnte man die Studentenzahlen um einige hunderttausend verringern und erhebliche Hochschulkosten einsparen. Übrigens war diese Einsparidee mit den damals sog. „Kurzstudiengängen“ in den 1980er Jahren schon einmal gescheitert, doch jetzt wird sie mit europäischer Rhetorik aufs Neue verfolgt. Die Mehrzahl der Studierenden freilich hält, damals wie heute, wenig davon, sondern will, nachdem der anfängliche „Kurzstudiengang“ obligatorisch geworden ist, auf jeden Fall auch den anschließenden „Master“ erwerben, um gleichwohl ein vollakademisches Studium zu absolvieren.

Wenn sie es denn nach der Ochsentour des „Bachelor“-Drills überhaupt noch können! Jeder Studiengang muss inzwischen in detaillierten Papieren, die leicht einige Dutzend Seiten erreichen, mit allen Fachinhalten („Module“) qualitativ minutiös beschrieben und quantitativ in seiner Arbeitsbelastung („Workload“ = Unterrichtszeit plus Vor- und Nachbereitung) präzise berechnet werden, derart, dass Studierende mindestens eine 40-Stunden-Woche zu absolvieren haben. Jedes „Modul“ ist mit einer Prüfung abzuschließen, damit dem Studenten die entsprechenden „Credit Points“, die standardisierten Studienerfolgsbescheinigungen, zugeteilt werden.

Die frühere Freiheit, zwischen verschiedenen Themen wählen oder gar in ein ganz anderes Fach hineinhören zu können, wird massiv beschnitten, nicht zuletzt durch den Zwang, Semester für Semester die vorgeschriebenen Prüfungen ablegen zu müssen. Zugegeben: Unselbständige Gemüter hatten im alten System gewisse Orientierungsschwierigkeiten und fühlten sich in manchen Fächern dadurch belastet, dass erst gegen Ende des Studiums die Abschlussprüfung zeigte, was sie denn in all den Jahren gelernt hatten. Aber für die Selbstständigeren war das eine hervorragende Chance, ihren eigenen Bildungsweg selbstbestimmt zu erkunden und zu erproben.

Doch die „Bologna“-Bürokratie kennt keine selbstbestimmten Bildungswege mehr. Studien sind auf das Niveau von ABC-Schützen abgesenkt worden. Man lädt standardisierte Wissenspakete auf den Studenten ab, ohne daran zu denken, wie diese aus der geballten Ladung eigene Bildungsstrukturen gestalten können. Man verwechselt abfragbares Wissen mit Sinnverständnis, das sich jeder selber schaffen muss, indem er Verknüpfungen zwischen den Wissenselementen herstellt und das Besondere als Teil des Allgemeinen erkennt. Jetzt aber haben alle das vorgegebene Schema zu durchlaufen, auf dass sie das hehre Ziel der „employability“ erreichen, der Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt (obwohl der „Arbeitsmarkt“, ähnlich wie die Studierenden, bislang nicht so recht weiß, was er mit solcher „lean qualification“ anfangen soll). Mit akademischer Bildung hat das nicht mehr viel zu tun.

Universität als organisierter Betrieb

Die ausgefeilteste Studienplanung wäre natürlich wenig wert, wenn man nicht kontrollieren würde, ob sie auch im Sinn der Bürokraten „implementiert“ wird. Dafür haben die Funktionäre eine neue Einrichtung erfunden: die Akkreditierungsagentur. Externe Gremien mit mehr oder weniger kompetenten Experten haben darüber zu befinden, ob ein Studienplan bestimmten Qualitätskriterien genügt oder nur unter entsprechenden Auflagen gebilligt werden kann. Die Hochschulen müssen jede Akkreditierungsprozedur mit tausenden von Euro aus ihren ohnehin knappen Mitteln bezahlen. Nach überkommener Auffassung jedoch sind allein die Hochschullehrer für die Entscheidung zuständig, welche Lehrinhalte dem wissenschaftlichen Bildungsziel angemessen sind, und sie berücksichtigen dabei, dass schieres Wissen nur die halbe Bildung ist. Soweit sich Akkreditierungsagenturen in diese Entscheidung einmischen, greifen sie in die Freiheit der Lehre ein und verletzen das entsprechende Grundrecht; diesbezügliche Klagen sind bereits angestrengt worden. Doch auch unabhängig von der verfassungsrechtlichen Beurteilung mutet es seltsam an, dass sich hier ein monströser Apparat der Fremdsteuerung außerhalb der Universität etabliert hat, dessen Sinn zunächst vor allem darin besteht, seinen Protagonisten fragwürdige Macht und neue Einkommenschancen zu bescheren.

Aber es ist dies nicht das einzige Beispiel dafür, dass Machteliten versuchen, die Freiheit der Wissenschaft mit dirigistischen Interventionen zu untergraben. Als besonders krass erweist sich die Entmachtung der akademischen Selbstverwaltung. Früher war es die Fakultät, die in den meisten Fragen von Forschung und Lehre selbständig entscheiden konnte und dabei, jedenfalls idealer Weise, lediglich einer begrenzten Rechtsaufsicht durch Universitätsleitung und Landesregierung unterlag. Die Fakultät wurde vom Dekan geleitet, der aus dem Kreis der Professoren als „primus inter pares“ für eine begrenzte Zeit gewählt wurde und die Fakultätsbelange im Senat, dem zentralen Beschlussgremium der Universität, vertrat.

Inzwischen jedoch tendiert man dazu, den Dekan zum disziplinarischen Vorgesetzten der Fakultät zu machen und ihm eine Amtsdauer von etlichen Jahren zuzumuten, länger auf jeden Fall, als ein engagierter Wissenschaftler seine eigenen Ambitionen in Forschung und Lehre hintanstellen mag. Mit anderen Worten: Für das Dekanat stellt sich nicht mehr der herausragende Wissenschaftler zur Verfügung, sondern der Apparatschik, der schwindende fachliche Kreativität durch Funktionärsgeschäftigkeit zu kompensieren sucht, zumal er nach der „Dienstrechtsreform“ dafür zusätzlich bezahlt wird. Für den Fall, dass dieses Verfahren der Negativauslese nicht von alleine funktioniert, haben in einigen Bundesländern die Satzungen bestimmt, dass der Dekan von der Fakultät lediglich vorgeschlagen werden darf und der Approbation durch die Universitätsleitung oder gar das zuständige Ministerium bedarf: der Dekan als Kapo der Wissenschaftspolitik – da rede noch jemand von „akademischer Selbstverwaltung“!

Auch der akademische Senat, früher wie gesagt das zentrale Beschlussgremium der Universität, wird marginalisiert. Zum einen wird seine Zusammensetzung dadurch manipuliert, dass zu seinen Mitgliedern nur noch solche Professoren als Dekane gewählt werden, die der Wissenschaftsbürokratie genehm sind. Zum anderen aber werden die Kompetenzen dieses Gremiums empfindlich beschnitten, indem die wirklich wichtigen Angelegenheiten in „zentrale Ausschüsse“ verlagert werden, wo die maßgebenden Funktionäre „unter sich“ sind und folgenreiche Beschlüsse fassen, die anschließend der Senat, wenn überhaupt, nur noch abnicken darf. Das stärkt natürlich die Stellung der Universitätsleitung, früher der Rektor, der aus dem Kreis der Professoren gewählt wurde, heute oft ein Präsident, der selbst nicht unbedingt Wissenschaftler sein muss und in einzelnen Bundesländern nach Wirtschaftsmanier bereits „Vorsitzender des Vorstandes“ heißt.

Schließlich wird die Professorenschaft auch dadurch entmachtet, dass ihr ein Hochschulrat vor die Nase gesetzt wird, eine Einrichtung, die „maßgebliche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“ vereint, um die Universität in grundlegenden Fragen der Wissenschaftsentwicklung zu beraten. Sieht man sich auf Listen an, wer jeweils dazu gehört, findet man mühelos die „üblichen Verdächtigen“ wieder, vom Bankpräsidenten über den Gewerkschaftssekretär bis zum Kirchenfunktionär. Zwar bleiben die konkreten Ratschläge dieser „Wissenschaftsexperten“ meist im Dunkeln, aber wenn diese Räte nichts zu sagen hätten, wären sie ja wegen erkennbarer Überflüssigkeit gar nicht erst eingerichtet worden. So hingegen bleibt die bange Frage, was solche „Persönlichkeiten“, die der Wissenschaft fremd sind, überhaupt zur Fortentwicklung von Forschung und Lehre beitragen können. Und es bleibt die ärgerliche Frage, ob nicht auch die Hochschulräte Instrumente sind, die Freiheit der Wissenschaft zu untergraben.

Die „kleinen Fächer“

Immerhin ist ein Fall bekannt geworden, wo ein weiser Hochschulrat empfohlen hat, die Geisteswissenschaften vollends abzuschaffen; sie trügen zum technisch-wirtschaftlichen Fortschritt ohnehin nichts bei. Die betreffende Universität ist diesem Ratschlag glücklicherweise nicht zur Gänze gefolgt, aber überall werden die sog. „kleinen Fächer“ ausgedünnt. Das sind Spezialgebiete, die jeweils nur wenige Hörer und höchstens drei Professuren aufweisen. Ein beträchtlicher Teil davon gehört zu den Philologien und den Regionalwissenschaften, aber manche widmen sich auch praktischeren Fragen, wie die Angewandte Kernphysik. Dem ökonomistischen Denken der herrschenden „Bildungs“politik erscheinen solche „Orchideenfächer“ schlichtweg überflüssig, weil ihrer Meinung nach die Nachfrage viel zu gering ist, als dass man damit die knappen Haushalte der Universitäten weiterhin belasten dürfte.

Nun erheben sich vereinzelt sogar in der Wirtschaft nachdenkliche Stimmen, dass interkulturelle Kompetenz in der globalisierten Konkurrenz durchaus vorteilhaft sein könnte, und plädieren dafür, auch weiterhin das Verständnis beispielsweise der arabischen, der chinesischen oder der slawischen Kultur zu pflegen. Weniger utilitaristische Beobachter machen geltend, dass Bildung, als Reflexion der eigenen Kultur, von der Begegnung mit anderen Kulturen ungemein profitieren kann. Mit einem Wort: Die Dezimierung der „kleinen Fächer“ wurde zum Problem, und wo Politiker auf ein Problem stoßen, setzen sie eine Kommission oder Arbeitsstelle ein.

Dies ist vor drei Jahren mit der „Potsdamer Arbeitsstelle Kleine Fächer“ geschehen, die mit einer umfassenden Bestandsaufnahme beauftragt wurde und von kritischen Beobachtern als „akademische Sterbebegleitung“ verstanden wird. [6] Inzwischen liegt ein vorläufiger Bericht vor, der aber die Schrumpfungsprozesse nur unvollständig dokumentiert. [7] Demnach hat seit 1997 der Bereich „Alte Sprachen und Kulturen“ (Gräzistik, Latinistik usw.) mit 37 Professuren fast 20 Prozent verloren. Der Slawistik [8] sind im gleichen Zeitraum mit 13 Professuren rund 14 Prozent abhanden gekommen. Auch historische Fächer mussten bluten: Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Medizingeschichte und Wissenschaftsgeschichte haben von früher 104 inzwischen 26 Professuren abschaffen müssen, besonders die eingangs schon erwähnte Wissenschaftsgeschichte, bei der ein Aderlass von 43 Prozent zu beklagen ist.

Aber unter den „kleinen Fächern“ gibt es nicht nur „Orchideenfächer“, sondern auch Arbeitsfelder, die wie gesagt für die moderne Lebenspraxis äußerst bedeutsam sind. So hat die Hauswirtschaftswissenschaft in zehn Jahren 11 von 20 Professuren, also mehr als die Hälfte, verloren. Ja Potz Teufel, ist denn der Ort, in dem alle Menschen ihre Existenz führen – die deutsche Statistik nennt für 2008 rund 40 Millionen Haushalte! [9] – für die Wissenschaft so uninteressant, dass sie ihn kaum noch eines Blickes würdigt? Da wagt man erst recht nicht mehr die Sexualwissenschaft zu erwähnen, die immer unter der „Körperlosigkeit“ der Akademia zu leiden hatte, aber heute, obwohl jener körperliche Ausdruck der Lebendigkeit mit all seinen Facetten ein breites Publikum findet, mit gerade noch 2 von vormals 4 Professuren ein bestürzendes Schattendasein führt.

Andere „kleine Fächer“, vor allem solche, die vorwiegend der Lehrerbildung dienen, hat die genannte Arbeitsstelle überhaupt nicht erfasst. Dazu gehört beispielsweise die Arbeits- und Techniklehre, die überall in Deutschland ausgedünnt und z.T. völlig abgeschafft worden ist. Arbeits- oder Techniklehre – die Bezeichnungen und Konzepte variieren von Bundesland zu Bundesland – war dazu bestimmt, angehenden Lehrern allgemeinbildender Schulen ein Grund- und Orientierungswissen über die Verflechtungszusammenhänge von Technik, Wirtschaft und Umwelt zu vermitteln, damit sie die Schüler in entsprechenden Schulfächern mit der materiellen Kultur der Gesellschaft vertraut machen können. [10] Allein in Hessen sind in diesem Fach fünf von sechs Professuren entfallen. [11] In Frankfurt am Main ist es vollends aufgehoben worden, und in Kassel versucht man gerade, die verbliebene Professur zum Spartarif neu zu besetzen. Wie dann eine Person all das übernehmen soll, was früher von sechs geleistet wurde, wissen Hochschulfunktionäre offenbar besser als ich – ganz zu schweigen davon, dass Lehramtskandidaten in Südhessen das Fach überhaupt nicht mehr studieren können.

Dieses Beispiel habe ich nicht darum erwähnt, weil ich persönlich davon betroffen bin, sondern weil es mit aller Dramatik die Schizophrenie der deutschen „Bildungs“-Politik dokumentiert. Allenthalben beklagt man, dass es den Heranwachsenden an technischer und wirtschaftlicher Bildung fehlt, und immerhin hat man, wenn auch mit halbem Herzen, Schulfächer dafür geschaffen; doch die „Bildungs“-Funktionäre weigern sich, eine angemessene Lehrerausbildung für diese Fächer zu finanzieren. Das sind exzellente Perspektiven für das „Humankapital“ am „Industriestandort“ Deutschland! Da braucht man tatsächlich ein gerüttelt Maß an „Verblödungstoleranz“. [12]

Taylorisierung der Wissensarbeit

Am Anfang des 20. Jahrhunderts hat der amerikanische Arbeitstechnologe Charles W. Taylor „Grundsätze der wissenschaftlichen Betriebsführung“ entwickelt, die nach seiner eigenen Absicht nicht nur die Lohngerechtigkeit verbessern, sondern auch – manche Beobachter sagen: vor allem! – die Leistungszurückhaltung der Arbeiter, vulgo: ihre Faulheit, bekämpfen sollten. Diese Grundsätze umfassen vorbestimmte und kontrollierte Ausführungszeiten für jeden minutiös geplanten Teilarbeitsgang, den auf dieser Basis berechneten Leistungslohn („Akkord“) sowie die Trennung von Planung und Ausführung. [13] Die Zwiespältigkeit dieses Ansatzes war seit langem bekannt, und im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts begann die Arbeitswissenschaft, ihn mit anderen Organisationsformen zu überwinden.

Just zu dieser Zeit verfielen Hochschulpolitiker auf die Idee, nach Art der Taylor’schen Grundsätze nun die Wissensarbeit zu reglementieren. Den Auftakt machte eine beispiellose Verleumdungskampagne gegen die Hochschullehrer, denen pauschal Pflichtvergessenheit und Faulheit vorgeworfen wurde. Einzelne unschöne Ausnahmen, die man natürlich nicht verschweigen darf, wurden (gedankenlos oder böswillig?) verallgemeinert, und man folgerte, der Arbeitseinsatz der Hochschullehrer könne nur mit einer Art Leistungslohn im Sinne Taylors gesichert werden. Mit einem Federstrich verkündete Anfang des neuen Jahrtausends die damals zuständige Ministerin eine „Dienstrechtsreform“ und kürzte die Gehälter der Hochschullehrer um ein glattes Viertel. [14] Selten hat man so eindeutig erleben müssen, wie das Wort „Reform“ dafür missbraucht wird, die Lage der Betroffenen zu verschlechtern. Leistungszuschläge, die das vorher übliche Gehaltsniveau kaum erreichen, dürfen sich die Professoren nur dann erhoffen, wenn sie in einem mehr oder weniger undurchsichtigen Beurteilungsverfahren („Evaluation“) den Beweis erbringen, dass sie tatsächlich das leisten, was für die meisten ohnehin immer schon selbstverständlich gewesen ist. [15]

Einsichtige Menschen haben immer gewusst, dass wissenschaftliche Qualität nicht mit simplen Messzahlen quantifiziert werden kann, doch genau das ist in der „Dienstrechtsreform“ zum Programm erhoben worden. Nur wer mit der Anzahl seiner Veröffentlichungen, der Menge internationaler Arbeitskontakte, der Höhe der eingeworbenen „Drittmittel“ und der Anzahl betreuter Doktorarbeiten glänzen kann, darf u.U. mit einem zusätzlichen Leistungslohn rechnen. In früheren Jahrzehnten war das persönliche Einkommen – zwar nicht üppig, aber zufriedenstellend –, für alle Hochschullehrer eindeutig festgelegt und klar kalkulierbar. Sieht man von einzelnen besonders verwertungsfähigen Fächern ab, wo teilweise höchst lukrative Nebeneinnahmen zu erzielen waren, konnte man sonst die Einkünfte als Konstante betrachten, der man keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken brauchte.

Nun aber entbrennt an den Universitäten der Tanz um das goldene Kalb. So wird das kollegiale Klima, das wegen fachlicher Einseitigkeiten und Eitelkeiten auch schon früher nicht immer das beste war, zusätzlich durch den Konkurrenzkampf um persönliche Einkommensvorteile vergiftet. Jeder möchte sich seinen Anteil an den Leistungsprämien sichern, und fast jeder weiß auch, wie er die relevanten Kriterien zu seinen Gunsten manipulieren kann: Man publiziert doppelt und dreifach, man inszeniert weltweite Scheinkooperationen, man schart so viele Doktoranden um sich, dass man die einzelnen kaum noch angemessen betreuen kann, und man konzipiert Forschungsprojekte zu überraschungsarmen und modischen Themen, die größte Aussichten auf die Bewilligung von „Drittmitteln“ versprechen.

Diese „Drittmittel“ sind überhaupt ein Einfallstor der Fremdsteuerung. [16] Es handelt sich um Forschungsgelder, die nicht der Forscher selbst (wie könnte er das auch?) und nicht der Staat aufbringen, sondern die „Dritte“ – gemeinhin öffentliche Förderorganisationen – auf Antrag bereitstellen, gelegentlich aber auch interessierte Verbände oder Unternehmen. Im Allgemeinen werden die Anträge, die nach Möglichkeit schon im Voraus versprechen sollen, was man eigentlich erst am Ende des Projektes wissen kann, von Fachkollegen begutachtet, sodass sie meist nur Erfolg haben, wenn sie der herrschenden Meinung entgegenkommen; kritische Ansätze und kühne Ideen haben da keine großen Chancen.

Da aber die erfolgreiche Einwerbung solcher Forschungsgelder nicht nur die Einkommenschancen erhöht, sondern inzwischen schon als Voraussetzung dafür gilt, überhaupt eine Professur zu erhalten, verkommt die früher freie und selbstbestimmte Forschung mehr und mehr zur Projektbearbeitungsfabrik. Mehren sich die Projekte, kann der Leiter unmöglich noch alles selbst durchdenken; das überlässt er den Mitarbeitern. So greift denn auch jenes andere Taylor’sche Prinzip, die Trennung von Planung und Ausführung: Der eine leitet eine Forschungsarbeit, die er im Einzelnen nicht versteht, und der andere führt aus, was ihm aufgetragen wurde, ohne unbedingt persönlich dafür motiviert zu sein. Und kaum findet noch jemand Zeit und Ruhe, die stückchenweise erzeugten Wissenshäppchen zu einem theoretisch begründeten Gesamtbild zusammenzufügen.

„Small is beautiful“, hatte einst ein romantischer Wirtschaftskritiker propagiert, [17] doch in der Forschung gilt längst das Gegenteil. „Groß, größer, exzellent“ heißt inzwischen die Devise, und allüberall etablieren sich Forschungsverbünde, um als „Exzellenzcluster“ der Hochschule den Ehrentitel der „Eliteuniversität“ zu verschaffen, der vor allem ein paar Millionen zusätzlicher Fördergelder wert ist. Bei manchen Vorhaben in den Natur- und Technikwissenschaften mag die Bündelung personeller Kapazitäten vielleicht sinnvoll sein. Ob das auch für die inzwischen gegründeten „Zentren“ für geistes- und sozialwissenschaftliche Probleme zutrifft (in denen dann auch das eine oder andere „kleine Fach“ seine Zuflucht finden soll), steht auf einem anderen Blatt. Der Aufwand für thematische und organisatorische Abstimmung ist gewaltig und artet nicht selten in bürokratischen Leerlauf aus. In Wirklichkeit denkt doch jeder allein. Ob, wann und wie die vielbeschworenen „Synergieeffekte“ tatsächlich eintreten, ist bei der Wissensarbeit eine völlig offene Frage. Aber die „Einsamkeit und Freiheit“ des kreativen Gelehrten gilt längst als Auslaufmodell.

Wettbewerb statt Bildung?

All diese Reglementierungen und Deformationen werden von ihren Verfechtern damit gerechtfertigt, dass sich auch die Universitäten dem Wettbewerb stellen müssten, der in der Wirtschaft als Motor des Fortschritts so hervorragend funktioniere. Dabei übersehen solche Wirtschaftsideologen, dass „Wettbewerb“ ein höchst schillerndes Konzept ist. Einerseits gibt es den sozialen Wettbewerb als Tendenz der Menschen, sich gegenüber anderen auf irgendeine Weise in der einen oder anderen Hinsicht hervorzutun und dadurch Ansehen zu erlangen. Andererseits gibt es den spezifisch ökonomischen Wettbewerb der Anbieter, eine möglichst große Nachfrage nach ihren Produkten zu schaffen und dadurch ihre Geldgewinne zu steigern. Der ökonomische Wettbewerb aber ist lediglich ein Sonderfall, der allein wegen der gesellschaftlichen Dominanz der Wirtschaft besondere Aufmerksamkeit gewonnen hat. Damit ist es keinesfalls zu rechtfertigen, dass er zum alles beherrschenden Grundsatz einer kommerzialisierten Universität erhoben wird. [18]

In einem „kleinen Fach“ wie der Wissenschaftsgeschichte beispielsweise empfindet sich ein Hochschullehrer durchaus als Wettbewerber unter seinen in Deutschland noch verbliebenen 15 Kollegen. Selbstverständlich ist es ihm darum zu tun, bemerkenswerte Forschungsergebnisse zu veröffentlichen, die von den anderen beachtet werden. Auch bemüht er sich im Wettbewerb an seiner eigenen Universität, seine Lehrveranstaltungen attraktiv zu gestalten, damit seine 20 Hörer nicht in ein anderes Fach abwandern. Aber die Bedeutung seiner Forschung macht er zu Recht nicht von der Zahl der Studenten abhängig. Anders dagegen die Deformatoren: Weil sein Hörsaal nicht so überfüllt ist wie nebenan die „Einführung in die Betriebswirtschaftslehre“, verweigern sie ihm die Zulage zu den persönlichen Bezügen, und er kann damit rechnen, dass sein Lehrstuhl bei nächster sich bietender Gelegenheit vollends „abgewickelt“ wird. Wettbewerbserfolg, so sagen die Funktionäre, zeigt sich allein in der Quantität der Nachfrage, und was nicht nachgefragt wird, so folgern sie, ist nichts wert.

Bildung aber, im Beispielfall die reflektierte Einsicht in die wechselvollen Entwicklungen der wissenschaftlichen Theoriegeschichte und deren Verflechtung mit kulturellen und politischen Faktoren, kennt keine Nachfrage. Bildung ist eine Verständnisleistung, die jeder selbst vollbringen muss und nicht als marktgängige Ware kaufen kann. Die Wissenschaft kann dafür lediglich vorbereitende Angebote machen. Wettbewerb in der Wissenschaft ist ein Wettbewerb der Angebote, und ob die Angebote von aufnahmefähigen Menschen angenommen werden, entscheidet sich manchmal erst nach Jahrzehnten. Wer die Marktnachfrage zum Prüfstein der Wissenschaft macht, hat von Bildung nichts verstanden. Wer einer ökonomistischen Wettbewerbsideologie anhängt, hat genau das versäumt, wozu die alte Universität ihm hätte verhelfen können: Bildung!

„Das, was sich im Wissen der Wissensgesellschaft realisiert, ist die selbstbewusst gewordene Bildungslosigkeit“! [19]

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