01.03.2008

Die hässlichste aller Religionen

Analyse von Boris Kotchoubey

Über die Anbetung wissenschaftlicher Ergebnisse.

Mit der Ausnahme von Pawlow’schen Hunden ist kein anderes Experiment in der Geschichte der Psychologie so berühmt wie jenes, das Stanley Milgram 1962 durchführte (1): In der bekanntesten Variante nahmen ein „Lehrer“ und ein „Lerner“ teil, die durch eine Wand voneinander getrennt wurden, sodass der Lehrer den Lerner hören, aber nicht sehen konnte. Der Lehrer bot dem Lerner Triaden von Wörtern dar, und der Lerner sollte darauf mit einem passenden Wort antworten. War die Antwort falsch, so musste der Lehrer den Lerner mit einem elektrischen Schock bestrafen, und zwar jedes Mal mit einem stärkeren, von 15 bis 450 (ja, ja) Volt. Die „Lehrer“ waren ganz durchschnittliche US-Bürger, von der Straße geholt. Der „Lerner“ war aber ein Schauspieler, dem kein elektrischer Schlag verabreicht, sondern nur die „Voltage“ angezeigt wurde. Ab 100 V fing er an aufzuschreien und ab 150 zu stöhnen, dass er die Schmerzen nicht mehr aushalten könne. Mit erhöhter Stromstärke wurden seine Schreie immer schrecklicher, bis er endlich ganz still wurde. Ab 100 bis 150 V begannen viele Lehrer zu protestieren und wollten das Experiment abbrechen, wurden aber vom Versuchsleiter, der sich im gleichen Raum befand, davon abgehalten. Dieser wiederholte lediglich vier stereotype Sätze: „Bitte machen Sie weiter“, „Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen“, „Sie müssen unbedingt weitermachen“ und „Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen.“
Das Hauptergebnis bestand darin, dass sehr viele Lehrer sich überreden ließen und selbst unter dem dringenden Verdacht, dass der Lerner völlig hilflos, bewusstlos oder sogar tot war, bis zu der letzten 450-V-Grenze weitermachten. Im ersten Experiment waren es z.B. 62 Prozent aller Probanden, und die restlichen 38 Prozent stoppten erst nach 300 V. Offensichtlich, so Milgram und andere Sozialpsychologen, führt der Gehorsam gegenüber einer Autorität ganz normale Personen, die weder aggressiv noch gefühlsarm sind, zur brutalen Gewalt gegen einen Menschen, den sie gar nicht hassen. Fast jeder will unter diesen Umständen den Gehorsam verweigern – aber fast keiner tut es.
Auch der Psychotherapeut Erich Fromm zweifelte an dieser Interpretation im Grunde nicht. Er hat lediglich einen weiteren Schritt gemacht und gefragt: Gehorsam gegenüber was? Weder die Polizei noch Vorgesetzte noch Parteieliten waren im experimentellen Raum präsent, sondern nur ein unauffälliger Mann im grauen Kittel mit seinen vier monotonen Sätzen. Was war der Inhalt jener hohen Autorität, die Leute zum bedingungslosen Gehorsam zwang? Die Antwort Fromms war: Das war die Autorität der Wissenschaft. (2)
Das ist ein paradoxer Schluss, denn die Wissenschaft erscheint uns immer noch als der Ort des kritischen Zweifels an jeglichen Autoritäten. Wie kann sie die Quelle einer so strengen Autorität werden? Dazu ist ein – notwendigerweise kurzer – historischer Exkurs erforderlich.

„Forschung“ im breitesten Sinne ist eine allgemeine Eigenschaft des Lebens. Auch Mikroorganismen tasten ihre Umgebung ab. Versuchen wir uns jedoch zu vergegenwärtigen, was die moderne Wissenschaft im eigentlichen Sinne als eine spezifische Institution und menschliche Tätigkeit von diesem breitesten Forschungsbegriff unterscheidet, so kommen wir auf zwei wichtige Eigenschaften. Zum einen ist die Wissenschaft als ein Bündel methodischer Ideen entstanden, wie man seine Umgebung rational erforscht. Die erste können wir als „griechische Idee“ bezeichnen: Bei jedem Forschungsobjekt muss man sich vor allem auf die Vorgänger beziehen, die sich mit diesem Objekt bereits befasst haben, und sich mit ihnen kritisch auseinandersetzen. Im kritischen Diskurs diszipliniert sich der Verstand – inwieweit, zeigt die folgende Anekdote:
Ein junger Grieche will über das Mittelmeer nach Ägypten. Man sagt ihm, er solle vor der Abfahrt unbedingt dem Poseidon ein Opfer darbringen: „Siehe, da im Tempel ist die lange Liste von Leuten, die ihm ein Opfer dargebracht haben und unbeschädigt an ihrem Ziel angekommen sind.“ „Hm“, antwortet der Mann, „eigentlich brauche ich vier Listen: jene, die ein Opfer darbrachten und gut am Ziel ankamen; jene, die ein Opfer darbrachten und doch im Meer ertranken; jene, die kein Opfer darbrachten und am Ziel ankamen; und jene, die kein Opfer darbrachten und ertranken. Erst aus dem Vergleich zwischen den vier Listen kann ich schließen, ob sich ein Opfer für Poseidon lohnt.“ Heute beruht eine sehr verbreitete Methode der statistischen Datenanalyse, der sogenannte Chi-Quadrat-Test, genau auf dieser Überlegung aus der vorchristlichen Zeit.
Die andere Idee kann „die baconianische Idee“ genannt werden und bezieht sich auf die strikte Trennung zwischen Fakt und Deutung. Im idealen Fall, meinte der britische Lordkanzler Francis Bacon im 17. Jahrhundert, unterteilen sich die Forscher in drei völlig getrennte Klassen: Die einen machen alle möglichen Versuche mit der Natur, die zweiten fassen die Ergebnisse der ersten zusammen, die dritten theoretisieren aufgrund dieser Daten. (3) Obwohl uns die Idee eines blinden, ziellosen Experimentierens ziemlich naiv anmutet, drückt sie sich heutzutage im Aufbau naturwissenschaftlicher Berichte aus: Die Ergebnisse der Versuche bzw. Beobachtungen werden in einer speziellen Sektion so theoriefrei wie möglich dargelegt, egal, ob die Daten einen Sinn ergeben oder nicht. Erst in einer anderen Sektion darf man diese Daten im theoretischen Licht interpretieren und über ihre Bedeutung nachdenken.
Die dritte Idee ist die „popperianische“ nach Karl Popper, einem der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts. Aus seiner Sicht ist das Ziel jedes Experiments, eine bestimmte Theorie zu widerlegen. Eine Theorie bestätigen kann man immer, deshalb sind Bestätigungen wertlos. Erst die Zurückweisung ist ein Fortschritt. Die Theorie, die allen bisherigen Widerlegungsversuchen widerstanden hat, ist für heute die beste, obwohl man nie sicher sein kann, dass sie auch morgen noch bestehen wird. Wie das der Popperianer J. Platt formuliert hat: „Lesen Sie über ein Experiment, so stellen Sie sich die Frage, was die Theorie wäre, die von diesem Experiment zurückgewiesen werden kann. Gibt es keine solche Theorie, so hat das Experiment keinen Sinn. Lesen Sie über eine Theorie, so stellen Sie sich die Frage, welches Experiment es geben kann, das, falls erfolgreich, diese Theorie zurückweisen würde. Gibt es kein solches Experiment, so hat die Theorie keinen Sinn.“ (4)

Wie aus dieser groben Skizze klar wird, ist die Wissenschaft vor allem ein Set aus methodischen Vorgehensweisen. Ein moderner Forscher ist nicht derjenige, der ein umfangreiches faktisches Wissen besitzt, sondern derjenige, der versteht, mit welchen Methoden jenes Wissen zu gewinnen ist. Dabei ist die Methode hauptsächlich als kritisches Verfahren zu verstehen, unabhängig davon, ob die Kritik nur spekulativ (wie bei den Griechen) oder experimentell (neuzeitliche Naturforschung) ist. Wissenschaftliche Methoden zu beherrschen heißt: kritisch hinterfragen, überprüfen können, kein Ergebnis unbedacht akzeptieren. Ein wissenschaftliches Ergebnis ist von der Methode, mit deren Hilfe es erhalten wurde, untrennbar. Ein weiteres berühmtes Experiment kann dies illustrieren:
Benjamin Libet hat bei seinen Probanden elektrische Hirnaktivität registriert, während sie ab und zu den Zeigefinger bewegten. (5) Er konnte feststellen, dass die Probanden einige Zeit vor der Bewegung einen „Wunsch“ bzw. „Drang“, den Finger zu bewegen, verspürten. Die elektrische Aktivität in der Hirnrinde fing aber noch 0,2 Sekunden früher an! Dieser Befund war ein Gegenstand wilder philosophischer Spekulationen. (6) Eine sehr verbreitete Meinung besteht darin, Libets Ergebnis zeige, dass wir keinen freien Willen haben, wenn unser Gehirn 0,2 Sekunden vor unserer bewussten Entscheidung schon entschieden hat, was wir tun werden.
2002 wiesen aber zwei neuseeländische Forscher einen kleinen Fehler in der Messmethode nach. (7) Ein Experiment besteht aus 40–bis 60 Durchgängen. Benenne ich in jedem Durchgang den Zeitpunkt meines Bewegungswunsches, so erhält am Ende der Versuchsleiter den durchschnittlichen Zeitpunkt einfach als arithmetischen Mittelwert dieser Angaben. Die Hirnaktivität wird jedoch als eine Kurve gemessen (Abb. 1), die zu einem Zeitpunkt die Nulllinie verlässt und ansteigt. Kurven werden anders gemittelt als nominale Werte. Addieren Sie zwei Kurven, von denen jede die Nulllinie schneidet, und Sie finden, dass der Punkt, an dem die Summe der Kurven die Nulllinie schneidet, nicht gleich der Summe der Punkte ist, an denen jede Kurve die Nulllinie schneidet! Das bedeutet, dass Libet die Mittelwerte für Bewegungswunsch und Hirnaktivität gar nicht vergleichen durfte. Der Grund für weitgehende philosophische Schlüsse (Nicht-Existenz der menschlichen Freiheit!) war ein nachvollziehbarer mathematischer Fehler: eine gute ABM für Absolventen philosophischer Fakultäten.

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Abb. 1: Drei Linien zeigen den Anstieg der Hirnaktivität in drei Einzeldurchgängen im Verhältnis zum Bewegungsanfang, der beim Zeitpunkt 0 stattfindet. Wenn wir nun in jedem Punkt aus den Daten der drei Linien einen Mittelwert berechnen, erhalten wir die dicke schwarze Linie als den mittleren Aktivierungsverlauf. Der Pfeil macht deutlich, dass der Startpunkt der schwarzen Linie nicht dem mittleren Startpunkt der drei farbigen Linien entspricht (dies wäre bei etwa 175 ms), sondern dem frühesten Start (rote Linie, bei 200 ms).
Streng genommen ist dies nur für ein rauschfreies Signal korrekt. Da das elektrische Signal des Gehirns immer ein Rauschen enthält, verschiebt sich der registrierbare Beginn der durchschnittlichen Hirnaktivierung um einige Millisekunden. Diese unwesentliche Verschiebung ist jedoch in diesem Kontext belanglos.

Neben der kritischen Methodologie ist jedoch auch die humanistische Einstellung eine unentbehrliche Grundlage der Wissenschaft. Dies betrifft nicht nur ganz offensichtlich deren technologische Seite, jene „Beherrschung der Natur“ zum Nutzen des Menschen, was H. Stork zur Aussage bewegte, die Bibelstelle Genesis 1, 28 sei die „Magna Charta der Technik“. (8) Selbst der Begriff Paradies bedeutet keine vorgegebene, sondern eine geschaffene, mitten in der Wüste produzierte Landschaft. Die Erschaffung des Menschen wird in der Bibel als der damals fortschrittlichste technologische Prozess (Töpferei) beschrieben. Würde die Bibel heute verfasst, so stünde dort sicherlich: „Gott hat den ersten Menschen programmiert.“ Aber lassen wir die Technik beiseite. Auch die Grundlagenforschung, die profitlose Wissenssuche wäre undenkbar ohne den Glauben an eine besondere Stellung des Menschen in der Natur. Der Mensch kann erst dann fragen, wie die Natur funktioniert, wenn er sich für etwas mehr hält als nur für einen Teil dieser Natur. Wer heute mit Verwunderung das Verhalten der Kirchenvertreter gegenüber freier Forschung beobachtet, mag es kaum glauben, und trotzdem sind die Historiker der Wissenschaft in diesem Punkt einig: Jene humanistische Einstellung, jene Hervorhebung des Menschen aus der Natur verdankt sich ausschließlich der christlichen These vom Menschen als Ebenbild Gottes. (9)
Merkwürdigerweise ist sich die grüne Linke dieser Tatsache klar bewusst, indem sie das ganze Übel der Moderne mit ihrem verdammten, naturzersetzenden Fortschritt dem giftigen Einfluss der jüdisch-christlichen Tradition zuschreibt, während die fortschrittliche Linke diesen Einfluss dagegen vollständig leugnet und dieselbe Tradition als immerwährendes Hindernis auf dem Weg der freien Forschung sieht. Das Christentum ist also im Auge des modernen Intellektuellen doppelt schuld: als Quelle jeglichen technischen Fortschritts (falls man jenen Fortschritt verteufelt) und als dessen böser Feind (falls man ihn vergöttert). (10)

Ein altes, aber immer neu wiederholtes Argument für die gefühlte Feindschaft zwischen Wissenschaft und Religion sind die Fälle der Unterdrückung bzw. Verfolgung der Forscher durch die Geistlichen. Will man aber wissenschaftlich bleiben, so sollte man sich des jungen alten Griechen erinnern und alle vier Listen mit folgenden historischen Fällen anfordern: 1. Verfolgung der Forscher durch die Geistlichen; 2. Verfolgung der Geistlichen durch die Geistlichen (z.B. Ketzerei); 3. Verfolgung der Geistlichen durch die Forscher; 4. Verfolgung der Forscher durch die Forscher. Zum großen Erstaunen würden wir dann feststellen, dass keine dieser Listen leer ist. Besonders im 20. Jahrhundert waren wir Zeugen massiver Konfrontationen zwischen den Vertretern institutionalisierter Wissenschaften – bis hin zur Denunziation und zur Zusammenarbeit mit Geheimdiensten bei der Verfolgung von Abtrünnigen. Manche Beispiele gehören in mehrere Listen gleichzeitig, z.B. Valentin (Lucas) Vojno-Jasenezkij, der Erzbischof der orthodoxen Kirche und nebenbei einer der Gründer der modernen Handchirurgie, der im Land des verordneten Atheismus 17 Jahre im Gefängnis verbrachte. Auch deshalb haben die zwei schrecklichen Ideologien der vergangenen Zeit so viel Übel verursacht, weil sie sich nicht als Ideologien bekannt gaben, sondern als wissenschaftlich begründete Theorien, die eine angeblich auf den Daten der empirischen Soziologie, die andere auf denen der Rassenbiologie basierend.
Heute gibt es in den demokratischen Ländern keine Scheiterhaufen mehr, aber Jobverlust, Verleumdung und Ostrakismos bleiben immer noch oft das Schicksal der Andersdenkenden in der Sozialforschung, in vielen Bereichen der Biologie, in der letzten Zeit insbesondere in der Klimaforschung. Es geht also nicht um die „gute Wissenschaft“ gegen die „schlechte Religion“ (oder umgekehrt) sondern um die Macht. Das Böse wurzelt in zu viel Macht, nicht in dem, wem sie gehört, ob einem Bischof oder einem Professor: siehe oben das Milgram-Experiment.

Ohne diese doppelte, methodisch-kritische und humanistische Grundlage bleibt die Wissenschaft eine Religion, und zwar hässlicher als die anderen. Denn diese haben ihren eigenen ethischen Kodex, nach dem man z.B. feststellen kann, dass das Verhalten eines Inquisitors nicht als „christlich“ angesehen werden darf, da es mit der Botschaft Jesu nicht übereinstimmt. Wo ist aber die Bergpredigt der Wissenschaft, nach der wir Gut von Böse unterscheiden können? Die Erfinder der Atombombe waren keinesfalls schlechte Physiker.
Die Trennung wissenschaftlicher Befunde von ihren methodischen und philosophischen Wurzeln lässt sie zusammenhanglos in der Kälte stehen. Aber unzusammenhängende Tatsachen gibt es nicht. Werden sie aus ihrem methodischen und humanistischen Kontext hinausgerissen, so geraten sie in den Kontext öffentlicher Meinungen, voreingenommener Deutungen und – vor allem – politischer Machtspiele. Das vom Kontext losgetrennte Ergebnis wird manipulierbar, lenkbar.
Ich erhebe keinen Anspruch, hier ein (vermutlich sehr langes) Verzeichnis aller Manipulationsverfahren darzustellen. Es reichen wenige Beispiele. Die einfachste Methode besteht in der Vergabe der Aufträge, eine Untersuchung so oft zu wiederholen, bis das erwartete Ergebnis eintrifft (s. Abb. 2). Ein frisches Beispiel ist das erhöhte Krebsrisiko bei in der Nähe von Kernkraftwerken wohnenden Menschen. Da die Strahlung in diesen Regionen nicht höher ist als sonst, kann das Ergebnis kaum physikalisch erklärt werden. Wahrscheinlich war dies nicht die erste Studie dieser Art. Bei geduldiger Wiederholung gewährleistet Seine Majestät Zufall irgendwann das nötige Ergebnis (11).

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Abb. 2: Die klassische „Pyramide zufälliger Effekte“. Sucht man aktiv nach einem sozial bedeutsamen Effekt (z.B. dass Computerspiele Kinder dumm machen), so führt man in der Regel mehrere Studien durch, deren Ergebnisse als Punkte in der rechten Pyramidehälfte abgebildet sind. R bedeutet die Stärke (mit Vorzeichen) des Effekts, N die Größe der jeweils untersuchten Stichprobe. Je mehr Personen untersucht werden, desto näher geht das Ergebnis gen null (= kein Effekt). Man kann einwenden, dass, falls die in kleineren Studien beobachteten Effekte durch Zufall entstünden, die Pyramide symmetrisch sein sollte. D.h., ab und zu müssten (ebenso per Zufall) auch die entgegengesetzten Effekte auftreten: dass etwa Computerspiele die Kinder intelligenter machen. Diese gibt es auch (Kreuzchen in der linken Pyramidenhälfte), aber weil sie der Erwartung offensichtlich widersprechen, werden solche Studien entweder abgebrochen oder durchgeführt, aber nicht veröffentlicht, oder veröffentlicht, aber nicht beachtet.

Eine andere Manipulation nutzt die „natürliche“ menschliche Neigung aus, Zusammenhänge im Sinne von Ursache-Wirkung zu interpretieren. Was hätten wir gedacht, falls es so wäre, dass unsere Kinder von Jahr zu Jahr immer mehr Fast Food essen und dabei immer dicker würden? Kein Mensch hätte wahrscheinlich daran gezweifelt, dass das Fast Food das Übergewicht verursacht. Es ist aber so, dass unsere Kinder von Jahr zu Jahr immer weniger Fast Food essen, aber trotzdem dicker werden. Nun nimmt aber niemand an, dass Big Macs Menschen schlank machen. Dieser Verzicht auf kausale Erklärung ist vollkommen korrekt – genauso angebracht wäre er auch im entgegengesetzten F. In einem satirischen Roman wird ein Supercomputer aufgebaut, der die Frage „nach dem Sinn des Lebens, des Universums und anderer Dinge“ beantworten soll. Das Programm läuft ein paar Millionen Jahre und spuckt endlich das Ergebnis aus: „42“. Die Anwender fragen bange: „Bist du sicher, oh großer Computer?“ „Ja, diese Antwort ist absolut sicher“, antwortet der Computer. „Aber wie formulierst du genau die Frage, auf die die Antwort 42 lautet?“ „Um die Frage zu formulieren, auf die meine Antwort 42 lautet, braucht ihr einen viel größeren Computer, dem ich unwürdig bin, sogar Eingangsparameter zu berechnen!“
Mit dem Trick, der Öffentlichkeit ein Ergebnis darzustellen, ohne dass sie weiß, welche Frage gestellt wurde, kann man vielleicht die besten Manipulationsziele erreichen. Sehr deutlich ist das in der Soziologie, wo man immer die nötige Antwort bekommt, je nachdem, wie man fragt: 80 Prozent der deutschen Bürger unterstützen die Idee des allgemeinen Mindestlohns! Fragen Sie, wer persönlich von einem Mindestlohn leben will – wie viel bleibt dann von diesen 80 Prozent? Stellen Sie zwei Fragen: „Wollen Sie, dass Friseurinnen 50 Prozent mehr Gehalt bekommen?“ und „Wollen Sie für jede Frisur 50 Prozent mehr zahlen?“ – und Sie bekommen verschiedene Antworten. Mit der Aussage „Die Armut nimmt ständig zu“ sind viel mehr Menschen einverstanden als mit „Früher gab es weniger Armut als jetzt“, obwohl das Verb „zunehmen“ nichts anderes bedeutet, als dass etwas früher weniger (oder kleiner) war als jetzt.
Die Bestimmung der Antwort durch die Frage ist nicht nur die Sache soziologischer Interviews. (12) Aus den PISA-Studien wissen wir alle, dass die deutschen Kinder „nicht so gut sind“. Das bedeutet etwa so viel wie die Antwort des Supercomputers auf die Sinnfrage: „42“. Nicht so gut in was? Sie sind nicht so gut in bestimmten Tests, die ziemlich zuverlässig einige Fähigkeiten und Fertigkeiten messen. Dies führt uns jedoch zu den weiteren Fragen, was für Fähigkeiten sind es und ob dies wirklich diejenigen wichtigsten Fähigkeiten sind, von denen wir wirklich wollen, dass unsere Kinder sie unbedingt besitzen, oder ob es andere, wichtigere gibt. (13)
Mit solchen Fragen verlassen wir aber sofort den Bereich der Wissenschaft und dringen in den Bereich der Wertevorstellungen ein. Was wollen wir? Was sind unsere Ziele? Das sind politische, keine wissenschaftlichen Fragen, denn in der Politik geht es um das Erwünschte, nicht um das Wahre oder Schöne. (14) Wie schon gesagt, besitzt die Wissenschaft keine eigene Wertebasis, sondern beruht ursprünglich auf einer anderen (christlich-humanistischen). Obwohl ich zutiefst davon überzeugt bin, dass die Wissenschaft an sich völlig unabhängig von ihrem Nutzen einen hohen Wert hat, ist diese Aussage an sich völlig unwissenschaftlich, sie kann nicht mit wissenschaftlichen Methoden bewiesen werden. Die Fragen nach Werten, nach Zielsetzungen einer Gesellschaft können nicht wissenschaftlich beantwortet sondern nur politisch verantwortet werden, und von dieser Verantwortung für unsere frei gesetzten Ziele befreit uns kein Expertengremium, obwohl, soweit sie gesetzt worden sind, die Wissenschaftler sehr viel helfen können, diese Ziele so schnell und effizient wie möglich zu erreichen.

Als die Franzosen drei Jahre nach ihrer Revolution eine Statue der Vernunft errichteten, die jeder Bürger anzubeten hatte, entpuppte sich das proklamierte „Reich der Vernunft“ als eine unvorstellbare Orgie der Massenhinrichtungen. (15) Offensichtlich ist uns die Vernunft nicht dazu gegeben, sie zu vergöttern. Nun sind wir dabei, ein ähnliches Idol der wissenschaftlichen Ergebnisse aufzubauen und ihm Opfer zu bringen. Ich möchte im Rahmen dieses Artikels nicht die schwierige These diskutieren, dass der Mensch ein religiöses Wesen schlechthin sei und unbedingt ein Anbetungsobjekt brauche. Aber wenn dem so wäre, dass der Abschied von einer gesellschaftlich akzeptierten Religion eine klaffende Lücke des unbefriedigten religiösen Bedürfnisses in der Seele hinterlässt, dann ist die Wissenschaft am wenigsten geeignet, diese Lücke zu füllen.

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