03.08.2022

Wer gegen wen?

Von Boris Kotchoubey

Oberflächlich spielt sich ein Konflikt zwischen Russland und dem Westen ab, auf einer tieferen Ebene geht es aber um den Kampf zwischen souveränen Nationalstaaten und Imperien.

Ein gemütlicher Abend in einer Wiener Familie. Der Mann schaut Fußball. Die Frau kommt ins Wohnzimmer: „Wer spielt da?", fragt sie. – „Österreich - Ungarn." – „Ja, und gegen wen?"

Wer spielt gegen wen in politischen Konflikten? Die Frage ist alles anderes als einfach, denn die oberflächlichen politisch-militärischen Auseinandersetzungen fallen nicht mit den tiefen ideologischen Auseinandersetzungen zusammen. Es hängt zu viel von konkreten Zufälligkeiten ab. Im 16. Jahrhundert half, wenngleich etwas ungern, eine absolute Monarchie (England) einer jungen Republik gegen eine andere absolute Monarchie (Spanien); ein halbes Jahrhundert später unterstützte das katholische Frankreich Protestanten gegen die ebenfalls katholischen Habsburger.

Am deutlichsten ist dieser Unterschied am Beispiel des Zweiten Weltkriegs zu sehen. Über die meiste Zeit (1941-45) führte die Anti-Hitler-Koalition den Krieg gegen die Achse Berlin-Rom-Tokio. Doch dies war die Oberfläche des schrecklichen Krieges. Die tiefere Auseinandersetzung verlief, etwas vereinfacht gesagt, zwischen Demokratien und Diktaturen, während die Tatsache, dass eine der schlimmsten Diktaturen auf der gleichen Seite mit den Demokratien stand, ein geschichtlicher Zufall war. Die Klio hat sich mal verrechnet oder einen Witz erlaubt. Korrekter war ihre Haltung zwischen 1939 und dem 22. Juni 1941, als die beiden Totalitarismen auf der gleichen Seite waren. Die UdSSR führte in dieser Zeit zwar keinen direkten Krieg gegen Großbritannien und Frankreich, unterstützte aber Nazi-Deutschland militärisch, wirtschaftlich, logistisch und propagandistisch. Während Görings Bomber britische Städte ruinierten, beschuldigte die sowjetische Presse ausschließlich Großbritannien für den Krieg und stellte Deutschlands Verhalten (einschließlich der Eroberung von Dänemark, Norwegen, Benelux, Polen und der Tschechoslowakei) als pure Notwehr dar.

Die Verwechslung zwischen dem oberflächlichen und dem tieferen Konflikt im Zweiten Weltkrieg führte zum fatalen Fehler vieler anscheinend intelligenter Menschen wie Jean-Paul Sartre, John Bernal, Pablo Picasso u.v.a., die geglaubt haben (und versucht haben, Politiker davon zu überzeugen), dass der Stalinismus tatsächlich eine Alternative zum Nationalsozialismus darstellte, während – wie wir Jahrzehnte später klar sehen – die beiden lediglich zwei Abarten derselben politischen Substanz waren.

„Die Rhetorik des Kampfes der guten Kräfte gegen das russische Böse steht im Widerspruch zum offensichtlichen Unwillen der ‚Guten‘, diesen Kampf zu ernst zu nehmen.“

Die Konsequenzen dieser Verwechslung waren katastrophal: Europa wurde für 40 Jahre geteilt, Dutzende Millionen Osteuropäer wurden in die kommunistische Sklaverei getrieben, Hunderttausende Widerstandskämpfer, die für Demokratie und Freiheit gegen die beiden Totalitarismen gekämpft hatten, wurden nach 1945 vom Westen verraten und stalinistischen Schergen ausgeliefert; viele von ihnen fanden im Gulag ihren Tod. So viel kann ein Denkfehler kosten; und man sage noch, Philosophie und Logik seien abstrakte Lehren, fern vom täglichen Leben!

Ein Teil von den Verratenen waren Ukrainer, denn die ukrainische Befreiungsarmee war eine von mehreren osteuropäischen Militärstrukturen, die gegen die beiden eineiigen Zwillinge in Berlin und Moskau kämpften und schließlich zwischen den zwei totalitären Maschinen zerrieben wurden.

Der trügende Schein

Seit Ende Februar sind die Massenmedien in Deutschland und Europa voll von Kriegsrhetorik. Es handele sich gegenwärtig um die große Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen, die als Kampf zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen Fortschritt und Stau, zwischen der Zukunft und der Vergangenheit dargestellt wird. Auch diese Vorstellung wird von Menschen geteilt, die über einen hohen Intellekt verfügen, z.B. Jordan Peterson. Eine Ironie kann man darin einsehen, dass dieses manichäisch anmutende Paradigma (‚Russland gegen den Westen als zwei unversöhnliche Pole‘) ausgerechnet den russischen Medien entliehen wird, in denen es schon Ende der 2000er Jahre entwickelt wurde und seit 2014 fast in allen Zeitungen und TV-Kanälen propagiert wird, selbstverständlich mit der Umkehr der Vorzeichen für die Guten und die Bösen.

Man muss aber sehr naiv sein, um diese Gegenüberstellung für bare Münze zu nehmen. Lassen wir mal das Thema weg, dass der Westen nach zwei Jahren schwerer Grundrechtseinschränkungen nicht als Paradies der Freiheit auftreten darf.

Die Rhetorik des Kampfes der guten Kräfte gegen das russische Böse steht im Widerspruch zum offensichtlichen Unwillen der „Guten“, diesen Kampf zu ernst zu nehmen. Mitten im Krieg äußerten sich die höchsten Repräsentanten der US-Regierung deutlich, dass Amerika auf keinen Fall einen Krieg gegen Russland will, und dass die Ukraine die amerikanischen schweren Waffen nur unter der Bedingung bekommen würde, dass kein Objekt auf dem russischen Territorium angegriffen wird – um Gottes Willen nicht! Ebenfalls versicherte die US-Regierung unmissverständlich, dass sie keinen Regierungswechsel in Russland beabsichtigt. Putin ist zwar der Teufel mit menschlichem Antlitz, aber die Kräfte des Guten wollen ihn nicht beseitigen. Wahrscheinlich brauchen sie den Teufel zur Symmetrie.

„Während die Position der USA noch als ambivalent und nur eingeschränkt antirussisch bezeichnet werden kann, ist die deutsche Politik entgegen aller Rhetorik ganz offensichtlich prorussisch.“

Seit Monaten wird Putin regelmäßig mit Hitler und die Barbareien der russischen Armee mit den Verbrechen des Nationalsozialismus verglichen. Selbstverständlich beinhaltet dieser Vergleich eine gute Portion Überspitzung. Dennoch stellen wir uns vor, dass die Anführer der Anti-Hitler-Koalition etwa 1943 erklärt hätten, dass sie weder die Regierung Hitlers absetzen wollen noch Artilleriebeschüsse oder Bombardierungen von Objekten (nicht einmal von militärischen Objekten!) in Deutschland für denkbar halten. Allein diese Vorstellung macht klar, dass etwas nicht stimmt und dass wir möglicherweise an irgendeiner Stelle betrogen werden.

Deutschland bezahlt den russischen Krieg

Aber während die Position der USA noch als ambivalent und nur eingeschränkt antirussisch bezeichnet werden kann, ist die deutsche Politik entgegen aller Rhetorik ganz offensichtlich prorussisch. Seit bald einem Vierteljahrhundert stehen die deutschen Regierungen fest auf der Seite Russlands. Für Schröder war der russische Präsident „der lupenreine Demokrat“, zugleich aber auch ein Garant seines (Schröders) persönlichen Wohlstands. Die „beste Frau Putins“ (Boris Reitschuster) führte eine feinere Politik und verband harmlose, aber medienwirksame Sanktionen gegen Russland mit kolossalen wirtschaftlichen Verträgen, die die Schäden von den Sanktionen ums Hundertfache kompensierten. Alle Versuche anderer EU-Länder, schärfer gegen Putin vorzugehen, blockierte Merkel unnachgiebig.

Die Kremlbeziehungen des gegenwärtigen Bundeskanzlers sind legendär und reichen von seinen jugendlichen Freundschaften mit hochrangigen SED-Funktionären bis zu dem Mann, der heute in Moskau lebt und bei Gelegenheit erzählen kann, wie man direkt vor den Augen eines Bundesfinanzministers 2,5 Milliarden (in Ziffern: 2 500 000 000) Euro Steuergelder in die eigene Hosentasche steckt. Vielleicht können wir über diesen Zusammenhang bald mehr erfahren, falls Füchse in Potsdam weiter aktiv bleiben.

Vom deutschen Steuerzahler bekam Russland das Luxusgeschenk Nord Stream II. Für Deutschland war das Projekt wirtschaftlich unnötig, da das Land völlig ausreichend durch bereits existierende Pipelines mit Gas beliefert wird. Wer sich heute über die Verbrechen der russischen Armee in der Ukraine empört, sollte daran denken, dass diese Armee im Wesentlichen mit deutschem Geld finanziert wurde. Die russische Kriegsführung ist extrem teuer: Ein einziger Raketenbeschuss einer großen ukrainischen Stadt kann bis zu einer halben Milliarde Dollar kosten. Die Familien der in diesem „Nicht-Krieg“ Gefallenen erhalten (im Äquivalent) bis zu 150.000 Euro. Ohne die kolossalen Wirtschaftsverträge, von denen vor allem ein kleines Grüppchen der deutschen Top-Manager und Top-Politiker zusammen mit den russischen Oligarchen profitiert, hat, wäre die russische Armee nicht in der Lage, die ukrainischen Städte in dem Maße zu verwüsten, in dem dies jetzt passiert.

„Der Gesamtschaden, der der deutschen Wirtschaft wegen der prorussischen Politik der letzten Jahrzehnte zugefügt wurde, beziffert sich auf eine mehrere hundert Milliarden Euro.“

Dieses Grüppchen baute im Laufe der letzten Jahrzehnte jene absolute Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von den russischen Energieträgern auf, deretwegen wir jetzt vor einer Energiehungersnot stehen. Der Wirtschaftsminister sieht bereits eine Verdreifachung der Gaspreise voraus, aber lokalen Verantwortlichen (keinen journalistischen Schreihälsen) zufolge kann auch eine Verzehnfachung nicht ausgeschlossen werden; die Stadtwerke Hechingen kauften z.B. 2021 Gas für 2 Cent pro Kilowattstunde, im August 2022 „werden mehr als 18 Cent verlangt“.1 Der Gesamtschaden, der der deutschen Wirtschaft wegen der prorussischen Politik der letzten Jahrzehnte zugefügt wurde, beziffert sich auf eine mehrere hundert Milliarden Euro2; der politische Schaden in Form von Deutschlandhass der Osteuropäer kommt hinzu.

Doch keiner der Politiker, die jahrelang daran gearbeitet haben, Deutschland von Russland (eigentlich vom Geheimdienst FSB, dessen Männer an der Spitze aller großen russischen Rohstoffkonzernen stehen) total abhängig zu machen, fühlt sich schuldig. Der damalige langjährige Außenminister, einer der Hauptarchitekten der putinfreundlichen Politik und heute Bundespräsident, sagt bloß, dass er sich leider geirrt hat, und damit sei die Sache für ihn erledigt. Und er mahnt weiter in seinen Sonntagsreden Menschen zur Verantwortung, die wegen seiner Politik in diesem Winter ihre Heizungsrechnungen nicht mehr bezahlen können. Er selbst geht mit dem Beispiel der Energiesparsamkeit voran: Das Schloss Bellevue wird in der Nacht nicht beleuchtet. Jeder von uns, der in einem Schloss wohnt, sollte diesem Beispiel folgen.

Bereits 1999/2000 führte Russland einen Vernichtungskrieg gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung, nämlich gegen die tschetschenische Teilrepublik; zwischen 10 und 15 Prozent des tschetschenischen Volkes wurde getötet, vergleichbar mit dem Anteil von Sinti und Roma, die von den deutschen Nazis vernichtet wurden. Es folgte eine Aggression gegen Georgien (mit dem Versuch des gewaltsamen Regierungswechsels) 2008, Annexion der Krim und der Eingriff in den Donbass 2014, der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs mit Tötung von fast 300 Menschen (davon 90 Kinder) durch russische Artillerie im Juli 2014.

„Deutschland führt seit Monaten hitzige Diskussionen über Waffenlieferungen, blockiert sie aber mit einer eisernen Konsequenz, die vielleicht an anderen Stellen angemessener wäre.“

Dazu kommt die zunehmende Militarisierung der Medien und der gesamten Gesellschaft in Russland. Kindergartenkinder tragen an Festtagen eine soldatische Uniform und imitieren Militärparaden, und bereits 2014 wurde der Fernsehmoderator Kisselew, nachdem er vom möglichen Atomangriff auf die USA gesprochen hatte, mit einem Staatsorden ausgezeichnet. Wenn angesichts all dieser Tatsachen die führenden deutschen Politiker bis 2022 nicht mal auf den Verdacht gekommen waren, dass Putin zur aggressiven Politik fähig ist, und wenn sich erst am 24. Februar ihre Augen öffneten und sie plötzlich die Wahrheit erkannten, dann sind sie einfach Personen von minderem Intellekt, für die die Gesellschaft womöglich einen Platz in einfachsten Tätigkeiten finden könnte, aber auf keinen Fall in leitenden Positionen.

Der Pazifismus

Der Widerspruch zwischen dem ohrenbetäubenden medialen Säbelrasseln mit der offiziellen Erklärung Russlands zur Quelle alles Bösen einerseits und dem Fehlen der realen Unterstützung für die Ukraine – oder sogar mit einer halbwegs verdeckten Finanzierung der russischen Kriegsführung – andererseits ist verwirrend. In der deutschen Politik ist dieser Widerspruch wahrscheinlich am stärksten, aber er kann auch in anderen westlichen Ländern beobachtet werden, besonders wenn man sie mit den Ländern vergleicht, die der Ukraine tatsächlich militärisch helfen. So verwendet Deutschland für die militärische Hilfe für die Ukraine 0,4 Promille seines BIP, die USA 0,2 Promille, UK 0,9 Promille, Norwegen 1,3 Promille, Griechenland 1,4, Litauen 2,3, Polen 3,0 und Estland 8,5 Promille. Mit anderen Worten: Großbritannien hilft der Ukraine in Relation zum eigenen Sozialprodukt  2,25 Mal mehr als Deutschland, Norwegen 3,35 Mal mehr, Griechenland 3,5 Mal, Polen 7,5 Mal und Estland 21 Mal mehr als Deutschland.

Die Unterstützung der sich verteidigenden Ukraine kann natürlich nicht nur in Geld, sondern auch in den konkreten, überlebensnotwendigen Kriegsgegenständen ausgedrückt werden, v.a. Waffen und Munition. Während die USA, Großbritannien und Dänemark Artillerie, Flak und Panzer liefern, führt Deutschland seit Monaten hitzige Diskussionen über Waffenlieferungen, blockiert sie aber mit einer eisernen Konsequenz, die vielleicht an anderen Stellen angemessener wäre (vgl. hier, hier und hier). So können wir mindestens darauf stolz sein, mit unserer Russlandspolitik europäische Sprachen zu bereichern: Die Korruption in höchsten politischen Ämtern heißt jetzt im Englischen „schröderization“, und das Polnische benutzt das Wort „szolcen“ zur Bezeichnung der Fähigkeit, sehr viel zu reden und dabei nichts zu tun.

Als Erklärung der Untätigkeit wird immer wieder vom „westlichen Pazifismus“ gesprochen und darüber, dass die westlichen Nationen „kriegsmüde“ seien. Was den Pazifismus betrifft, so haben uns die letzten Jahrzehnte genug Beispiele dafür gegeben, dass westliche Länder durchaus Kriege führen und sogar initiieren können – wenn sie wollen. Und wie kann es man überhaupt von einer Tätigkeit schon müde sein, bevor man mit ihr anfängt? Das widerspricht dem üblichen Wortgebrauch.

„Um einen typischen Krieg unserer Zeit zu verstehen, sollte man nicht an die Kriege der 18. und 19. Jahrhunderte denken, sondern an die des 16. und 17. Jahrhunderts – am deutlichsten an den Dreißigjährigen Krieg.“

Die Argumentation europäischer und amerikanischer Pazifisten (darunter meine ich die wenigen echten unter ihnen, nicht die Handlanger Putins) beruht auf einem tiefen Missverständnis der Natur postmoderner Kriege. Sie glauben, der Krieg sei „die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ und wird geführt, um einen strategischen Gewinn in einer Kraftbalance zwischen verschiedenen Mächten zu erkämpfen. Daher können Kompromisse geschlossen werden, in denen jede der kriegführenden Seiten ihr Ziel zumindest teilweise erreicht.

Dieses Gedankengut gehört zur europäischen Moderne und basiert auf rationalistischen Überlegungen, die wir längst in der Vergangenheit gelassen haben. Schon der Zweite Weltkrieg war kein geostrategischer, sondern ein ideologischer Krieg. Das Ziel der NSDAP war der Endsieg des Nationalsozialismus, während strategische Gewinne gegenüber Großbritannien und der UdSSR bloß Zwischenziele darstellen. Um einen typischen Krieg unserer Zeit zu verstehen, sollte man nicht an die Kriege der 18. und 19. Jahrhunderte denken, sondern an die des 16. und 17. Jahrhunderts – am deutlichsten an den Dreißigjährigen Krieg. Im breitesten Sinne des Wortes sind die meisten Kriege der Gegenwart religiöse Kriege. Sie werden nicht um territoriale Gewinne, sondern um hehre Prinzipien geführt. Ihre Ziele sind global, und Kompromisse sind nicht möglich, wie es damals nicht möglich war, zur Hälfte Katholik und zur Hälfte Protestant zu sein.3 In einem solchen Krieg müssen die Andersgläubigen entweder bekehrt oder ausgerottet werden.

Die Naivität dieser Missdeutung sieht man sehr klar am Scheitern pazifistischer Konzepte im israel-palästinensischen Konflikt. Jahrzehntelang wiederholen die in den Begriffen der europäischen Aufklärung gefangenen westlichen Politiker gebetsmühlenartig, man müsse dem Gegner vielleicht noch ein paar Quadratkilometer, noch ein paar Dörfer zurückgeben, dann gibt es Frieden. Die Dörfer werden aufgegeben, aber den Frieden gibt es immer noch nicht. Kein Problem, die Lösung lautet: ein paar weitere Dörfer aufzugeben. Ob das wirklich Einstein sagte, sei dahingestellt, aber die Aussage ist korrekt: Dummheit besteht darin, immer das Gleiche zu tun und auf ein anderes Ergebnis zu hoffen.

„Die russische (Kriegs)Politik wird schon seit fast zwei Jahrhunderten mehr von Ideologien als von realen geopolitischen Überlegungen gesteuert.“

Für Kriege Russlands stimmt das oben Gesagte im besonderen Maß, weil die russische (Kriegs)Politik schon seit fast zwei Jahrhunderten mehr von Ideologien (Panslawismus, Orthodoxie, Kommunismus, die Vorstellung von Russland als Erbe des oströmischen Reiches etc.) als von realen geopolitischen Überlegungen gesteuert wurde. Wäre für Zar Nikolaus II. Krieg eine Komponente einer geostrategischen Realpolitik gewesen, wäre er niemals in den Ersten Weltkrieg eingetreten.

Der Große Bruder

An den laufenden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine ist natürlich die Ukraine schuld, genauso wie am Kampf zwischen einem Vergewaltiger und seinem Opfer das Opfer schuld ist. Natürlich würde der Täter gerne ohne Kampf und Gewalt alles bekommen, was er will, und nur der Widerstand der Frau führt zur Gewalt mit Körperverletzung als Folge. Auch die russische Regierung hat keinerlei Krieg geplant, und die offizielle russische Formulierung – eine „militärische Sonderoperation“ – war weder eine Lüge noch ein Euphemismus. Die Idee war, dass nach einer einmaligen Bombardierung v.a. der militärischen Ziele die russischen Militäreinheiten ohne Widerstand Kiew, Charkiw, Odessa und andere größere Städte einnehmen und dort Siegesparaden durchführen, dass die korrupte ukrainische Armee teilweise auseinanderläuft, teilweise auf die russische Seite wechselt, dass die Regierung Selenskyis flieht, dass die Bevölkerung den Russen mit Blumen begegnet und kniend um Verzeihung dafür bittet, dass sie ihre Russenangehörigkeit vergaß, eine von der westlichen Propaganda erfundene ukrainische Identität annahm und statt der edlen russischen eine nicht-existente „ukrainische“ Sprache benutzte.

Niemand hat diese Forderung besser verstanden als der Klassiker: „O furchtbares, unnötiges Missverständnis! O dumme, selbstverschuldete Flucht von der liebenden Brust! Zwei große, an Gin stinkende Tränen träufelten an den Seiten seiner Nase. Aber jetzt ist alles gut, jetzt ist alles in Ordnung, der Kampf ist zu Ende. Er hat sich selbst besiegt. Er liebt den Großen Bruder.” Wenn wir in diesem Schlussabsatz von Orwells „1984“ nur den Gin durch den ukrainischen Schnaps Gorilka ersetzen, bekommen wir die exakte Beschreibung der Einstellung, die das offizielle Russland von den Ukrainern erwartet.

Wir wissen aber, dass Winston Smith lange gefoltert wurde, bevor er zu dieser Erkenntnis kam. Auch der russischen Regierung war klar, dass nicht alle 40 Millionen Ukrainer sofort auf ihre Identität, ihre Kultur und ihre Eigenart verzichten. Diejenigen, die nicht bereit sind, ihre Sprache und ihre Kultur wegzuwerfen, das „unnötige Missverständnis“ aufzulösen und sich dem Großen Russischen Bruder mit Liebe unterzuordnen, müssen in Filtrationslagern zu Russen umerzogen werden, so wie die Moslems in China zu richtigen Chinesen umerzogen werden. Andere werden in die tiefen nordöstlichen Regionen Russlands deportiert. Die Minderheit, die nicht umerzogen werden kann, wird leider physisch eliminiert: Kollateralschaden der großen Politik. Nichts anders als die üblichen Methoden der russischen Nationalpolitik seit Beginn des 19.Jahrhunderts.

„Die Demarkationslinie verläuft nicht zwischen Russland und dem Westen, genauso wie die große ideologische Demarkationslinie im Zweiten Weltkrieg trotz Stalingrad nicht zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus verlief.“

Nach allem, was wir über die ausführlichen Gespräche zwischen Putin und westlichen Politikern wissen, erscheint höchst plausibel, dass Scholz, Macron und, wenn nicht Biden persönlich, so mindestens einige der höchsten Vertreter der US-amerikanischen Regierung von diesen Plänen gewusst und sie gebilligt haben – selbstverständlich nicht explizit; Diplomatie ist kein explizites Geschäft. Zumindest die drei größten westlichen Regierungen (die USA, Deutschland, Frankreich), wahrscheinlich aber auch die anderen, wussten alles und unternahmen nicht den geringsten Versuch, die bevorstehende Eroberung der Ukraine zu verhindern. Sie waren nicht weniger als Putin davon überzeugt, dass die Ukraine innerhalb weniger Tage auseinanderfällt und dass die russischen Offiziere, die an der Spitze der einmarschierenden Regimente stehen, in ihren Koffern ihre Paradeuniform mitbringen. Sie waren bereit, Selenskyi und Mitgliedern seines Kabinetts ein politisches Asyl zu gewährleisten, vielleicht sogar eine unbedeutende Exilregierung zu bilden mit einem Etat, der gerade ausreichen würde, um nicht zu verhungern.

Das kürzlich veröffentlichte Gespräch zwischen Putin und Macron unmittelbar vor Kriegsbeginn zeigt u.a., dass sich die beiden Gesprächspartner vollkommen im Klaren waren, dass die Kriegsgefahr ausschließlich von Russland ausgeht. Die in der russischen und der westlichen prorussischen Presse wiederholten Spekulationen über einen angeblich gerade bevorstehenden Angriff der Ukraine gegen Donezk, über die Gefahren der ukrainischen Biowaffenlabore usw., all diese Argumente für die russische Landbevölkerung und für die westlichen „nützlichen Idioten“ (Lenin), wurden im Gespräch zwischen den zwei Profis gar nicht erwähnt. Der Westen hat der Eroberung der Ukraine grünes Licht gegeben. Erst „das Wunder am Dnjepr“ Ende Februar/Anfang März veränderte die Situation.

Imperien gegen Nationen

Der Krieg ist keine „Hybris“. Er ist real und ernst, er besteht nicht aus Fernsehbildern, sondern Menschen – v.a. Zivilisten – werden in großen Massen getötet und vertrieben. Das passiert im wirklichen Leben und nicht in einem Propagandafilm. Genauso ernst und wirklich ist die klare ideologische Demarkationslinie zwischen den zwei unversöhnlichen politischen Konzepten. Nur verläuft diese Demarkationslinie nicht zwischen Russland und dem Westen, genauso wie die große ideologische Demarkationslinie im Zweiten Weltkrieg trotz Stalingrad nicht zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus verlief.4

Die zwei unversöhnlich gegenübereinander stehenden Seiten der momentanen Krise können als Imperialismus und demokratischer Nationalismus bezeichnet werden. Der letztere ist der Ansicht, dass die politische Welt v.a. aus großen Gruppen von Menschen besteht, die durch ein gemeinsames historisches Schicksal miteinander verbunden sind: Aus souveränen bürgerlichen Nationen, die in einem demokratischen Prozess über ihre Führer und ihren gemeinsamen politischen Kurs entscheiden. Unter anderem haben die Nationen das Recht, die bisherige Führung für schlecht und den bisherigen Kurs für fehlerhaft zu erklären und zu wechseln bzw. zu ändern.

„Der Imperialismus stellt sich im Augenblick v.a. in zwei Formen dar: in der prämodernen des russischen Imperialismus einerseits und als postmoderner Globalismus andererseits.“

Demgegenüber steht die Ansicht, dass nur gigantische supranationale Strukturen in der Lage seien, in der Welt effektiv zu agieren. Heute hören wir sehr oft das Argument, dass wir jetzt vor besonderen globalen Problemen stehen, die prinzipiell nicht auf der nationalen Ebene gelöst werden können, und dass deshalb die Vollmacht den globalen Strukturen übertragen werden sollte. Das Argument ist aber schon deshalb suspekt, weil die Idee der supranationalen Souveränität viel älter ist als der Globalismus; allein die im ersten Absatz angedeutete Donaumonarchie könnte ein Lied davon singen.

Der Imperialismus stellt sich im Augenblick v.a. in zwei Formen dar: in der prämodernen Form des russischen Imperialismus einerseits und als postmoderner Globalismus andererseits. Den russischen soll man übrigens nicht mit dem klassischen europäischen Imperialismus verwechseln, da in Russland im Gegensatz zu Westeuropa der klare Unterschied zwischen Metropolie und Kolonien fehlt (Alexander Etkind: „Russland ist Kolonie seiner selbst“), aber das sei dahingestellt. Gemeinsam haben sie die Voraussetzung, dass ein wichtiger politischer Akteur unbedingt groß und dick sein muss, dass nicht nur einzelne Individuen nichts bedeuten und massenweise geopfert werden können, sondern dass auch ganze Völker lediglich Bauern auf dem großen geostrategischen Schachbrett sind, die von globalen Kräften bewegt werden. Dieses Schachspiel wird von weisen und starken Menschen geführt, die wissen, wie man den Gang der Geschichte steuert. Im Gegensatz zum Nationalsozialismus wird das Führerprinzip zwar nicht explizit formuliert, aber Aussagen darüber, dass bestimmte Personen (z.B. Putin oder Bill Gates) außerordentliche Führungsqualitäten besitzen, fehlen weder im Westen noch in Russland.

Auf der einen Seite des ideologischen Konflikts stehen im Moment Russland, Deutschland, Frankreich, Italien, auf der anderen Seite die Ukraine, Polen, Großbritannien, baltische und skandinavische Länder und – nicht erschrecken – Ungarn. (Diese Verteilung kann sich natürlich mit jeder Neuwahl ändern.) Keiner hat wahrscheinlich ein besseres Gespür dafür als Boris Johnson, der schon am Tag nach dem Besuch der imperialen Troika Macron, Scholz und Draghi in Kiew alle Termine verlegt hat, um sich mit Selenskyi zu treffen.

„Die Kontroverse liegt daran, welches Imperium jeweils als die größere Gefahr und welches als das kleinere Übel angesehen wird.“

Die Positionen mehrerer anderer Länder sind schwer zu bestimmen. China hat seine eigene imperiale Politik und wird sich deshalb weder dem russischen noch dem westlichen Imperialismus anschließen, obwohl die beiden immer wieder Anspruch erheben, China auf der eigenen Seite zu sehen. In den USA haben zwar die globalistischen Kräfte eine starke Macht, aber es gibt auch sehr einflussreiche Politiker in den beiden großen Parteien, die befürchten, dass der eigene amerikanische Imperialismus im Globalismus aufgelöst werden könnte. Kanada kann sich wegen der traditionellen proukrainischen Stimmung im Volk keine antiukrainische Politik leisten, selbst wenn die Regierung dies wollte.

Wir sollen nicht der Versuchung erliegen, auf die Geschichte zurückzugreifen und z.B. die gegenwärtige antiukrainische Politik des ungarischen Präsidenten durch traditionelle Konflikte zwischen Ungarn und Ukrainern zu erklären. Traditionelle Konflikte zwischen Ukrainern und Polen waren noch schlimmer und reichten von konfessionellen Kriegen im 16. und 17. Jahrhundert bis zu gegenseitigen Massakern in der Mitte des 20. Jahrhunderts, und doch sind sie jetzt weitgehend beigelegt. Beide, Ukraine und Ungarn, haben das gleiche Ziel der Erhaltung und Stärkung der nationalen Souveränität angesichts der imperialen Bedrohungen. Die Kontroverse liegt daran, welches Imperium jeweils als die größere Gefahr und welches als das kleinere Übel angesehen wird.

Die Großreiche haben immer versucht, die Welt unter sich aufzuteilen, und immer scheiterten diese Pläne nach einer mehr oder weniger kurzen Zeitspanne. Der 24. Februar 2022 bestätigte lediglich, was schon der 24. Juni 1812 gezeigt hatte. Aber während die Tatsache, dass es zwischen Imperien keinen stabilen Frieden geben kann, sichere Prognosen erlaubt, kann niemand die Folgen ihres Konflikts vorhersagen. Ein Punkt, an dem der Westen und Russland zu einer Einigung bereit waren, bestand darin, dass die Ukraine in eine Art „südliches Finnland“ umorganisiert werden sollte: Innerlich unabhängig, aber in der Außenpolitik dem Kreml hörig. Indem jetzt Finnland in die Nato eintritt, zeichnet sich eine veränderte Verwirklichung dieses Plans ab: Nicht die Ukraine folgt der finnischen Neutralität, sondern Finnland schafft seine Neutralität ab. Das ist keine Ironie der Geschichte, sondern deren Sarkasmus.

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