01.09.2020

Aus Auschwitz gelernt?

Von Marcel Matthies

Titelbild

Foto: Bundesarchiv via Wikimedia / CC-BY-SA 3.0

Die erinnerungskulturelle Aufbereitung des Nationalsozialismus wird zunehmend genutzt, um demokratische Nationalstaaten abzuqualifizieren. Der Holocaust war aber kein Resultat von Nationalismus.

„Wenn Europa scheitert, scheitert auch das ‚Nie wieder!‘“, sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier jüngst anlässlich des 75. Jahrestags des Kriegsendes in Europa. „Heute müssen wir uns selbst befreien! Befreien von der Versuchung eines neuen Nationalismus. [...] Von Hass und Hetze, von Fremdenfeindlichkeit und Demokratieverachtung – denn sie sind doch nichts anderes als die alten bösen Geister in neuem Gewand.“

Die immer gleichen Formeln des ritualisierten Gedenkens bergen die Gefahr, blind für die Besonderheit des erinnerten Ereignisses zu werden. Auch eine Reflexion darauf, was im mystifizierenden Umgang mit der erstarrten Erinnerung an die Verbrechen der alten bösen Geister und der Warnung vor deren Wiederkehr dem Vergessen anheimfällt, ist blockiert. Denn Geschichtspolitik will weniger erklären als vielmehr ausstrahlen. Sie sagt mehr über die Gegenwart als über die Vergangenheit aus. Insbesondere zur Verteidigung des supranationalen EU-Projekts sowie bei der Migrations- und Bevölkerungspolitik bedient man sich einer aufbereiteten Holocaust-Erziehung, um eine Wesensgleichheit von neuem Nationalismus und Nationalsozialismus (NS) zu suggerieren.

Was sich im Schlüsselbegriff Auschwitz verdichtet, ist zur metaphysischen Quelle von Sinnstiftungsprozessen geworden: „Alle Demokratien haben eine Basis, einen Boden. Für Frankreich ist das 1789. Für die USA die Unabhängigkeitserklärung. Für Spanien der Spanische Bürgerkrieg. Nun, für Deutschland ist das Auschwitz. Das kann nur Auschwitz sein. Die Erinnerung an Auschwitz, das ‚Nie-mehr-Auschwitz‘“, so der damalige Bundesaußenminister Joschka Fischer im Jahr 1999, „kann in meinen Augen das einzige Fundament der neuen Berliner Republik sein.“ 1

„Man behauptet, dass Nationalstaat in Nationalismus und dieser wiederum in Auschwitz kulminiere.“

Seit Richard Weizsäckers am 8. Mai 1985 gehaltener Rede lässt sich beobachten, dass die an sich selbst adressierte Frage der Deutschen danach, was deutsch sei, zunächst zaghaft, inzwischen überwiegend bekenntnisfreudig mit Auschwitz beantwortet wird. Die Anteile der lange weitgehend verschüttet gebliebenen Vergangenheit bilden 75 Jahre nach der Kapitulation des Dritten Reichs ein zentrales Konstituens deutscher Identität, deren Selbstverständnis sich auch aus dem „Glauben an eine besondere moralische Auserwähltheit“ speist. Mit der Dominanz Deutschlands in der EU dehnt sich der Geltungsanspruch der Großen Lehre von Auschwitz auf die supranationale Ebene aus. Der „Zivilisationsbruch Auschwitz“ 2 ist nationales Masternarrativ geworden und soll zum Gründungsmythos der EU avancieren.

Von Auschwitz zur EU

Der Idealismus des EU-Projekts bricht mit dem Pragmatismus der Vorläuferorganisationen EGKS, EWG und EG. So wird die Idealisierung des Supranationalen zur Rechtfertigungsstrategie für die europäische Einigung. Man behauptet, dass Nationalstaat in Nationalismus und dieser wiederum in Auschwitz kulminiere.

Der mit unzähligen Preisen überschüttete Schriftsteller Robert Menasse führt meisterhaft vor, wie sich der Nationalstaat dämonisieren lässt: „Die Ideologie der selbstbestimmten, selbstbewussten, selbstherrlichen Nation, die Dynamik des Nationalismus, die ‚Erbfeindschaft‘ zwischen den Nationen, der Versuch, ‚nationale Interessen‘ gegen andere Nationen mit aller Gewalt durchzusetzen, hatten Abermillionen Menschen das Leben gekostet, unendliches Leid über die Lebenden gebracht und in einer Kulmination des entfesselten Nationalismus zu jenem grauenhaften Menschheitsverbrechen geführt, für das Auschwitz heute als Chiffre steht.“ 3

Menasses kreatives Verhältnis zur Geschichte unterstellt eine sinnstiftende Kausalität zwischen dem millionenfachen Mord, der Errichtung der EWG-Kommission und der Abschaffung von Nationalstaaten: „Der Ausgangspunkt ist ‚Nie wieder Auschwitz.’ Der erste Vorsitzende der Kommission war Walter Hallstein. Seine Antrittsrede hielt er in Auschwitz. Dass die Europäische Kommission die Antwort auf Auschwitz ist, wird in Deutschland oft vergessen.“ Wahrheitswidrig erklärt er in verschiedenen Interviews und Reden den ehemaligen Vernichtungsschauplatz zum Gründungsort europäischer Einigung. Hallstein war zwar Präsident der ersten EWG-Kommission im Jahr 1958, hat aber nie eine Rede in Auschwitz gehalten. Die Todesfabrik Auschwitz nachträglich zum initialen Gründungsmoment der Europäischen Kommission zu machen, zeugt nicht nur von einem instrumentellen Geschichtsverständnis, sondern soll der Sinnlosigkeit millionenfach anonym und kollektiv hingemordeter Juden nachträglich einen zweifelhaften Sinn abpressen.

„Für den Nationalsozialismus ist die Destruktion des Nationalitätsprinzips konstitutiv.“

Der Österreicher Menasse ist der Prototyp des engagierten EU-Literaten: Zur Erschaffung eines supranationalen Topos verknüpft der „Öffentlichkeitsarbeiter des schlechten Allgemeinen“ die Sehnsucht nach Überwindung der Nationalstaaten mit einer aus Auschwitz abgeleiteten Poetik postmoderner Politisierung. Da weder der Rat der EU noch die Europäische Kommission demokratisch ausreichend legitimiert sind, bedarf es der Anwendung anderer Mittel, um die EU politisch zu begründen. Um nachträglich ein Legitimationsnarrativ der EU zu erfinden, verfälscht Menasse deren Entstehungsgeschichte. Kennzeichnend für Menasses forcierten Anti-Nationalismus ist laut Heinrich August Winkler dessen „Ausfluss einer postfaktischen Geschichtsbetrachtung“: Indem Menasse mit seiner Komplizin Ulrike Guérot dem längst verstobenen CDU-Politiker Walter Hallstein frei erfundene Zitate in den Mund legt, stilisieren sie ihn zum Messias, dessen verkündete Botschaft, die Nation sei um jeden Preis abzuschaffen, durch die Aura von Auschwitz einen geschichtsphilosophischen Anstrich erhält. In einem Roman ist diese Form der Fiktionalisierung grundsätzlich legitim. In der politischen Debatte hingegen verkommt der Versuch, Fiktionen als Fakten aufzubereiten, zum hochideologischen Bewusstseinsschrott.

Nationalismus, Supranationalismus und Nationalsozialismus

„Wenn wir – entgegen dem inneren Wert unseres Volkes – keine analoge Bedeutung in der Welt hatten, so, weil nicht lächerliche kleine Stämme, Ländchen, Staatsgebilde oder Dynastien welterobernd auftreten können, sondern nur Rassen. Rasse müssen wir aber – zumindest im bewussten Sinne – erst werden.“ (Adolf Hitler) 4

Hitler gibt „Staatsgebilde“ – und damit sowohl National- als auch Vielvölkerstaaten – der Lächerlichkeit preis. 5 Im obigen Zitat kommt die genuin übernationale Ausrichtung des NS präzise zum Ausdruck, denn für den NS ist – anknüpfend an die Überlegungen der politischen Theoretikerin Hannah Arendt – die Destruktion des Nationalitätsprinzips konstitutiv: „Die Nazis haben ihre ursprüngliche Verachtung des Nationalismus, ihre Geringschätzung des Nationalstaats [...] niemals widerrufen; dafür sind sie nicht müde geworden, zu betonen, dass ihre ‚Bewegung‘ [...] internationale Ausmaße und Bedeutung habe und als solche wichtiger sei als jeder, auch der eigene Staat, der seinem Wesen nach an ein bestimmtes begrenztes Territorium gebunden ist.“ 6

Der NS ist von apokalyptischen Phantasmagorien einer Weltpolitik durchdrungen. Die Erschaffung eines Weltreichs und die Brechung des „jüdischen Weltkomplotts“ sind die erklärten Ziele. Sonst drohe der Untergang. Das organisierte Chaos erzwingt die permanente Mobilisierung der Massen. Der Unstaat ersetzt den Staat. Das Chaos zerstört die Ordnung. Wahn bringt Wirklichkeit hervor. Der radikale Bruch mit der abendländischen Dekadenz soll eine neue Zeit einläuten. Der „Supranationalismus der Antisemiten“ bereitet laut Arendt den Weg, um „den Nationalstaat durch eine supranationale völkische Organisation abzulösen [...].“ 7 Der zum Gesetz der Natur erklärte Kampf der Rassen ist keine Frage der Nationalitäten: 8 „Erst wenn man den [Nazi-]Faschismus als eine gegen die Nation gerichtete internationale Bewegung begriffen hat“, so Arendt, „wird verständlich, warum die Nazis, die, was das Wohl ihres Volkes anbelangte, weder von nationalen Gefühlsregungen noch von menschlichen Skrupeln geplagt wurden, sondern mit beispielloser Kaltblütigkeit handelten, ihr Land in ein Chaos stürzen ließen.“ 9

„Nationalsozialismus = Revolutionsbewegung + Supranationalismus + Erlösungsantisemitismus.“

Interessanterweise verliert der Nationalismus schon in den 1920er Jahren in Mittelost- und Südosteuropa seine Faszinationskraft im Bewusstsein der Massen wie der Eliten, auch weil die Heilige Schrift des Antisemitismus „Die Protokolle der Weisen von Zion“ sowie ihr „durchweg antinationaler Tenor und ihre quasi-anarchistische Ablehnung des Staates“ 10 eine bahnbrechende Wirkung entfalten. Der Antisemitismus nimmt laut Saul Friedländer einen übernationalen Charakter an: „Wenn die jüdische Bedrohung übernational war, dann musste der Kampf gegen sie ebenfalls global werden und durfte keine Kompromisse machen.“ 11

An der Phantasmagorie des Komplotts einer jüdisch-plutokratisch-bolschewistischen Weltpolitik entzünden sich laut Arendt die Triebkräfte totaler Destruktion. Die NS-Bewegung ahmt die den Juden unterstellte Organisationsstruktur zur Lenkung der Weltpolitik nach: „Die Nazis begannen mit der ideologischen Fiktion einer Weltverschwörung und organisierten sich mehr oder weniger bewusst nach dem Modell der fiktiven Geheimgesellschaft der Weisen von Zion.“ 12 Der wahnhaft geführte Krieg gegen die jüdische Weltherrschaft verhilft dem übernationalen Rasse-Ideologem zu einem Schub, stellt doch nicht mehr – wie noch im Ersten Weltkrieg – die Nationalität, sondern die Rasse den Fixpunkt kollektiver Zugehörigkeit dar. Das erklärt auch, warum Arendt zufolge „die Nationalsozialisten niemals einfach Nationalisten waren und sich [vielmehr] nationalistischer Schlagworte nur bedienten, um für eine Übergangszeit auch aus den traditionell gebundenen Kreisen der Bevölkerung Mitläufer zu gewinnen.“ 13

Die Vernichtung der Juden ist zwar von Deutschen angeordnet und gemeinsam mit Angehörigen kooperativer Hilfsvölker durchgeführt worden, jedoch nur sehr bedingt als Ausgeburt des Nationalismus zu fassen. Denn der NS war als monströse Bewegung zur Erschaffung einer neuen Ordnung offen für Angehörige vieler Nationalitäten, sofern eine ‚passende‘ Abstammung nachweisbar war. Wer das allgemeine Verständnis von politischer Gewalt des Dritten Reichs mit Nationalismus kurzschließt, verkennt das Wesen des NS grundlegend, das deutlich mehr übernationale als nationale Elemente in sich vereint. So ergibt sich folgende Formel: NS = Revolutionsbewegung + Supranationalismus + Erlösungsantisemitismus.

Das Dritte Reich und der Zerfall staatlicher Herrschaft

In Thomas Hobbes‘ Staatsphilosophie verkörpern die der jüdischen Eschatologie entnommenen Ungeheuer Leviathan und Behemoth zwei entgegengesetzte Prinzipien. Der Leviathan steht für die Überwindung des Naturzustands (bellum omnium contra omnes) infolge der Monopolisierung von politischer Gewalt im Souverän. Der Politologe Franz L. Neumann fasst Hobbes‘ staatstheoretisches Hauptwerk „Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens“ (1651) als Analyse eines „politischen Zwangssystems, in dem Reste der Herrschaft des Gesetzes und von individuellen Rechten noch bewahrt sind.“ 14 Dagegen schildert Hobbes in „Behemoth oder Das lange Parlament“ (1668) den Rückfall in den Naturzustand. An diesen Befund knüpft Neumann in seiner Analyse der Struktur und Praxis des NS an: „Da wir glauben, dass der Nationalsozialismus ein Unstaat ist oder sich dazu entwickelt, ein Chaos, eine Herrschaft der Gesetzlosigkeit und Anarchie, welche die Rechte wie die Würde des Menschen ‚verschlungen‘ hat und dabei ist, die Welt durch die Obergewalt über riesige Landmassen in ein Chaos zu verwandeln, scheint uns dies der richtige Name für das nationalsozialistische System: DER BEHEMOTH.“ 15

Kennzeichnend für die moderne Herrschaftsform des liberalen Nationalstaats ist die Einheit von monopolisierter Gewalt, kontrolliert und ausbalanciert durch Teilung in Judikative, Legislative und Exekutive. Dagegen geht die Errichtung totaler Herrschaft mit dem Zerfall staatlicher Souveränität einher. Deutlich erkennbar ist dies am Pluralismus total gewordener Herrschaft im Dritten Reich. Kennzeichnend für den Pluralismus totaler Herrschaft war das Kompetenzwirrwarr zwischen rivalisierenden Verbänden und Organisationen innerhalb der zur Improvisation neigenden NS-Bewegung. Dieses spezifische Merkmal des Dritten Reichs bezeichnet Franz L. Neumann als „äußerste Formlosigkeit“. 16 Er spricht auch von „der nationalsozialistischen Denunziation des Staates“. 17

„Das Dritte Reich negiert Grenzsetzungen aller Art: sowohl territoriale als auch die der instrumentellen Vernunft.“

Das Dritte Reich negiert Grenzsetzungen aller Art: sowohl territoriale als auch die der instrumentellen Vernunft. Der „Triumph des Willens“ geht so weit, dass sich damit sogar das Prinzip der Selbsterhaltung außer Kraft setzen lässt, hat es für die Nazis doch mehr Priorität, „die Vernichtungsfabriken in Betrieb zu halten als den Krieg zu gewinnen.“ 18

An Goebbels‘ 1940 in Prag gehaltener Rede ist ablesbar, dass der NS eine geostrategische Großraumpolitik jenseits von Nationalstaatlichkeit verfolgte: „Ich bin überzeugt, in 50 Jahren wird man nicht mehr nur in Ländern denken [...], und es wird nicht mehr viel von ihnen übriggeblieben sein, man wird dann auch in Kontinenten denken [...]. [...] Dann wird unser großes volksstarkes Reich neben Italien praktisch die Führung Europas übernehmen. [...] Das heißt also für Sie: Sie sind jetzt schon ein Glied eines großen Reiches, das sich eben anschickt, Europa eine neue Ordnung zu geben. Es will die Schranken, die die europäischen Völker noch voneinander trennen, niederreißen und ihnen den Weg zu einander ebnen.“ 19

Deshalb definiert Neumann die für die Strukturlosigkeit der NS-Herrschaft typische Zersplitterung politischer Herrschaft als Unstaat: „Die Lehre von der Oberhoheit des Staates musste in Deutschland verworfen werden, weil die Ansprüche der Partei mit denen des Staates konfligierten.“ 20 Zur Begriffsbildung ist es daher vonnöten, zwischen der einheitlichen Herrschaftsform des Nationalstaats und der zersplitterten Pluralität von Herrschaft im NS nicht graduell, sondern prinzipiell zu unterscheiden: 21

„Was aber ist nun die Struktur des Nationalsozialismus, wenn es sich nicht um einen Staat handelt? Ich wage zu behaupten, dass wir es mit einer Gesellschaftsform zu tun haben, in der die herrschenden Gruppen die übrige Bevölkerung direkt kontrollieren – ohne die Vermittlung durch den wenigstens rationalen, bisher als Staat bekannten Zwangsapparat.“ 22

„Der Nationalsozialismus war eine Bewegung, deren Organisationsnetz Vorrang gegenüber institutionalisierten Formen staatlicher Herrschaft hatte.“

Übereinstimmend mit Neumanns Befund stellt auch Arendt totale Herrschaft als „strukturlos“ heraus und weist darauf hin, „dass jegliche gesetzliche oder staatliche Struktur für eine immer schneller in eine bestimmte Richtung sich bewegende Bewegung nur ein Hindernis ist.“ 23 Zweifellos war quasi-religiöser Nationalismus treibende Kraft für die Entfesselung des Ersten Weltkriegs. Indessen sperrt sich eine Analyse des Zweiten Weltkriegs gegen diese Deutungsschablone. Zwar ist der NS der Ordnung eines Nationalstaats entsprungen. Daraus jedoch abzuleiten, das Dritte Reich sei in eine staatliche Organisationsform eingebettet, geht an der Sache vorbei, zumal „es mehr als fragwürdig ist“, so Neumann, „Deutschland [gemeint ist das Dritte Reich] als Staat zu bezeichnen. Viel eher handelt es sich um eine Bande [...].“ 24 Der NS war eine Bewegung, deren Organisationsnetz Vorrang gegenüber institutionalisierten Formen staatlicher Herrschaft hatte. Um eine nie dagewesene Ordnung zu errichten, herrschte ein Zustand der Gesetzlosigkeit (Arisierung, Folter, Verfolgung, Zwangsarbeit, Vernichtung).

Fazit

Wer das Gewaltmonopol des Staates mit totalitärer Herrschaft identifiziert, ignoriert, dass totalitäre Herrschaft nicht mit den Kategorien nationalstaatlicher Herrschaft vereinbar ist, sondern in ausdrücklicher Gegnerschaft zum bürgerlichen Nationalstaat entwickelt und verwirklicht wird. Es handelt sich um ein Versagen politischen Denkens, zumal Rechtsstaatlichkeit in der Regel vor dem nicht begrenzbaren, totalitären Herrschaftsanspruch schützt. Doch die Fähigkeit, zwischen Rechtsstaat und Regime, Demokratie und Despotie, Ungerechtigkeit und Unrecht unterscheiden zu können, löst sich schleichend auf.

Die Gültigkeit demokratisch-rechtsstaatlicher Prinzipien westlicher Provenienz ist als historische Errungenschaft gegen diejenigen zu verteidigen, deren oberstes Ziel es ist, das Minimum an formaler Freiheit und Gleichheit abzuschaffen, auf deren Erhalt auch kritisches Denken angewiesen ist. Wenn sich überhaupt etwas aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts lernen lässt, dann ist es vielleicht die Einsicht darin, dass es weitaus Schlimmeres als das Bestehen von durch Nationalstaat und Verfassung garantierte Freiheits- und Minderheitenrechte gibt.

So wenig die Chiffre Auschwitz für die Legitimation der EU geeignet ist, so verkürzt ist es, das innere Wesen des NS zum originär nationalistischen Projekt zu erklären oder zum Anlass für eine unspezifische Staats- und Zivilisationskritik zu nehmen. Obwohl diese Übervereinfachungen in Schulen, Universitäten und Massenmedien weitgehend Konsens sind, lässt sich festhalten, dass der pathetische Verweis, aus Auschwitz gelernt zu haben, nolens volens das Gegenteil beweist: die Unmöglichkeit der Sinngebung des vollendet Sinnlosen. Wer glaubt, es sei etwas zu Erlernendes, andere Menschen nicht millionenfach in Erschießungsgruben, Gaswagen und Gaskammern auszurotten, hat nicht das Geringste von der Dynamik der Barbarei verstanden.

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