27.02.2019

Die fiktive Geschichte der EU

Von Sabine Beppler-Spahl

Der Autor Robert Menasse beging Fälschungen, um die Gründungsgeschichte der EU in ein positiveres Licht zu rücken. Er und seine Anhänger möchten, dass die EU Nationalstaaten und Demokratie überwindet.

Der in Wien geborene Schriftsteller Robert Menasse ist ein talentierter Geschichtenerzähler und Verbreiter von EU-Mythen. In den Feuilletons hochgelobt wurde sein Roman „Die Hauptstadt“, für den er 2017 den Deutschen Buchpreis erhielt. Vom weltweit ersten EU-Roman, der elegant geschrieben, fabelhaft aufgebaut sowie pointen- und gedankenreich sei, schrieb z.B. Die Zeit.

Doch im Januar, als Menasse eine weitere hohe Auszeichnung des Landes Rheinland-Pfalz verliehen wurde, tauchten erneut Vorwürfe auf, er habe in mehreren Texten falsche Zitate und Unwahrheiten verwendet. Die Falschaussagen beziehen sich auf den deutschen Politiker Walter Hallstein, nach dem Zweiten Weltkrieg Mitglied der CDU. Als Staatssekretär im Auswärtigen Amt war er einer der Initiatoren des frühen europäischen Einigungsprojektes – und 1958 der erste Vorsitzende der EWG-Kommission. Wie auch sein Vorgesetzter, Bundeskanzler Konrad Adenauer, war Hallstein Pragmatiker. Seine Karriere hatte während der Nazizeit wenig gelitten (er hatte zwar nicht der NSDAP, aber diversen anderen NS-Organisationen angehört). Der damalige Oppositionsführer Kurt Schumacher (SPD), der fast die gesamte Nazi-Zeit im KZ verbracht hatte und ein scharfer Kritiker des frühen Einigungsprozesses war, bezeichnete ihn als einen demokratiefeindlichen Funktionär, dem die Interessen der arbeitenden Menschen im eigenen Land egal waren.  1

Menasse aber stellte Hallstein in seinem Roman sowie in zahlreichen Vorträgen und Essays als reformierten Visionär dar. Nach zwei Weltkriegen habe der Politiker erkannt, dass die Ursache allen Übels in Europa der Nationalstaat sei. Um diese Botschaft zu unterstreichen, erfand er Zitate, die er Hallstein zuschrieb, wie z.B.: „Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee!“. Dieses Zitat findet sich u.a. in einem „Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik“, das Menasse gemeinsam mit der Pro-EU Aktivistin und Politologin Ulrike Guérot 2013 verfasste.

„Menasse behauptete wahrheitswidrig, dass Walter Hallstein seine Antrittsrede als EWG-Vorsitzender in Auschwitz gehalten hatte.“

In einem Interview von 2017 behauptete der Autor zudem wahrheitswidrig, dass Hallstein seine Antrittsrede als EWG-Vorsitzender in Auschwitz gehalten hatte: „Es ist einfach so, dass Auschwitz der Ort ist, an dem sich die kriminelle Energie von Nationalismus und Rassismus am radikalsten gezeigt hat […]. Und eben deshalb hielt der erste Präsident der Europäischen Kommission, Walter Hallstein, seine Antrittsrede in Auschwitz. Das ist heute vergessen […].“

Menasses Anhängern, entschiedenen EU-Befürwortern, zufolge habe er zwar einen Fehler begangen, indem er die Fakten fälschte, aber immerhin gute Absichten verfolgt. „Freispruch für Menasse“ titelte z.B. der Freitag. „Über diesen philologischen Fragestellungen droht vergessen zu werden, worum es Robert Menasse geht: um die fundamentale Frage, ob Europa nur mit oder nur ohne die Nationalstaaten eine Zukunft hat.“, schreibt der Politikwissenschaftler Winfried Böttcher.

In einer Pressemitteilung der Staatskanzlei in Mainz, die Menasse im Januar die Carl-Zuckmayer Medaille verlieh, schreibt die Ministerpräsidentin Malu Dreyer: „Robert Menasse hat sich große Verdienste um die deutsche Sprache erworben, er hat in den vergangenen Jahren ein beeindruckendes literarisches Gesamtwerk geschaffen, für das er zurecht große Anerkennung erhält. Sein engagiertes Streiten für die europäische Idee trifft europaweit auf große Resonanz und hat die politische Debatte um die Zukunft der Europäischen Union sehr bereichert.“

„Menasse wurde das literarische Gesicht der EU-Ideologie.“

Menasse ist ein talentierter Schriftsteller. Aber was ihn wirklich auszeichnet, was so viele seiner Verteidiger dazu bringt, über seine Geschichtsfälschungen hinwegzusehen, ist, dass er das literarische Gesicht der EU-Ideologie und ihres Gründungsmythos wurde. Er propagiert die Idee der EU als Friedensprojekt, die uns immer wieder nahegebracht wird. Auch sein Fantasiebild von Walter Hallstein als eines friedliebenden Visionärs entstammt direkt der EU-Geschichtsschreibung. So erinnert z.B. ein Text auf deren Internetpräsenz an die Gründungsväter, zu denen auch Hallstein gehört. Dort heißt es: „Ohne ihre Energie und ihren Willen würden wir nicht in dem Raum des Friedens und der Stabilität leben, den wir heute für selbstverständlich halten“.

Menasse hat diese Mythen auf elegante Weise ausgeschmückt und ergänzt. Die relative Stärke der Pro-EU-Lobby unter den kulturellen Eliten hat es ihm erleichtert, damit so lange durchzukommen – trotz der Unwahrscheinlichkeit seiner Behauptungen. Die Vorstellung, dass ein Karrierepolitiker wie Hallstein Auschwitz genutzt haben soll, um die europäische Einigung in den 1950er Jahren zu legitimieren, ist seltsam. Wie der Journalist Ingo Way in der Wochenzeitung Jüdische Allgemeine schreibt, spielte Auschwitz für die Gründerväter der EWG nie eine besonders wichtige Rolle.

Diese Instrumentalisierung von Auschwitz, um der eigenen Position in einer heutigen politischen Debatte moralisches Gewicht zu verleihen, „sei perfide“, schreibt Way. Es sei auch ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die aus Auschwitz ganz andere Schlüsse gezogen haben, als dass die Nation überwunden werden müsste: „Der israelische Nationalstaat wurde drei Jahre nach diesem Menschheitsverbrechen gegründet, nicht nur, aber eben auch als Reaktion darauf – damit sich Ähnliches nicht wiederhole.“

„Viele Menasse-Unterstützer nehmen seine offen antidemokratische Rhetorik mit großer Nonchalance hin.“

Ebenso unglaubwürdig ist die Vorstellung, dass die Nachkriegsgeneration, deren Ziel es war, Westdeutschland (die neue Bundesrepublik) wieder aufzubauen, den Nationalstaat überwinden wollte. Im Jahr 2017, als Menasse den Deutschen Buchpreis erhielt, schrieb der Historiker Heinrich August Winkler im Spiegel einen Beitrag mit der Überschrift: „Europas Falsche Freunde“. Schon dort heißt es, dass die Lesart vom antinationalen EU-Vorkämpfer Hallstein eine Legende sei. In keiner der Reden und Schriften Hallsteins sei der Satz zu finden: „Ziel ist und bleibt die Überwindung der Nation und die Organisation eines nachnationalen Europa.“ (Ein weiteres von Menasses erfundenen Zitaten). Ganz im Gegenteil habe die Abschaffung der Nationen nicht in der Absicht Hallsteins und anderer Wegbereiter der Europäischen Union gelegen, so Winkler.

Neben den geschichtlichen Fälschungen wäre noch ein weiteres zu erwähnen: Erstaunlich ist, mit welcher Nonchalance viele Menasse-Unterstützer seine offen antidemokratische Rhetorik hinnehmen. Faktum sei, dass demokratische Standards, die in den Nationalstaaten erreicht waren, auf supranationaler Ebene verloren gingen, wenn nicht sogar bewusst preisgegeben wurden, schreibt er in einem seiner Essays. Gleichzeitig aber dünkt ihm das als nützlich: Man müsse vielleicht bereit sein „zuzugeben, dass es heute ein Fortschritt, ein Befreiungsschritt ist, wenn über die Rahmenbedingungen unseres Lebens eben nicht mehr wesentlich durch Volkswahlen abgestimmt wird.“, schreibt er. Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger war einer der wenigen führenden kulturellen Persönlichkeiten, die Menasses Rückständigkeit schon früh – lange vor dem jüngsten Skandal – kritisiert haben. Mit dieser Aussage Menasses sei das Problem der EU benannt, so Enzensberger. Was euphemistisch als „demokratisches Defizit“ bezeichnet werde, sei in Wirklichkeit eine durchaus beabsichtigte Grundsatzentscheidung.  2

„Die Abscheu vor dem Nationalismus geht mit einer Abscheu vor der Demokratie und der Wahrheit einher.“

An anderer Stelle, in seinem Essay „Der europäische Landbote“, schreibt Menasse: „Wir müssen stoßen, was ohnehin fallen wird, wenn das europäische Projekt gelingt. Wir müssen dieses letzte Tabu der aufgeklärten Gesellschaften brechen: dass unsere Demokratie ein heiliges Gut ist.“ Man möge sich ausmalen, welche Debatte wir führen würden, wenn ein AfD-Publizist einen solchen Satz von sich gegeben hätte, so Journalist Jacques Schuster in der Welt. In seiner verwirrenden und inkohärenten Verteidigung, die ebenfalls in der Welt abgedruckt wurde, präsentiert sich der Autor als Opfer: „Aber warum sind die Begriffe plötzlich so groß, mit denen einem Schriftsteller zugesetzt wird? Warum wird gleich mit ‚Fälschung‘ und ‚Betrug‘ operiert?“, fragt er. Er selbst spricht lieber – ganz im orwellianischen Stil – von einer „zu starken Dehnung des Denkbaren, Möglichen.“ Jeder politische Standpunkt, so Menasse, habe politische Gegner. In Hinblick auf die Europapolitik hießen diese Gegner Nationalisten.

Was lehrt uns der Menasse-Skandal? Zumindest eines: Dass die Abscheu vor dem Nationalismus, wie sie von vielen selbst ernannten Progressiven propagiert wird, mit einer Abscheu vor der Demokratie und der Wahrheit einhergeht.

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