03.07.2017

Von Zweien, die sich gesucht und gefunden haben

Analyse von Tamar Kogman

Titelbild

greensefa via Flickr / CC BY 2.0

Wie EU und NGOs unter dem Etikett der repräsentativen Demokratie eine exklusive Echokammer bilden

Seit mehr als 20 Jahren kämpft die EU mit wachsender Unpopularität. Es scheint, als würde die Hauptstrategie der Problembekämpfung in der Verstärkung der Bindung zur „Zivilgesellschaft“ 1 liegen. Während „Zivilgesellschaft“ eigentlich ein breit gefächertes Konzept meint, das für gewöhnlich mit basisdemokratischer Regierungsteilhabe assoziiert wird, wird es allzu häufig auf das Tun von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) reduziert. NGOs sind zumeist hoch professionalisiert, wohletabliert und via transnationaler Interessennetzwerke gut vernetzt – das gilt vor allem für den EU-Zusammenhang.

Im Jahr 2000 gab die Europäische Kommission ein Diskussionspapier zur Frage heraus, wie sie ihre Zusammenarbeit mit NGOs bewertet. Es trägt den Titel „The Commission and Non-Governmental Organisations: Building a Stronger Partnership”. Wie es in dem Papier heißt, „werden NGOs zunehmend als signifikanter Bestandteil der Zivilgesellschaft und als wertvoller Unterstützer des demokratischen Regierungssystems wahrgenommen. Regierungen und internationale Organisationen schenken diesen mehr Beachtung und involvieren sie in den politischen Entscheidungsprozess.“

Das Papier geht einfach davon aus, dass NGOs eine ausgleichende Wirkung hätten, die die Schwachen und Unterrepräsentierten „empowern“ – ermächtigen – würde, ohne dies empirisch belegen zu können: „Insbesondere haben NGOs die Fähigkeit, die Ärmsten und am stärksten Benachteiligten zu erreichen und denen eine Stimme zu geben, deren Stimmen auf keinen anderen Kanälen auszumachen sind (…). Unter Umständen können sie die Taten und Meinungen anderer gesellschaftlicher Interessengruppen aufwiegen.“

„NGOs erhalten Hilfestellungen und finanzielle Zuwendungen von EU-Institutionen – alles zuliebe eines ‚demokratischeren Regierungssystems‘.“

Die im Jahr 2000 in diesem Impulspapier vorgebrachten Grundannahmen stellt die EU bis heute nicht in Frage. In der Folge erhalten NGOs Hilfestellungen und finanzielle Zuwendungen von EU-Institutionen – alles zuliebe eines „demokratischeren Regierungssystems“. Das in Jerusalem ansässige Forschungsinstitut NGO Monitor hat die praktischen und ethischen Implikationen dieser Annahmen und Praktiken untersucht. Die Ergebnisse werden im Folgenden dargestellt.

Zentralisierte Zivilgesellschaft

Zwar wird das zivilgesellschaftliche Engagement der EU mit erhöhter demokratischer Repräsentation begründet, die Finanzierungskennziffern zeigen jedoch ein hohes Maß an Zentralisierung bei den Zahlungsempfängern zugunsten einer kleinen Anzahl ähnlich tickender NGOs aus wenigen Mitgliedsstaaten. Diese beschränkte Verteilung führt zu einer verzerrten Repräsentation der Zivilgesellschaft auf EU-Ebene, die nicht zwangsläufig das öffentliche Interesse widerspiegelt. Die Rede von der „Unterstützung eines demokratischen Führungssystems“ erweist sich so als haltlos.

Eine Studie mit dem Titel „Demokratische Verantwortlichkeit und Haushaltkontrolle der vom EU-Haushalt finanzierten Nichtregierungsorganisationen“, die 2016 vom Europäischen Parlament (EP) in Auftrag gegeben wurde, fand heraus, dass von den 610 Millionen Euro, die 2015 den obersten 28 EU-Empfängern bewilligt wurden, allein fast 40 Prozent an NGOs aus lediglich zwei Mitgliedsstaaten (Dänemark und Großbritannien) gingen. Erstaunlicherweise wurden dem Europäischen Parlament zufolge nahezu 60 Prozent der EU-Gelder, die 2015 für Umwelt-, Sozial-, Gesundheits- und Menschenrechtsprogramme bereitgestellt wurden, an nur 20 NGOs verteilt.

„Finanzierungskennziffern zeigen ein hohes Maß an Zentralisierung bei den Zahlungsempfängern zugunsten einer kleinen Anzahl ähnlich tickender NGOs.“

Das komplizierte Beziehungsgeflecht unter führenden EU-Zuwendungsempfängern zeigt, dass Zentralisierung auf noch tieferen Ebenen stattfindet; so gehören manche NGOs doppelt oder dreifach sich überlappenden NGO-Netzwerken an. Die vielleicht größten europäischen NGO-Netzwerke sind CONCORD und VOICE – zwei europäische NGO-Bündnisse für Entwicklung respektive humanitäre Hilfe, die beide regelmäßig EU-Gelder erhalten und sich als „Hauptgesprächspartner der EU“ in ihren jeweiligen Bereichen verstehen. Die Mitglieder von CONCORD sind selbst auch internationale NGO-Netzwerke, wie Oxfam, CIDSE, Caritas Europa und CARE International, oder nationale NGO-Netzwerke wie VENRO (Deutschland) und Dochas (Irland).

Beispielhaft für den Vernetzungsgrad der EU-Begünstigten ist die irisch-katholische Hilfsorganisation und regelmäßige EU-Zahlungsempfängerin Trócaire, die zusätzlich zu ihrer Mitgliedschaft bei VOICE Mitglied in drei CONCORD Netzwerken ist: Caritas Europa, CIDSE und Dochas. Mit Ausnahme von CIDSE erhalten alle EU-Gelder.

Das Konzept demokratischer Repräsentation verliert weiterhin an Geltung angesichts der Tatsache, dass der Großteil der EU-Gelder für ausländische Tätigkeiten vorgesehen ist. So heißt es im Diskussionspapier der Kommission aus dem Jahre 2000: „Der Großteil der NGO-Projekte findet statt im Bereich der Auslandsbeziehungen für Entwicklungskooperation, Menschenrechte, Demokratieprogramme und insbesondere humanitäre Hilfe.“ Entsprechend befand eine EP-Studie aus dem Jahre 2016, dass fast 100 Prozent der Finanzierungszusagen, die mit den 28 größten EU-NGO-Nutznießern 2015 vereinbart wurden, „von Abteilungen der EC [European Commission], die Auslandsangelegenheiten behandeln, kommen.“ Folglich wird durch die Zentralisierung der Repräsentation mittels NGOs auf EU-Ebene eine Politik beeinflusst, die einen bedeutenden internationalen Effekt zeitigt – und nichts mit demokratischer Repräsentation zu tun hat.

„Ein Großteil der EU-Gelder ist für ausländische Tätigkeiten vorgesehen.“

NGOs und EU-Politik

Für die Auslandstätigkeiten der EU kommen NGOs als Dienstleister und in ihrer Funktion als Umsetzer von Politik infrage. Gleichzeitig konsultiert die EU NGOs und verlässt sich auf deren Sachinformationen und Analyse, worauf wiederum die Ausgestaltung ihrer Politik angepasst wird. Obwohl NGOs aufgrund ihrer Position als mögliche Implementierer ein unmittelbares Interesse an der Politikgestaltung haben, wird ihre Glaubwürdigkeit als Informationsquelle von der EU weder methodisch verifiziert noch hinterfragt.

Um ein Beispiel zu nennen: Der „2016 Humanitarian Implementation Plan for the Palestinian Territories“ der European Civil Protection And Humanitarian Aid Operations (ECHO) der Europäischen Kommission vertraut explizit ausführenden NGOs mit der Einschätzung humanitärer Notlagen:

„Die dem im Juli 2014 stattfindenden Gazakrieg vorgängige ECHO-Analyse hob hervor, dass trotz der Verschlechterung der allgemeinen Lage konventionelle humanitäre Indikatoren über dem regionalem Notfallsdurchschnitt lagen. Da die zurzeit in Palästina eingesetzten Instrumente zur Ermittlung der Bedürftigkeit immer noch nicht ausreichend kontextualisiert worden sind, um humanitäre Programme besser zu informieren (…) hat sich ECHO dafür eingesetzt und sowohl technisch als auch finanziell dazu beigetragen, dass besser geeignete Instrumente, die die Notlage der derzeitigen Absicherungskrise begreifen können, entwickelt werden. Das 2015 vergrößerte Leistungsvermögen von OCHA und des NRC-geführten Konsortiums sollte dazu beitragen, eine besser informierte humanitäre Antwort zu entwickeln“.

„Die Glaubwürdigkeit von NGOs als Informationsquelle wird von der EU weder methodisch verifiziert noch hinterfragt.“

Das in dieser Passage benannte „NRC-geführte Konsortium“ ist eine Arbeitsgruppe, die aus fünf NGOs besteht: das Norwegian Refugee Council (NRC), Action Contre la Faim (ACF), Gruppo di Volontariato Civile, Acted und Premiere Urgence International. Die Arbeitsgruppe setzte in der Westbank von 2015 bis 2016 ein humanitäres Projekt der EU mit einem Budget von 5,2 Millionen Euro um.

Alle Teilhaber dieses Projekts sind große EU-Leistungsempfänger, wobei drei (NRC, ACF und Acted) laut des EU-eigenen Financial Transparency Systems (FTS) 2015 über jeweils 25 Millionen Euro erhielten. Als Organisationen, die regelmäßig hunderte Millionen Euro für die Bereitstellung humanitärer Hilfe erhalten, haben sie eine offensichtliches Interesse daran, die humanitäre Notlage zu überschätzen – und genau dafür werden sie mit einer Vollmacht ausgestattet. Neben der extensiven Beteiligung an der Politikgestaltung versuchen die NGOs direkt, die EU um Geldmittel zu lobbyieren, vor allem mittels Interessengruppen wie den oben genannten.

Die EU-finanzierten NGO-Netzwerke CONCORD, Social Platform und das European Peacebuilding Liaison Office (EPLO) benennen alle explizit das Betreiben von Lobbyismus um EU-Budgets als eines ihrer Ziele. Darüber hinaus hat EPLO ein Civil Society Dialogue Network – „ein Dialoginstrument zwischen Zivilgesellschaft und EU-Politikentscheidern (…) co-finanziert durch die Europäische Union (Instrument for Stability) und die EPLO, gemanagt durch die EPLO in Kooperation mit der Europäischen Kommission und dem European External Action Service“.

„Organisationen, die hunderte Millionen Euro für die Bereitstellung humanitärer Hilfe erhalten, haben sie eine offensichtliches Interesse daran, die humanitäre Notlage zu überschätzen.“

So erhalten NGOs EU-Gelder für den spezifischen Zweck, über Lobbyarbeit noch mehr Gelder bei der EU einzutreiben – ein offenkundiger Interessenskonflikt. Man kann davon ausgehen, dass neben den Lobby-Netzwerken viele andere EU-Nutznießer ihre Gelder für das Eintreiben weiterer EU-Gelder einsetzen werden. Die Finanzierungsstatistiken deuten darauf hin, dass es sich hierbei um eine bewährte Methode handelt. Von den 40 NGOs, die als die aktivsten Lobbyakteure gegenüber EU-Institution ausgemacht wurden, haben der oben genannten EP-Studie zufolge „22 verkündet, während ihres letzten Jahres, in dem sie im Transparency Register gemeldet waren, Zuwendungen von der EU erhalten zu haben“.

NGOs und EU-Legitimitätskrise

Wie bereits erwähnt findet das Engagement der EU mit NGOs im Kontext der großen Verluste der öffentlichen Legitimität der EU statt. Wo es bestenfalls schwache Beweise für die Behauptung gibt, dass die Finanzierung von NGOs durch die EU demokratische Teilhabe steigert, ist dies gleichwohl höchst vorteilhaft für die Eigenwerbung und den Bekanntheitsgrad sowohl der EU als auch ihrer Begünstigten.

Die EU nutzt die Projektfinanzierung von NGOs für positive Reklame innerhalb und außerhalb der EU-Grenzen. 2010 publizierte die EU ein „Communication and Visibility Manual for European Union External Actions“, in dem die EU-Nutznießer dazu angehalten wurden, öffentlich die EU zu loben, und folgende „Schlüsselphrasen“ empfohlen wurden: „Der weltgrößte Spender im Dienste der Millenium Goals“; „Mehr, besser, schneller – Europa kümmert sich“; „Die EU und <partner NGO> – liefern zusammen mehr und bessere Hilfe“ und „Zusammenarbeit, die zählt.“

„Die EU nutzt die Projektfinanzierung von NGOs für positive Reklame innerhalb und außerhalb der EU-Grenzen.“

Auf ähnliche Weise offeriert ECHO ein zusätzliches Budget für Partner, die auf eine „überdurchschnittliche Sichtbarkeit“ abzielen – was Dinge wie „audiovisuelle Produktionen, Besuche der Projektstandorte durch Journalisten, Plakataktionen, Ausstellungen oder andere Veranstaltungsarten, die die europäische Öffentlichkeit und Medien erreichen“, beinhaltet.

Fazit

NGOs nehmen eine herausragende Stellung in der EU-Politikgestaltung und -Politikimplementierung ein und machen so weltweit Politik, ohne dafür demokratisch legitimiert zu sein. Anstatt kritisch auf den Mangel der EU an demokratischer Rechenschaftspflicht hinzuweisen, sind NGOs aufgrund ihrer engen Verstrickung mit der EU zu einem wesentlichen Bestandteil ihres bürgerfernen Politikstils geworden. Durch extensive Fördergelder macht sich die EU einen Namen als großzügiger Gewährer weltweiter Entwicklungshilfe, nebenbei profitieren NGOs von dem Geldfluss, einem festen Platz innerhalb der EU-Institutionen und der Anerkennung des Establishments als glaubhafte und vertrauenswürdige Organisationen.

Diese wechselseitige Legitimierung hat keine reale Substanz. Vielmehr ist sie das Resultat einer abgeriegelten Echokammer, in der sich die Beziehung zwischen EU und NGOs quasi ohne äußere Einflüsse eingespielt hat.

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