03.05.2021
Von Virologen und Büroklammern
Von Kolja Zydatiss
Ein berühmtes Gedankenexperiment beschreibt eine von moralischen Skrupeln befreite KI, die das gesamte Universum, auftragsgemäß, in Büroklammern verwandelt.
In der KI-Forschung kennt man das Problem der instrumentellen Konvergenz. Der Begriff beschreibt die hypothetische Tendenz der meisten ausreichend intelligenten Agenten, potenziell unbegrenzte instrumentelle Ziele zu verfolgen, vorausgesetzt, ihre endgültigen Ziele sind selbst unbegrenzt. „Instrumentelle Konvergenz postuliert, dass ein intelligenter Agent mit unbegrenzten, aber scheinbar harmlosen Zielen auf überraschend schädliche Weise handeln kann“, schreibt die englischsprachige Wikipedia.
Wem das alles viel zu abstrakt klingt, sei zwecks Illustrierung auf das berühmte „Büroklammer-Maximierer“-Gedankenexperiment des schwedischen Philosophen Nick Bostrom hingewiesen. Das Szenario beschreibt eine hochentwickelte künstliche Intelligenz, welche mit der Herstellung von Büroklammern beauftragt ist. Wenn eine solche Maschine nicht so programmiert wäre, dass sie das menschliche Leben wertschätzt oder nur bestimmte Ressourcen in begrenzter Zeit verwendet, wäre ihr optimiertes Ziel bei ausreichender Leistung, alle Materie im Universum, einschließlich der Menschen, entweder in Büroklammern zu verwandeln oder in Maschinen, welche Büroklammern herstellen. „Die Zukunft, auf die sich die KI konzentrieren würde, wäre eine, in der es viele Büroklammern gibt, aber keine Menschen“, so Bostrom. „Und wenn am Ende des Tages eine Büroklammer mehr herausspringt, dann würde [die KI] dafür auch […] die Sonne explodieren lassen, oder was auch immer nötig ist, um diese eine Büroklammer mehr zu bekommen“, ergänzt der Wissenschaftsjournalist Johannes Westenrieder.
„Bostrom wollte mit seinem Gedankenexperiment auf die Gefahren leistungsfähiger, autonom agierender intelligenter Systeme aufmerksam machen, denen menschliche Werte fehlen.“
Natürlich glaubt Bostrom nicht, dass das Büroklammer-Maximierungsszenario tatsächlich jemals eintreten wird. Vielmehr wollte er mit seinem Gedankenexperiment auf die Gefahren leistungsfähiger, autonom agierender intelligenter Systeme aufmerksam machen, denen menschliche Werte fehlen. Sie ahnen vielleicht bereits, wo ich mit diesem Artikel hin will.
In den vergangenen ca. zwölf Monaten zeichnete sich in der Corona-Politik eine Anfangs kaum merkliche Verschiebung der Ziele und Argumentationen ab. Wurden die drakonischen Nicht-Pharmazeutischen-Interventionen (NPIs) wie Lockdowns zunächst damit begründet, es drohe ansonsten eine Überlastung der Intensivstationen, schielte man später zunehmend auch auf R-Wert und Verdopplungszahl, und etablierte schließlich mit den sogenannten Inzidenzzahlen ein völlig untaugliches Konstrukt (siehe hier und hier), an das nun seit der kürzlichen Novelle des Infektionsschutzgesetzes die tiefgreifendsten Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik gekoppelt sind (bis zu fünf Jahre Haft u.a. für nächtliches Zigarettenholen oder Spazierengehen ohne Hund). „Tatsächlich testet man gegen den Frühling an, um die Inzidenzzahlen hoch zu halten und so längere Lockdowns und zusätzliche Maßnahmen durchdrücken zu können“, kommentiert Novo-Kollege Christoph Lövenich den Wahnsinn, der doch Methode hat.
Die Coronapolitik der Bundesregierung nähert sich faktisch immer mehr der sogenannten „No-Covid“-Strategie an, die u.a. von der Virologin und Regierungsberaterin Melanie Brinkmann propagiert wird und eine Ziel-Inzidenz von zehn vorsieht, mit einem „Blick auf die Null“. („No-Covid“ ist nicht zu verwechseln mit „Zero-Covid“, einer ähnlichen, aber noch weitreichenderen Strategie, die vor allem von Aktivisten aus dem ökologischen und kapitalismuskritischen Spektrum vorangetrieben wird. Letztere dient neben der Corona-Bekämpfung dem ultimativen Ziel, einen tiefgreifenden Transformationsprozess bzw. eine autoritäre Gesellschaftsordnung vorzubereiten, was angeblich notwendig sei, um die globale Erwärmung in den Griff zu bekommen.)
„Die Endsieg-Fantasien der No- und Zero-Covid-Befürworter werden einfach nur nie endende harte Lockdowns mit sich bringen.“
In Australien und Neuseeland gelten sogar niedrige Ziel-Inzidenzen als nicht ambitioniert und sicher genug. Dort bedeutet „No-Covid“ wortwörtlich No-Covid, also ein Ziel von null Infizierten, weshalb z.B. die zweitgrößte Stadt Australiens, Melbourne mit 4,3 Millionen Einwohnern, im Februar aufgrund eines Clusters von 13 (!) Corona-Fällen in ihren dritten Lockdown geschickt wurde, oder in Perth (2,1 Mio. Einwohner) aufgrund nur eines einzigen positiven Testergebnisses (!) nahezu das gesamte öffentliche Leben stillgelegt wurde. Mit überlasteten Krankenhäusern hat dies alles überhaupt nichts mehr zu tun.
Natürlich werden sich die Versprechungen der Corona-Hardliner („umfassende und nachhaltige Lockerungen in allen gesellschaftlichen Bereichen“, „endlose Lockdowns verhindern“) dadurch nicht erfüllen. Denn Corona lässt sich auch durch noch so harte Lockdowns nicht „besiegen“. Man kann Covid-19 und seine Varianten höchstens durch eine „Marathonstrategie“ mit recht moderaten Einschränkungen, wie sie bekanntlich der Staatsepidemiologe Anders Tegnell Anfang 2020 in Schweden eingeführt hat, in Schach halten, Risikogruppen besonders schützen, die schweren Krankheitsverläufe durch Impfungen – wenn vorhanden – verhindern, und darauf hoffen, dass sich das Virus mit der Zeit zu einer harmloseren endemischen Infektionskrankheit entwickelt, wie die jährlich wiederkehrende Grippe.
Die Endsieg-Fantasien der No- und Zero-Covid-Befürworter werden einfach nur nie endende harte Lockdowns mit sich bringen, in Folge derer letztlich wohl hunderttausende Menschen, vor allem aus ärmeren Schichten und ärmeren Ländern, über die Klinge springen werden, weil große Teile der Wirtschaft zusammenbrechen und Suizidgefährdete, psychisch Kranke, Suchtkranke usw. nicht vernünftig betreut werden können und immer tiefer in die Isolation rutschen.
„‚Aseptik über alles!‘, das ist kaum sinnvoller oder humaner als ‚Aus allem Büroklammern!‘“
Wir haben es heute also nicht mit einer durchgeknallten, moralbefreiten KI zu tun, die alles Seiende in Büroklammern verwandeln will. Allerdings mit einer anderen Art von gefährlich weltfremden Fachidiotismus, um einen schönen Begriff von Karl Marx1 zu nutzen, der ein fast ebenso absurdes endgültiges Ziel unter Inkaufnahme beinahe ebenso grotesker Kollateralschäden verfolgt: Die Optimierung unserer gesamten gesellschaftlichen Existenz auf das Ziel von niedrigen Inzidenzen – bzw. noch schlimmer wortwörtliches „No-Covid“ – hin, um jeden Preis.
Der Hauptunterschied zwischen der aktuellen Coronapolitik und Bostroms Gedankenexperiment besteht darin, dass die „intelligenten“ Agenten in unserem Fall keine Algorithmen sind, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Es handelt sich um Berater und Entscheider, die im Gegensatz zur Bevölkerungsmehrheit allesamt fest beim Staat beschäftigt sind und ihre Pensionen sicher haben, was vieles erklärt. Sie gehören ferner oft zum Berufsstand der Virologen, über deren professionellen Tunnelblick der Virologe Hendrik Streeck einmal selbstkritisch witzelte: „Wenn wir nur auf die Virologen hören würden, dürften wir keine Partys mehr feiern, keinen Sex mehr haben und uns nicht mehr küssen, weil dabei ja eine erhöhte Chance diverser Virusübertragungen besteht.“
„Aseptik über alles!“, das ist kaum sinnvoller oder humaner als „Aus allem Büroklammern!“ Spätestens bei der im Herbst anstehenden Bundestagswahl sollten wir den Kontrollraum stürmen und die aus dem Ruder gelaufene „Intelligenz“ der Staatsvirologie in den Standby-Modus versetzen.