09.04.2021
Lockdowns und die vergessene Wissenschaft
Von Julius Felix
Dass Corona-Maßnahmen wie Lockdowns eine nennenswerte Wirkung bei der Virusbekämpfung entfalten, lässt sich wissenschaftlich nicht belegen. Man sollte stattdessen auf Eigenverantwortung setzen.
Das hehre Ziel der Konferenz von Ministerpräsidenten und Kanzlerin ist es, so genannte Nicht-Pharmazeutische-Interventionen (NPIs), zu beschließen, die das Coronavirus eindämmen sollen. Das Problem ist, dass es sich bei diesen NPIs in der Beschlussfassung um gefühlte Wahrheiten handelt. Evaluiert werden diese seitens des Gremiums nicht und wissenschaftlich begründet ebenfalls nicht, denn dazu würde gehören, die gesamte Studienlage einzubeziehen. Viel lieber bedient man sich einer Art des Hausverstandes, der auf den ersten Blick einleuchtend scheint, auf den zweiten Blick aber wesentliche Denkfehler begeht, was dann letztendlich allen schadet. Dazu kommt, dass wissenschaftliche Erkenntnisse deutlich dagegen sprechen.
Wie reduziert der Lockdown Kontakte? Die simple Grundidee ist: Das Virus wird über Kontakte übertragen, also muss man Kontakte reduzieren. Das Problem ist dabei, dass das zu viel generalisiert. Darum funktioniert der Lockdown auch nicht so, wie man dachte. Aus einem kurzen „Wellenbrecher-Shutdown“ ist so ein monatelanger Dauerzustand geworden, der an den Nerven und der Wirtschaft zehrt. 1,5 Milliarden Euro kostet Deutschland jede Woche Lockdown.
Aber warum funktionieren Shutdown und Lockdown nicht, wenn es doch so logisch klingt? Weniger Kontakte müssten doch auch für weniger Übertragung sorgen! An dieser Stelle muss man sich fragen, wo der Lockdown Kontakte reduziert und wo der Schwerpunkt der Fallzahlen liegt. Ein wesentlicher Schwerpunkt lag und liegt in Alten- und Pflegeheimen – und zwar die ganze zweite Welle im Winter 2020/21 lang. Und wir müssen uns fragen, ob es wirklich so ist, dass das Schließen von Schulen, Museen, Theatern, Kinos, Sportvereinen, Geschäften und Restaurants und das Verhindern von Reisen dazu führt, dass sich in den Alten- und Pflegeheimen weniger Menschen anstecken.
Die Probleme, die in Alten- und Pflegeheimen für die hohen Inzidenzen sorgen, sind andere: Es sind die dünne Personaldecke durch den Pflegenotstand und auch die mangelnde Hygiene, die lange vor Corona bereits von verschiedenen Medien aufgedeckt wurde. Diese Probleme löst aber kein geschlossener Einzelhändler und auch kein geschlossenes Theater.
„Die Lockdown-Maßnahmen haben keine große Auswirkung auf die allgemeine Inzidenz, von der die Politik die Maßnahmen abhängig macht.“
Daher haben diese Lockdown-Maßnahmen einfach keine große Auswirkung auf die allgemeine Inzidenz, von der die Politik die Maßnahmen abhängig macht. Generell sind NPIs massiv umstritten, wenn man mal wirklich in die wissenschaftliche Literatur schaut (s.u.), und es war schon vor der Pandemie fragwürdig, ob sie wirken beziehungsweise ob die Kosten-Nutzen-Rechnung wirklich aufgeht.
Darüber hinaus muss man auch bedenken, welche Kontakte man reduziert. In Kultureinrichtungen etwa sind die Kontakte außerhalb des eigenen Haushalts ohnehin meist flüchtig, geschehen also mit Abstand und kurzzeitig. Durch entsprechende Vorkehrungen, zu deren Umsetzung man umfassende Hygienekonzepte entwickelt hat, kann man Engpässe vermeiden. Dazu finden viele Kontakte, etwa in Zoologischen Gärten, meist draußen statt, wo die Wahrscheinlichkeit, das Virus überhaupt zu übertragen, ohnehin praktisch bei null liegt, wenn man sich nicht extrem nahekommt. So reduzieren etwa die Zooschließungen letztlich nur Kontakte, die im Infektionsgeschehen ohnehin keine Rolle spielen würden.
Was sagt die Wissenschaft?
Die Lockdowns sind Ausdruck eines falschen Fokus, denn statt des vielzitierten Hammers braucht es in der Pandemiebekämpfung eher das Skalpell.
Seit Beginn der Pandemie beschäftigt sich die Wissenschaft bereits mit der Evaluation der NPIs. Sehr wenig medial beachtet wird leider, wie schlecht die Maßnahmen dabei abschneiden. Als zentrales Pro-Lockdown-Papier gilt Flaxman et al. , auf das immer wieder verwiesen wird. Oft verschwiegen werden dabei die wissenschaftlichen Einwände von z.B. Homburg & Kuhbandner im Juni und dann im September Wood. Bei beiden wurden die Modelldaten der ersten Studie tatsächlichen Daten gegenübergestellt, anhand derer man den Lockdown-Optimismus nicht belegen konnte.
Der Todesstoß für Flaxman et al. kam dann – zu Unrecht unbemerkt – im September durch das bereits im Preprint veröffentlichte Paper von Colombo et al. Die Experten hatten sich den Modellierungscode des Pro-Lockdown-Papiers angeschaut und wesentliche Fehler gefunden. Zentral war dabei die unrealistische Annahme, dass keine individuelle Variation der Anfälligkeit bei der Krankheitsübertragung vorliege. Tatsächlich weiß man aber sehr gut, dass Menschen mit einem durch Alter oder Krankheit geschwächten Immunsystem anfälliger für solche Viren sind.
Weitere Forschungen im ausgehenden Frühjahr und Sommer beschäftigten sich mit Kollateralschäden der Lockdowns (z.B.: Altman, Woolf et al.) und gegen Sommer begann in der Wissenschaft die Analyse der Lockdown-Aufhebungen, wie sie etwa von Nell et al. vorgelegt wurde. Kaum beachtet, aber zentral wichtig war im Zuge dessen die Veröffentlichung von Rabail Chaudhry von der University of Toronto und Kollegen im Lancet, einer der ältesten und renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften der Welt: „Schließlich waren staatliche Maßnahmen wie Grenzschließungen, vollständige Lockdowns und eine hohe Rate an COVID-19-Tests nicht mit einer statistisch signifikanten Verringerung der Anzahl kritischer Fälle oder der Gesamtmortalität verbunden.”
„Viele bereits geöffnete Einrichtungen, für deren Beitrag zur Pandemie-Verbreitung es bis heute keinen Beleg gibt, wurden wieder geschlossen.“
Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch Atkeson et al., die befanden, dass die Daten weitere Zweifel an der Bedeutung der NPIs (insbesondere der Lockdowns) zuließen. Christian Bjørnskov von der Universität Aarhus erklärte ebenso im August: „Beim Vergleich der wöchentlichen Sterblichkeit in 24 europäischen Ländern deuten die Ergebnisse dieses Papiers darauf hin, dass strengere Lockdown-Richtlinien nicht mit einer niedrigeren Sterblichkeit in Verbindung stehen.“
Loewenthal et al. waren im Oktober überrascht, als sie die Todeszahlen verschiedenster Länder analysierten, weil sie erwartet hätten, dass in Ländern mit härteren Lockdowns weniger Covid-19-Todesfälle zu verzeichnen sind, aber die Daten zeigten, dass dies nicht der Fall ist. Übrigens wurden die Erkenntnisse vor oder während der Diskussion über den zweiten Lockdown in Deutschland veröffentlicht. Sie sind aber von Medien und Politik weitestgehend ignoriert worden.
Im November ging Deutschland dann erneut in den Lockdown. Viele bereits geöffnete Einrichtungen, für deren Beitrag zur Pandemie-Verbreitung es bis heute keinen Beleg gibt, wurden wieder geschlossen. Nur kurzfristig, hieß es erst. Mitte November kam dann die Studie, die das alles hätte umgehend beenden können: Quentin De Larochelambert und Kollegen analysierten 188 Länder und ihre politische Antwort auf die Pandemie. Sie kamen im renommierten Fachmagazin Frontiers in Public Health zu einem interessanten Schluss: „Die Strenge der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, einschließlich der Lockdowns, schien nicht mit der Sterblichkeitsrate zu korrelieren.”
Bestätigt wurde dieser Befund durch weitere Veröffentlichungen. So spricht etwa Gibson davon, dass es keinen Unterschied bei den Todesfällen mache, ob ein Landkreis einen Lockdown hatte oder nicht. Zum Ende des Jahres wiesen Chin et al. nach, dass Rückschlüsse auf die Auswirkungen von NPIs nicht belastbar seien und der behauptete Nutzen von Lockdowns auf Basis ihrer Analyse stark übertrieben erschien.
„Man verfährt immer noch nach alten Prinzipien, die schon längst überholt sind, und sucht sich als Berater die Experten, die die Richtigkeit des politisch eingeschlagenen Weges trotzdem zu bestätigen bereit sind.“
Eran Bendavid von der Stanford University und weitere Experten kamen zu Beginn des Jahres 2021 anhand von zehn Ländern, darunter Deutschland, die alle von der Krise stark getroffen wurden, zum Ergebnis, dass es keine Hinweise darauf gebe, dass restriktivere nicht-pharmazeutische Interventionen („Lockdowns“) wesentlich dazu beigetragen hätten, die Kurve neuer Fälle abzuflachen. Im März 2021 wurde eine weitere Analyse veröffentlicht, in der Savaris et al. in 98 Prozent der Vergleiche mit 87 verschiedenen Regionen der Welt keine Hinweise darauf fanden, dass die Anzahl der Todesfälle pro Million dadurch verringert werde, wenn Leute zu Hause blieben.
Das sind nur einige prägnante Beispiele aus einer Vielzahl von Veröffentlichungen, die in dieselbe Richtung zielen. Die wenigsten davon haben es in die Medien oder gar in die politische Diskussion geschafft. Stattdessen verfährt man immer noch nach alten Prinzipien, die schon längst überholt sind, und sucht sich als Berater die Experten, die die Richtigkeit des politisch eingeschlagenen Weges trotzdem zu bestätigen bereit sind. Im Focus hat das ein Mediziner in Bezug auf die Bundeskanzlerin sehr treffend als „Kuba-Syndrom“ bezeichnet. So bezeichnet der Infektiologe Matthias Schrappe die Situation, in der „sich eine Führungsgruppe nur mit Menschen umgibt, die alle der gleichen Meinung sind“.
Was sagen die Daten?
Viele Portale bieten der Öffentlichkeit umfangreiches Datenmaterial. Das ist deshalb wichtig, weil es Länder gibt, die quasi als Kontrollgruppe fungieren können, da dort keine Lockdowns und/oder keine Maskenpflicht bestanden bzw. bestehen, während dies bei anderen der Fall war. Das COVID Tracking Project etwa lässt einen in die Daten der einzelnen US-Bundesstaaten eintauchen.
Sehr spannend ist hier etwa der Vergleich von Kalifornien und Florida, weil sie klimatisch ähnliche Startbedingungen haben. Etwas Pech hat man in Florida, weil dieser Staat als Rentner-Paradies gilt, also genau viele Mitglieder der Haupt-Risikogruppe dort residieren. Dementsprechend befürchtete man Schlimmes, als der Gouverneur von Florida die Maskenpflicht kippte und den Lockdown beendete. Kalifornien blieb allerdings ein Musterknabe, was Lockdowns und Maskenpflicht anbetraf.
Nach der Logik der deutschen Regierung hätte es in Florida also Massensterben, exponentielles Wachstum und überfüllte Krankenhäuser geben müssen, wie es in Talkshows meist von Karl Lauterbach (SPD) und anderen in gefühlter Dauerbeschallung beschworen wird. Florida hat demnach alles falsch gemacht, was man hätte falsch machen können. Auch Eric Feigl-Ding, der „Lauterbach“ der USA, der zuletzt auf Twitter über Unterwäsche mit N95-Partikelfiltrierung sinnierte, wünschte dem Sunshine State schon Beistand von ganz oben: „God help Florida.“
„Aber Florida schnitt nicht nur besser als Kalifornien ab, sondern lag über weite Strecken unter dem Durchschnitt der gesamten USA.“
Tatsächlich kam Florida viel besser durch die zweite Welle als Kalifornien und weitere Staaten: Es gab in Florida weniger positive Testergebnisse, weniger Krankenhausaufenthalte und geringere Todeszahlen – natürlich jeweils pro Million Einwohner, so dass der Unterschied in der Bevölkerungszahl nicht ins Gewicht fiel. Aber Florida schnitt nicht nur besser als Kalifornien ab, sondern lag über weite Strecken unter dem Durchschnitt der gesamten USA.
In den USA springen deshalb vermehrt Bundesstaaten auf den Zug von Florida auf – sehr prominent etwa Texas, aber auch Mississippi, die am Tag der MPK alles zu 100 Prozent öffneten und die Maskenpflicht aufhoben. Das bedeutet genau wie in Florida nicht, dass dort nun kein Schutz vor dem Virus mehr stattfände, es ist nur so, dass dieser in die Eigenverantwortung des demokratischen Souveräns übergeben wurde: in die des Bürgers.
Als Mississippi Anfang des Monats alles öffnete, wurde erstmal Party gemacht, was für einen Sturm an Negativschlagzeilen sorgte. Das Ergebnis fällt für die Kritiker dann eher ernüchternd aus: Die Zahl der Neuinfektionen sinkt weiter und ist aktuell weit unter der Zahl zu der Zeit, als das Land noch im Lockdown war. Wie ist das mit den Prämissen der Corona-„Bekämpfung“ der deutschen Regierung in Einklang zu bringen? Gar nicht. Das gleiche gilt für die Modellierungen: Die Modelle gehen nämlich meist von einem Anstieg des R-Wertes durch das Lockern der Maßnahmen, das auch das Zurückgeben von Grundrechten bedeutet, aus. Doch das ist nicht belegt, wie die Studien oben gezeigt haben. Den Verlauf in Florida, Schweden, Mississippi und vielen anderen Gebieten können diese Modelle gar nicht erklären.
Abb. 1: Die zweite Welle in Deutschland im Vergleich zu Schweden, wo Schulen, Restaurants, Geschäfte geöffnet waren und nie Maskenpflicht herrschte. Quelle: Our World in Data.
Was ist die Alternative?
Über 50.000 Menschen aus dem medizinischen Bereich (Wissenschaft und Praxis) fordern zusammen mit einer Dreiviertelmillion Laien seit Langem in der Great Barrington Declaration eine Veränderung des Fokus hin zu einem fokussierten Schutz und weg von der Lockdown-Politik. Das ist ein Lösungsansatz, der auf sehr breite Zustimmung trifft. Mitautor Martin Kulldorff, Professor an der Harvard University, beriet zum Beispiel den Gouverneur von Florida im Zuge eines runden Tisches. Florida zeigt also sehr gut, dass dieser Ansatz funktionieren kann.
Aber man muss gar nicht nach Übersee schauen, um Lösungsansätze zu hören, die weg von den NPIs hin zu PIs, also tatsächlich pharmazeutischen Interventionen, gehen und dabei muss man auch nicht mal auf die Impfung schauen, die aktuell in aller Munde diskutiert wird. In einem bemerkenswerten Interview mit Phoenix hat der Hygiene-Experte Prof. Klaus-Dieter Zastrow erklärt, dass regelmäßige Desinfektion der Mundhöhle den Lockdown überflüssig mache. Ob es wirklich so einfach wäre, ist auch deshalb noch fraglich, weil bisher offenbar nicht versucht wurde, diese Intervention zu erproben. Sehr wohl aber ließen wissenschaftliche Ergebnisse aus Deutschland zu Mundspülungen schon aufhorchen.
„Die Alternativen zu den gesetzlichen Verboten und Grundrechtsbeschränkungen eint ein altbewährtes Konzept: Eigenverantwortung.“
Es ist eben längst nicht mehr die Situation wie vor einem Jahr, in der man weniger über das Virus wusste und das pauschale Dichtmachen als einzige Handlungsoption erschien. Die Alternativen zu den gesetzlichen Verboten und Grundrechtsbeschränkungen eint ein altbewährtes Konzept: Eigenverantwortung. Damit antwortet die Gesellschaft auf alle anderen Krankheiten außer Covid-19 – von Schnupfen bis hin zu Krebs. Der Staat ist ja nicht für Gesundheit und Krankheit seiner Bürger verantwortlich, denn das sind sie selbst. Der Staat hat einzig die Aufgabe dafür zu sorgen, dass im Krankheitsfall für den Bürger gesorgt ist – und zwar unabhängig davon, welche Entscheidungen seinerseits zur Erkrankung beigetragen haben mögen.
Wenn Einzelhandel und Kultureinrichtungen morgen öffnen würden, würde ja nicht jeder zum Besuch gezwungen, sondern jeder erhält einfach eine Option auf einen Besuch. Nach wie vor kann jeder sich entscheiden, nicht in den Zoo oder ins Theater zu gehen, was ja auch okay ist. Am Pandemieverlauf wird die Öffnung wohl nichts ändern – das sehen wir in Bundesländern, in denen Zoos zum Beispiel offen sind, wie etwa ganz prominent Berlin, und das sehen wir in anderen Staaten, wo Einzelhandel und Kultur zu 100 Prozent offen sind.
Das Fazit ist also, dass die NPIs keine Lösung darstellen. Das belegt die „vergessene Wissenschaft“ – wichtige Studien, die übersehen, ignoriert oder verschwiegen wurden. Es ist also die Zeit, die Alternativlosigkeit abzulegen und Diskussionen wieder aufzunehmen. Politik und Wissenschaft leben gleichermaßen von einem fairen Wettbewerb der Ideen.