06.10.2025
Von alten und neuen Blockparteien
Von Niels Hipp
Durch die Brandmauer und die inhaltliche Konvergenz der meisten Parteien konnte man schon vor der Bundestagswahl ahnen, welche Politik folgen würde, unabhängig vom Ausgang der Wahl.
Ost-Berlin, 15. Oktober 1950: Es ist Wahltag in der DDR, die erste Volkskammer wird gewählt. Allerdings: Man kann nicht aus verschiedenen Parteien auswählen, sondern es gibt lediglich eine Einheitsliste mit vorher festgelegten Sitzzahlen für Parteien und Massenorganisationen. Das Ergebnis der Wahl steht also im Vorhinein schon fest und damit auch die ideologische Richtung der Politik, was jeder Wähler weiß.
Berlin, 23. Februar 2025: Es ist Wahltag im schon lange wiedervereinigten Deutschland. Der 21. Deutsche Bundestag wird gewählt. Man kann – je nach Bundesland – zwischen 11 und 18 Parteien wählen. Welche Partei mit wie vielen Sitzen in den Bundestag kommt oder ob sie überhaupt in den Bundestag kommt, bleibt also bis zum Schluss spannend. Allerdings: Die ideologische Richtung der Politik steht schon vorher fest, da die absehbare Wahlgewinnerin CDU/CSU nur mit SPD und/oder Grünen, auf keinen Fall aber mit der AfD koalieren wird. Die rot-grüne Politik der Regierungen Merkel und Scholz wird also in Zukunft fortgesetzt, das kann jeder wissen, der in diesem Tag das Wahllokal betritt.
So oder so ähnlich lassen sich Wahlen in der DDR und im Deutschland des Jahres 2025 knapp zusammenfassen. In der DDR bestand bis 1989 ein, auch verfassungsrechtlich abgesichertes, Mehrparteiensystem. Neben der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), die 1946 aus der Zwangsfusion der SPD mit der KPD entstanden war, gehörten ihm die LDPD, die (Ost-)CDU sowie die auf Betreiben der SED gegründeten Parteien DBD und NDPD an. Dabei werden die Parteien jenseits der SED meist als Blockparteien bezeichnet, was nicht so ganz korrekt ist, da auch die SED selbst in den Block eingebunden war. Die genannten Blockparteien akzeptierten den Vorrang der SED, der sich aus Art. 1 Abs. 1 der DDR-Verfassung von 1968 ergab, und waren ideologisch auf einer Linie mit ihr, auch sie vertraten das sozialistische Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell. In der Volkskammer etwa zeigte sich das darin, dass – bis auf ein einziges Mal – immer einheitlich abgestimmt wurde. Etwas anderes wäre auch gar nicht möglich gewesen. Jeder Versuch, nicht Blockpartei sein zu müssen, wäre sofort erfolgreich unterbunden worden, wie sich etwa 1952 beim LDPD-Politiker Karl Hamann gezeigt hatte, der daraufhin verhaftet wurde.
Nachdem die einzigen freien Wahlen in der SBZ am 20. Oktober1946 für die SED enttäuschend waren, beschloss sie, dass es freie Wahlen in Zukunft nicht mehr geben dürfe. Entsprechend konnte man bei sämtlichen Volkskammerwahlen von 1950 bis 1986 nur eine Einheitsliste wählen. Die Wahlen waren vielfach nicht geheim, die Zustimmung lag offiziell immer über 99 Prozent.
„Die inhaltlich dominante Partei sind seit längerer Zeit die Grünen, an denen sich die anderen Parteien orientieren, was mit der kulturellen Hegemonie der Grünen zusammenhängt.“
Und heute? Heute haben wir formal gesehen keine Blockparteien. Ein verfassungsrechtlich verbürgerter Führungsanspruch einer Partei existiert bei uns nicht. Es gibt auch keine garantierten Sitze in irgendeinem Parlament – eine Erfahrung, die die FDP bei der diesjährigen Bundestagswahl erneut machen musste. Und ein Amt als Bundeskanzler oder Bundesminister kann früher enden als gewünscht, siehe Scholz, Habeck oder Lindner. Man kann auch – im Gegensatz zur DDR vor Ende 1989 – neue Parteien gründen, wie 2024 beim BSW geschehen. Jede Partei kann prinzipiell ihre Agenda selber bestimmen. Ein Verbot einer Partei gestaltet sich auch viel schwieriger als etwa ein Vereinsverbot. Es gibt zwar gewisse verfassungsrechtlich oder europarechtlich vorgegebene oder von der Rechtsprechung des BVerfG entwickelte Prinzipien, wie etwa den Klimaschutz (aus Art. 20 a GG) oder das Recht auf Bürgergeld bzw. Grundsicherung (aus dem Menschenwürdegebot in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip), aber die Parteien sind in ihrer Programmatik sehr frei.
Trotzdem: Der Jurist Ulrich Vosgerau weist zurecht darauf hin, dass wir schon seit längerem, verstärkt aber seit ungefähr 2010, einen Elitenkonsens haben. Dieser wird von CDU, CSU, SPD, Grünen, Linken und FDP getragen, wobei in Bayern noch die Freien Wähler hinzukommen, auf Kommunalebene etwa noch Volt. Sie stimmen in vielen wesentlichen Fragen überein, Abweichungen finden sich eher in Details. Man denke dabei etwa an Fragen der Migration, der Energie- und Klimapolitik, der Sozialpolitik, der Europapolitik, seinerzeit auch an die Corona- oder Eurorettungspolitik. Nun gab es einen Elitenkonsens in gewissen Bereichen schon länger, etwa in der Sozialpolitik spätestens seit Adenauers Rentenreform von 1957, aber die Anzahl der betreffenden Politikbereiche, hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Die inhaltlich dominante Partei sind seit längerer Zeit die Grünen, an denen sich die anderen Parteien orientieren, was mit der kulturellen Hegemonie der Grünen zusammenhängt. Hierbei spielen seitens etwa der CDU neben Überzeugung bei Personen wie den Ministerpräsidenten Wüst oder Günther oft auch Opportunismus, Konformismus, aber auch die Angst vor dem linken Mob und die Sorge, im ÖRR als „rechts“ gezeichnet zu werden, eine Rolle.
Es zeigt sich hier also eine (mehr oder minder) freiwillige Selbstgleichschaltung, im Gegensatz zur erzwungenen Gleichschaltung durch die sowjetische Besatzungsmacht und die ihr treu ergebenen Kommunisten um Walter Ulbricht in Ostdeutschland nach 1945. In diesem Kontext werden andere politische Meinungen heute durch Cancel Culture, Abschottung von kritischen Medien, im Extremfall auch durch das Strafrecht bekämpft. Und ganz wichtig: Die AfD, die eine in vielen Bereichen (nicht in allen, etwa in der Sozialpolitik) andere Politik anstrebt, wird mit verschiedenen Methoden ausgegrenzt.
„Oft macht es keinen Unterschied, ob Katharina Dröge spricht oder Hendrik Wüst oder auch Matthias Miersch.“
Daher macht es oft keinen Unterschied, ob Katharina Dröge spricht oder Hendrik Wüst oder auch Matthias Miersch. Daher wundert es ebensowenig, dass das Wort „Klima“ 41-mal im Bundestagswahlprogramm der CDU/CSU – wir sprechen nicht über das der Grünen – vorkommt. Die Parteien unterscheiden sich zuweilen in der Intensität, nicht aber in der Richtung: So bestand bezüglich des Atomausstiegs Einigkeit, strittig war nur, wann dieser erfolgen sollte. Auch der Mindestlohn wird nicht in Frage gestellt, strittig ist nur, wann er wie hoch liegen soll, zuletzt ging es um 15 Euro brutto pro Stunde. Das soeben beschriebene System könnte man also als Quasi-Blockparteiensystem bezeichnen: Es ist formal anders gestaltet als das Parteiensystem in der DDR, materiell läuft es aber – wie in der DDR – auf immer dieselbe Politik hinaus, da CDU/CSU, SPD, Grüne, Linke und FDP einen inhaltlichen Block bilden und allen anderen die Macht versperren. Anders formuliert: Ein wichtiges Element von Wahlen, wenn nicht gar das wichtigste ist die Möglichkeit, eine auch inhaltlich andere Politik wählen zu können. Die Option wurde de facto beseitigt, da die Brandmauer zur AfD steht.
Nun dürfte es ein Irrtum sein zu glauben, dass die Brandmauer nur die AfD träfe. Nach der Bürgerschaftswahl in Bremen 2023 pflegte man mit Bündnis Deutschland (zuvor Bürger in Wut) den gleichen Umfang wie sonst mit der AfD. Hätten also Parteien wie Bündnis Deutschland, die WerteUnion oder – wenn sie denn antritt – die libertäre Partei der Vernunft (PdV) Ergebnisse, mit denen sie in ein Parlament einzögen oder einziehen könnten, dann würden sie genauso ausgegrenzt. Es geht um die ideologische Linie, wie seinerzeit bei der SED. Man könnte sich sogar die Frage stellen, ob die Bundestagswahl 2025 eine Scheinwahl war. Formal war sie das definitiv nicht, da die Sitzverteilung vorher nicht feststand und die FDP ja tatsächlich aus dem Bundestag herausfliegen konnte, was bei der LDPD nie passiert wäre. Aber in inhaltlicher Hinsicht hatte man wenig Auswahlmöglichkeiten, da man ja vorher schon im Groben (wenn auch nicht in jedem Detail) wusste bzw. hätte wissen können, wie es nach der Wahl inhaltlich weiter ging.
Nun lässt sich einwenden, dass man – im Gegensatz zur DDR – de jure die Quasi-Blockparteien abwählen kann. Das stimmt, zumindest solange Kandidaten nicht wie die der AfD fürs (Ober-)Bürgermeisteramt in Ludwigshafen, Lage oder Neukloster ausgeschlossen werden oder künftig eventuell auch Parlamentsbewerber vom Wahlausschuss nicht zugelassen werden; dagegen ist der Rechtsschutz durch das Wahlprüfungsverfahren unbefriedigend geregelt. Aber das ist nur eine sehr formale Sicht der Dinge: Wenn sich CDU/CSU, SPD, Grüne, Linke, FDP und – mit Abstrichen – BSW in Form der „Brandmauer“ dazu verpflichten auf gar keinen Fall mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann müsste die AfD ja die absolute Mandatsmehrheit erreichen, um in einer Regierung überhaupt nur zu vertreten sein zu können. Daher hat der Philosoph Michael Andrick theoretisch recht, wenn er sagt, dass die „schwarz-rot-grüne Einheitspartei nur als Ganze abwählbar“ sei.
„Die Abwahl des Einheitsbreis dürfte in der Praxis zumindest in aller Regel scheitern.“
Solche absoluten Mehrheiten gab es bei Bundestagswahlen allerdings nur einmal (1957 die der Union), bei Landtagswahlen kamen sie schon etwas häufiger vor (zuletzt seit 2022 die der SPD im Saarland). Dazu müssen in der Praxis zwar keine 50 Prozent, aber schon deutlich über 40 Prozent der gültigen (Zweit-)Stimmen erreicht werden. Bezogen auf die Bundestagswahl würde das bedeuten: Bei gleicher Wahlbeteiligung wie 2025 müsste der Stimmenanteil für Parteien wie AfD, Bündnis Deutschland, WerteUnion und ggfls. PdV zusammen sich mehr als verdoppeln, zu den gut zehn Millionen Stimmen der AfD müssten also – das hängt dann auch von den Parteien unterhalb der Fünfprozenthürde ab – noch einmal mehr als dieselbe Zahl an Stimmen von anderen Parteien zusammenkommen. Es wäre also eine gigantische Wechselbereitschaft notwendig. Da diese Stimmen aus ideologischen Gründen am wenigsten von Grünen und Linken kämen, müsste die Union dafür locker die Hälfte ihrer Wähler verlieren und auch die SPD müsste noch einmal massiv einbüßen.
Kurzum: Das ist de facto fast ausgeschlossen, auf Bundesebene definitiv, auf Länderebene in Ostdeutschland ist es vielleicht einmal denkbar. Dafür sind die Beharrungskräfte in Deutschland zu groß, zumal in anderen Ländern Parteien wie FPÖ, RN oder PVV bisher nie die absolute Mandatsmehrheit im jeweiligen Parlament erringen konnten. Und selbst im Erfolgsfall wäre unklar, ob die Wahl nicht – wie in Rumänien – annulliert würde, wegen ausländischer Einflussnahme (aus Russland, China oder von Elon Musk).
Die Abwahl des Einheitsbreis dürfte in der Praxis aus den genannten Gründen zumindest in aller Regel scheitern. Man hat institutionelle Probleme, und diese kann man durch individuelles Verhalten – auch das individuelle Wahlverhalten von Millionen Menschen – nicht oder nicht hinreichend kompensieren. Solange sich das nicht ändert, bleibt das System, wie es ist, und bleiben auch die Probleme, die immer drängender werden, ungelöst. Solche dysfunktionalen Systeme können – auch das lehrt die DDR – jahrzehntelang fortbestehen.