04.12.2020

Versammlungsfreiheit muss auch in der Pandemie gelten

Von Sabine Beppler-Spahl

Titelbild

Foto: Sabine Beppler-Spahl

Dass in der Coronakrise Demonstrationen verboten und Demonstranten verunglimpft wurden, bietet Anlass zur Sorge. Aus dem Buch „Bürger oder Untertan!“ (Edition Novo, 2020).

Die Deutschen wüssten zu wenig über ihr Grundgesetz, kritisierte der Bundespräsident im Frühjahr 2019 und forderte mehr politische Bildungsarbeit, um diesen Missstand zu beheben 1. Als dann aber im Frühjahr 2020 – im Zuge der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen – die Verfassung zu einer unerwarteten neuen Beliebtheit gelangte, war von offizieller Seite kein Lob zu vernehmen. Demonstranten, die das Grundgesetz mit sich führten, um ihr Recht auf Versammlungsfreiheit einzufordern, waren ganz offensichtlich nicht das, was sich der Präsident vorgestellt hatte.

Statt als gesetzeskundige Bürger angesehen zu werden, wurden die Demonstranten von unzähligen Kommentatoren pauschal als unverantwortlich oder sogar gefährlich verunglimpft: „Allein in #München haben heute 3000 Demonstranten dichtgedrängt und ohne Mundschutz alles dafür getan, dass es bald wieder schärfere Anti-#Corona-Maßnahmen gibt. Danke für nichts, ihr Vollpfosten“ 2 twitterte Martin Hagen, der Fraktionsvorsitzende der FDP im Bayerischen Landtag. Begriffe wie „Systemverächter“ 3, „Idioten“ 4, „Verschwörungstheoretiker“ 5 oder „Extremisten“ waren im Angebot. Bezeichnenderweise tauchte sogar der genau umgekehrte Vorwurf auf, die Protestierer seien selbst „Verschwörer“(ein Begriff, der ja bekanntlich ein Intrigantentum nahelegt), auf: „Die Politik darf sich von verwirrten Verschwörern nicht verrückt machen lassen 6“, lautete die Überschrift eines Kommentars im Spiegel.

Dabei war es das gute Recht der Demonstranten, sich auf das Grundgesetz zu berufen. Sein Artikel 8 Absatz 1 lautet unmissverständlich: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“. In Kraft trat das Gesetz im Mai 1949, noch unter dem Eindruck des Naziterrors. Und auch wenn das Versammlungsrecht nie unumstritten war (immer wieder gab es Forderungen, es einzuschränken, z.B. im Falle von Neonazi-Aufmärschen), so galt es doch von Anfang an als bedeutend für den Schutz der Demokratie. Kaum ein Jahr, nachdem man den 70. Geburtstag des Grundgesetzes gefeiert hatte, wurde das Versammlungsrecht zum ersten Mal, faktisch über Nacht, ausgesetzt.

„Statt als gesetzeskundige Bürger angesehen zu werden, wurden die Demonstranten von unzähligen Kommentatoren pauschal als unverantwortlich oder sogar gefährlich verunglimpft.“

Der Grund war natürlich die Sorge der Regierung vor einer beschleunigten Ausbreitung von Covid-19. Doch es ist auch klar, dass keine Regierung es wagen würde, ein Grundrecht wie die Versammlungsfreiheit ohne Angaben von Gründen außer Kraft zu setzen. Es ist ein Zeichen gesunder Skepsis, wenn Bürger bei Freiheitsbeschränkungen die Motive ihrer Regierung hinterfragen. In demokratischen Gesellschaften kann der Staat zwar die individuellen Rechte seiner Bürger zeitweise beschränken. Dabei liegt die Beweislast jedoch immer bei ihm. Im Falle der Proteste, die im Freien und auf großen Plätzen stattfanden, war der Hinweis auf das Virus nicht besonders überzeugend. Die Grundrechte, schrieb der Jurist, Politologe und Antifaschist Franz Neumann, begründen stets eine Vermutung für die Freiheit des Einzelnen gegen den staatlichen Zwang 7.

Die Auseinandersetzungen um den Artikel 8 Absatz 1 zeigen, dass unsere Grundrechte durch ihre schriftliche Fixierung in der Verfassung nicht automatisch geschützt oder sicher sind. Kann, wer an der Macht ist, das Gesetz nach Belieben beugen oder einschränken? Nicht ganz. Und so hob das Bundesverfassungsgericht, nach einem Eilantrag eines Klägers, ein Demonstrationsverbot im April auf. 8 Trotzdem blieben zahlreiche Beschränkungen bestehen, wie zum Beispiel die Begrenzung der Proteste auf 50 Teilnehmer in Berlin.

Zweifellos waren viele Kommentatoren ernsthaft und aufrichtig darüber besorgt, dass die Demonstrationen zu neuen Brutstätten von Covid-19 werden könnten. Aber trotz der Versammlungen blieben die Infektionsraten niedrig. Dies konnte daher nicht der einzige Grund für die Verunglimpfung der Teilnehmer sein. Vielmehr geht die Angst vor dem Virus mit einer anderen einher: der Angst vor den Massen. Das sei die falsche Art von Menschen, die ihre Rechte einforderten, schienen die Kommentatoren zu sagen. Einige stellten nervös fest, dass die Stimmung in der Öffentlichkeit kippe. „Nach der Flüchtlingsfrage könnte der Umgang mit Corona zu der nächsten großen Spaltung in der Gesellschaft führen“ 9, warnte Lisa Schnell in der Süddeutschen Zeitung.

Und sie hat Recht. Die Gesellschaft ist gespalten. Doch leider wird diese Spaltung bis zur Absurdität verzerrt. Manche brüsten sich sogar damit, eine Kluft zwischen klug und dumm erkennen zu können (der Satiriker Jörg Schneider spricht in der Frankfurter Rundschau von einer rapide wachsenden „Herdendummheit“ 10). Wie schon bei der Flüchtlingskrise glauben viele an ein einfaches Schwarz-weiß-Bild, bei dem sie selber selbstverständlich auf der richtigen – der klugen, aufgeklärten und wissenschaftsoffenen – Seite stehen.

„Das sei die falsche Art von Menschen, die ihre Rechte einforderten, schienen die Kommentatoren zu sagen.“

Das sind faule Interpretationen und Zerrbilder, die wenig mit der Realität zu tun haben. Sicherlich vertreten einige der Demonstranten Verschwörungstheorien. Es mangelt auch nicht an rechten Gruppen, Freaks oder Selbstdarstellern. Manche fragwürdigen Gestalten versuchen, sich als Sprachrohr der Proteste gegen die Regierungsbeschränkungen zu stilisieren. (Es wurde z.B. viel über den fanatischen veganen Koch Attila Hildmann oder den diskreditierten Radiomoderator Ken Jebsen berichtet, die sich den Protesten angeschlossen haben).

Das sagt aber über die Mehrheit der Teilnehmer kaum etwas aus. In unserer auf Umfragen fixierten Zeit ist es erstaunlich, wie wenige Anstrengungen unternommen werden, um herauszufinden, was die Mehrheit der Protestierenden wirklich denkt. Überall dort, wo Demonstranten interviewt wurden, äußerten viele von ihnen vernünftige Bedenken. Sie beklagten zum Beispiel das mangelnde Vertrauen der Regierung in ihre Bürger, die andauernde Schließung der Schulen, die Verhöhnung derjenigen, die abweichende Meinungen äußern, sowie das Fehlen einer klaren Strategie zur Rückkehr zur Normalität. 11 Interessant ist auch, dass überall dort, wo die Organisatoren der Proteste bodenständig und ausgeglichen wirken (wie z.B. in Stuttgart), mehr Menschen bereit zu sein scheinen, sich anzuschließen.

Zum großen Teil ist die Kritik an den Demonstranten eine kaum verhohlene Forderung nach Konformität. Aber auch ein gefährliches Virus darf uns nicht dazu zwingen, uns der Autorität der Regierung zu beugen. Selbst die oft wiederholte Behauptung, dass die Demonstranten die Lockerungen gefährden, ist bezeichnend. Das Gegenteil ist der Fall: Nur der öffentlichen Kritik ist es geschuldet, dass die Regierung von ihrer früheren, viel strengeren Politik abgerückt ist.

Deshalb verdienen die Demonstranten unser Wohlwollen, auch wenn wir nicht mit all ihren Ansichten übereinstimmen. Das Versammlungsrecht muss vollständig wiederhergestellt werden. Nicht nur, weil es dem Einzelnen eine Freiheitssphäre garantiert. Sondern auch, weil es ein Mittel ist – wie Franz Neumann weiter schreibt –, das „die demokratische Herstellung des Staatswillens“ 12 ermöglicht. Ohne das Demonstrations- und Versammlungsrecht, mit dem Bürger ihren Unwillen über die Politik zum Ausdruck bringen können, kann sich die öffentliche Meinung nicht ausbilden. Leider ist es genau diese freie und demokratische Herstellung des öffentlichen Willens, die so viele so erschreckend finden.

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