16.04.2020

Grundrechte auf der Intensivstation

Von Sabine Beppler-Spahl

Titelbild

Foto: Sabine Beppler-Spahl

Die Corona-Verordnungen setzen das Versammlungsrecht und andere Grundrechte außer Kraft. Picknicks werden von der Polizei aufgelöst. Liberale Prinzipien werden dabei zu schnell beiseitegelegt.

Demonstrationen sind in Berlin keine Seltenheit, aber in Zeiten von Corona verdienen sie besondere Aufmerksamkeit. Am vergangenen Samstag organisierte eine Organisation namens Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand ihre zweite „Hygienedemonstration" auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Unter Missachtung der strengen Lockdown-Vorschriften hatten sich bereits eine Woche zuvor rund 40 Menschen am gleichen Ort unter dem Motto „für Grundrechte und ein Ende des Notstandsregimes", versammelt. Trotz der Illegalität der Aktion (mehrere Demonstranten wurden wegen Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz angezeigt und mindestens zwei Person kurzzeitig festgenommen) zog die zweite Demonstration über 350 Menschen an.

Während einige Organisatoren Kopien des Grundgesetzes verteilten, skandierten die Teilnehmer „Versammlungsfreiheit" (ein Recht, das Artikel 8 GG garantiert). Obwohl viele Demonstranten Gesichtsmasken trugen und versprachen, den vorgeschriebenen Mindestabstand von 1,5 Metern zu respektieren, wurde auch dieser Protest von den rund 180 anwesenden Polizisten aufgelöst. Immer wieder wurden einzelne Demonstranten aus der Menge herausgegriffen und abgeführt. 80 Anzeigen, so war am nächsten Tag in der Presse zu lesen, seien erteilt worden.

Das harte Durchgreifen ist beispielhaft für die neuen Corona-Regeln Berlins. Während es viele gute und kritische Berichte über die zu erwartenden negativen Auswirkungen durch  Kontaktverbot und Lockdown für die Wirtschaft gibt – Deutschlands Bruttosozialprodukt soll um mindestens 4,5 Prozent zurückgehen– finden die Folgen für die Bürgerrechte und unsere Freiheiten deutlich weniger Beachtung.

Angesichts der realen Gesundheitsgefahr, die von dem Virus ausgeht, sei dies nicht der richtige Zeitpunkt, um über Freiheit zu diskutieren, heißt es häufig. „Kann man in der Corona-Krise überhaupt guten Gewissens zu einer Demonstration aufrufen?“ fragt z.B. die Berliner Stadtzeitung tipBerlin. Unsere Demokratie halte es aus, wenn wir eine Zeitlang nicht demonstrieren dürfen, meint auch Steffen Augsberg, Jurist und Mitglied des Deutschen Ethikrats.

Andere weisen darauf hin, dass die Demonstranten, wie auch jede andere Kritik an den Lockdown-Regeln, nicht für die Mehrheit sprächen – schließlich zeigten Umfragen, dass die meisten Deutschen die zeitweilige Einschränkung ihrer bürgerlichen Freiheiten als notwendig zur Rettung von Menschenleben akzeptierten.

„Welche Gefahr ging von den Demonstranten, die zumeist auf Distanz blieben, aus?“

Und tatsächlich können Bund und Länder Erfolge vorweisen. So z.B. die relativ niedrige Sterblichkeitsrate (zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels lag sie bei 3194) und die hohe Anzahl an Tests (zeitweise mehr als 50.000 pro Tag). Oder die finanziellen Hilfen für betroffene Unternehmen. Positiv ist auch die Unterstützung einschlägiger Forschungsarbeiten wie z.B. von Professor Hendrik Streeck in Heinsberg, die wichtige Erkenntnisse über die Infektionsrate und die Verbreitungswege des Virus liefern dürften.

Doch für diejenigen, die nicht vergessen haben wie wichtig Freiheits- und Bürgerrechte sind – und wie stark sie oft schon zu „normalen“ Zeiten unter Druck stehen – ist die gegenwärtige Situation besorgniserregend. Zu viele liberale Prinzipien sind viel zu schnell, in Windeseile, über Bord geworfen worden. Eines dieser Prinzipien ist, dass jede Einschränkung von Grundrechten begründet werden muss. Natürlich ist diese Begründung im Falle der Hygienedemonstration die Ansteckungsgefahr – aber hält sie einer kritischen Hinterfragung stand? Welche Gefahr ging von den Demonstranten, die zumeist auf Distanz blieben, aus? Ist das Demonstrieren im Freien, noch dazu mit Gesichtsmaske und Abstand, gefährlicher als das Einkaufen im Supermarkt? Tatsache ist, dass die polizeilichen Befugnisse weit über das hinausgehen, was man sich vor wenigen Wochen noch hätte vorstellen können.

Kritiker der Hygiene-Demonstration betonen, dass die Organisatoren Verschwörungstheoretiker und Mitglieder einer obskuren Randgruppe seien, die falsche Bezüge zum Faschismus herstellten („Wir sehen derzeit global orientierte und sich — nur vorübergehend? — faschisierende Regierungen am Werk“, heißt es in einer ihrer Veröffentlichungen).  Doch diese Kritik verfehlt ihren Zweck, und zwar nicht nur, weil Bürgerrechte nun einmal allen zustehen – also auch denjenigen, mit deren Botschaft wir nicht unbedingt übereinstimmen.

„Die harschen Eingriffe in bürgerliche Freiheiten treffen heutzutage jeden.“

Sie ist auch deswegen falsch, weil die harschen Eingriffe in bürgerliche Freiheiten heutzutage jeden treffen können. Tag für Tag und Nacht für Nacht sind Hunderte von Polizisten im Einsatz, oft in voller Montur, um Personen zu verwarnen oder zu bestrafen, die die Corona-Regeln missachten. Sogar Hubschrauber werden eingesetzt. „Polizei überfordert: unzählige Verstöße gegen Ausgangsbeschränkungen", lautet der Titel eines Videos. Dass die Polizei nicht nur warnend auftritt, zeigen die folgenden Beispiele:

Einer Polizeimeldung vom 7. April zufolge haben Berliner Beamte innerhalb von 22 Stunden 227 Personen sowie 24 Objekte überprüft und dabei 7 Straf- und 86 Ordnungswidrigkeitsanzeigen gestellt.
In einem anderen Bericht vom 4. April ist zu lesen, dass die Polizei bei einer 24-Stunden-Kontrolle in Berlin von Freitagmorgen bis Samstagmorgen 30 Straf- und 79 Ordnungswidrigkeiten festgestellt habe.
Am Ostersonntag meldete die Münchner Polizei 9.000 Kontrollen und 317 Verstöße.

Betroffen waren Besitzer von Bäckereien und Imbissstuben, die ihren Kunden erlaubten, drinnen zu essen, Familien, die in einem öffentlichen Park picknickten, Menschen, die in Gruppen von mehr als zwei Personen spazieren gingen oder Studenten, die sich in ihren Wohnungen trafen. Es sei die ganze Bandbreite dabei gewesen, hieß es von Seiten der Berliner Polizei.

„Es ist an der Zeit, unsere Politiker daran zu erinnern, dass sie gewählt wurden, um die Grundrechte zu garantieren.“

Dass wir eine Schieflage bei der Wahrung unserer Rechte erleben, zeigt auch die Rhetorik. „Wir werden uns das Verhalten der Bevölkerung an diesem Wochenende anschauen“, warnte Helge Braun, Chef des Bundeskanzleramtes Ende März, kurz bevor die Regeln in vielen Bundesländern noch weiter verschärft wurden. Wir können davon ausgehen, so der Jurist Lutz Friedrich im Verfassungsblog, dass er seine Worte sorgfältig wählte. Sie sind seither unzählige Male wiederholt worden. Der Bürger wird aufgefordert, sich zu benehmen – oder gar, sich brav zu verhalten („die Leute hielten sich insgesamt brav an die Vorgaben“, wurde ein Polizeisprecher in Kempten nach Ostern zitiert). Das aber ist die Sprache eines Oberlehrers. Ist das der neue Blick der Politik auf die mündigen Bürger und Wähler, denen sie eigentlich zu dienen hat?

Der nervöse Staat, so Lutz Friedrich, Jurist an der Universität Münster, streife seine Rechtfertigungspflichten eigenmächtig ab und verlagere sie auf den Bürger. Er erklärt dem Einzelnen nicht mehr, warum dieser das Haus nicht verlassen darf, sondern verlangt vom Einzelnen die Erklärung, wenn er es doch tut. Und die so unter Druck Gesetzten müssen viel erklären, wenn sie von der Polizei ertappt werden: warum sie etwa nicht zu Hause bleiben, sich mit Freunden verabreden oder das schöne Wetter auf einer Parkwiese genießen. Selbst Aktivitäten, die auch mit größter Fantasie nicht als Gefahr gesehen werden können – das Wandern auf menschenleeren Pfaden in den Alpen beispielsweise – sind, wenn man in Bayern lebt, verboten.

Es ist an der Zeit, unsere Politiker daran zu erinnern, dass sie gewählt wurden, um die Grundrechte zu garantieren. Kein Virus sollte uns dieses wichtige Prinzip vergessen lassen.

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