11.08.2016
Suchet die Sucht
Analyse von Christoph Lövenich
Einschränkungen des Glücksspiels sollen angeblich die Spielsucht bekämpfen. Sie treffen aber die Falschen und helfen pathologischen Spielern nicht weiter. Die Problematik wird ohnehin aufgebauscht.
Faktisch durch Graumärkte längst ausgehöhlt, besteht in Deutschland de jure ein staatliches Glücksspielmonopol. Insbesondere der Deutsche Lotto- und Totoblock (DLTB), bestehend aus den Lotteriegesellschaften der Bundesländer, kämpft eisern für dessen Fortbestand. Die rechtliche Legimitation dieses Staatsmonopols beruht auf der Spielsuchtbekämpfung. Wenn die öffentlichen Unternehmen etwas für den „Spielerschutz“ tun, dürfen sie sich weiter die Taschen füllen. Daher stößt man allerorten auf den Warnhinweis „Glücksspiel kann süchtig machen“, auch in der Werbung, mit der die Menschen gerade zum Spielen animiert werden sollen.
Diese offenkundige „Heuchelei im Anti-Sucht-Feldzug“ besteht auch in Österreich, wo ein höchstrichterliches Urteil dieses Jahr angesichts der massiven Reklameausgaben zu dem Ergebnis kam, dass von einem ernstgemeinten „Spielerschutz“ wohl kaum die Rede sein könne. In Deutschland stehen die Marketing-Aktivitäten der DLTB-Gesellschaften in eklatantem Widerspruch zu ihren politischen Bemühungen, der Konkurrenz mit Verweis auf die Suchtbekämpfung das Geschäft zu verbieten.
„Mit einem Massenphänomen haben wir es nicht zu tun.“
Wenngleich das Spielsucht-Argument von vielen Akteuren nur vorgeschoben wird, um sich die eigenen Pfründe zu sichern, so wird es doch von anderen verfochten, um dem Glücksspiel grundsätzlich an den Kragen zu gehen. Exemplarisch sei hier eine TV-Dokumentation im Bayerischen Fernsehen genannt, die im April dieses Jahres unter dem Titel „Immer mehr Spielsüchtige – und der Staat schaut zu“ ausgestrahlt wurde. Immerhin weiß man sofort, woran man ist: Der reißerische Titel beinhaltet bereits Stimmungsmache für weitere staatliche Maßnahmen. Abgesehen davon, dass die Aussage „der Staat verdient mit“ (im Übrigen auch auf steuerlicher Ebene) treffender gewesen wäre, legt die Behauptung „immer mehr Spielsüchtige“ nahe, dass die Anzahl pathologischer Glücksspieler kontinuierlich steige. Im Dickicht der schwankenden Studienresultate kann man allerdings feststellen, dass nach Erhebungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) der Anteil pathologischer Spieler an der Bevölkerung in den letzten Jahren eher gesunken ist und 2015 bei 0,37 Prozent lag.
Mit einem Massenphänomen haben wir es also nicht zu tun. „Lange habe ich nach einem Spielsüchtigen gesucht“, sagt Moderator Rainer Maria Jilg in der BR-Sendung, „Die Scham ist groß“. Anders ausgedrückt: Die Zahl ist klein. Therapiebetreiber konnten dem öffentlich-rechtlichen Journalisten aber dann doch noch Betroffene für seinen Beitrag vermitteln. Einer erzählt, wie es bei ihm so weit gekommen ist: Nach Trennung von seiner Partnerin stürzte er in eine Depression, die er durch extremes Spielverhalten bekämpfte. Wie hätte die von Jilg herbeigerufene Obrigkeit diesen Fall wohl verhindern können? Durch ein „strenges staatliches Monopol“, wie ein im Beitrag zitierter Suchttherapeut fordert?
Wohl kaum, denn wir erkennen an diesem Beispiel, dass bei einem als „Sucht“ klassifizierten Verhalten verschiedene Elemente zusammenkommen: Anlass im sozialen Umfeld, Disposition und Gegenstand. Ein äußeres Ereignis (hier: eine Beziehung geht in die Brüche), eine psychische Veranlagung (die meisten werden in dieser Situation nicht so depressiv) und eine Form des Auslebens (Substanzkonsum, aber eben auch Glücksspiel). In diesem Fall diente das Spielen sogar als – gewiss problematische – Form der Selbsttherapie. Nun könnte man schlicht ansetzen: Wenn ich die psychische Verfassung einer Person nicht ändern und Schicksalsschläge nicht abwenden kann, entferne ich einfach das „Suchtmittel“ und Schwupps – weg ist die fiese Abhängigkeit. Damit aber greift man zu kurz, schon dem Herrn aus dem Fernsehbeitrag wäre damit nicht geholfen gewesen, er wäre dann ja depressiv geblieben bzw. hätte sich in ein anderes Verhalten hineingestürzt – oder gar von der Brücke.
„Hinter ‚Schutz‘ verbirgt sich meist Bevormundung.“
Apropos Suizid: Nach dieser Suchtbekämpfungslogik – auch bei Substanzen wie Alkohol usw. angewandt – bräuchte man nur Eisenbahnschienen abzubauen, damit sich niemand mehr vor dem Zug werfen kann. Dass sich dadurch die Zahl der Selbsttötungen vermindert, erscheint offenkundig naiv. Beim Glücksspiel oder bei Drogen geht man allerdings nach genau dieser Methode vor. Ein größeres Glücksspielangebot führt jedoch nicht zu mehr Spielsucht, regulatorische Begrenzung nicht zu weniger. Durch Einschränkungen, die das Spiel oder den Konsum erschweren, hilft man letztlich niemandem, bestraft aber alle, auch die breite Masse derjenigen, die gar nicht Gefahr laufen, einem krankhaft übersteigerten Konsum zu erliegen.
Weshalb man die „Süchtigen“ überhaupt gängeln oder am Ausleben ihrer Neigungen hindern sollte, steht auf einem anderen Blatt. „Was tut hier der Staat, um die Spieler vor sich selbst zu schützen?“, fragt Jilg in der Fernsehsendung und offenbart damit ein paternalistisches und autoritäres Verständnis von Politik. Dem Einzelnen steht demzufolge keine autonome Entscheidung zu, so zu handeln, wie er möchte, Risiken einzugehen, auch Fehler zu machen, indem er sich vielleicht etwas zu sehr in eine Sache hineinsteigert – und Fehler selbständig zu korrigieren. Wenn in der Regulierungsdebatte von „Schutz“ gesprochen wird, verbirgt sich dahinter meist Bevormundung, auch beim Spielerschutz.
Und Profiteure tummeln sich ebenfalls in diesem Feld. Der Glücksspielstaatsvertrag von 2008 mit seinem – verlogenen – Bekenntnis zur Suchtbekämpfung war ein „Jackpot für Therapeuten“, da er entsprechende Finanzmittel bereithielt, auch für Kampagnen. 2001 wurde Spielsucht zur Krankheit erklärt, deren Therapiekosten von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Zahlreiche Beratungsstellen haben sich einschlägig spezialisiert. Die therapeutische Gesellschaft eröffnet durch die zunehmende Pathologisierung menschlicher Aktivitäten nicht nur Spielräume für immer tiefgreifendere Verbote und Eingriffe in die private Lebensführung, sondern erweist sich für manche auch als finanziell höchst profitabel.
„Der wissenschaftliche Rahmen dient als Ausweis vermeintlichen Expertentums zum Zwecke der politischen Missionierung.“
Aber Krankheit ist Definitionssache. Sucht auch. Ingo Fiedler von der Universität Hamburg behauptete im angesprochenen Fernsehbeitrag, 15 Prozent der Spieler an und 70 Prozent der Einnahmen durch Spielautomaten kämen von Spielsüchtigen. Ein Vertreter der Glücksspiel-Unternehmensgruppe Gauselmann darf zu Wort kommen und seine Kritik an Fiedlers Zahlen – aus verschiedenen Kontinenten zusammengemischt und daher nicht für Deutschland aussagekräftig – zumindest andeuten. BR-Mann Jilg: „Für mich sind die Wissenschaftler aber irgendwie glaubhafter“. Die Begründung hierfür bleibt er schuldig, ungeprüft stützt er sich auf den Wissenschaftler Fiedler, der – wie sein akademischer Lehrmeister Prof. Michael Adams –, zur eingespielten therapeutisch-prohibitionistischen Lobby aus verschiedenen Verbänden und universitär Tätigen gehört. Eine Lobby, die sich teilweise mit denjenigen Kreisen, die gegen Tabak und Alkohol zu Felde ziehen, überschneidet. Wie bei anderen Themen dient hier der wissenschaftliche Rahmen als Ausweis vermeintlichen Expertentums zum Zwecke der politischen Missionierung.
In diesem Zusammenhang wird gerne auf Schäden der Spielsucht für andere verwiesen. Gewiss gibt es Fälle von Extremspielern, die die Familienkasse verprassen. Der durchschnittliche Geldeinsatz von pathologischen Spielern in Deutschland liegt einer Studie zufolge bei 121 Euro pro Monat, was nahelegt, dass mehrheitlich keine Summen im Spiel sind, die zwangsläufig einen ganzen Haushalt in den finanziellen Ruin treiben. Da kennt man teurere Hobbys. Die wenigen Hardcore-Spieler, die ihren familiären und beruflichen Status gefährden, wird es immer geben. Sich wieder in den Griff zu bekommen, ist für diese eine individuelle und moralische Aufgabe. Durch Reduzierung von Spielautomaten oder anderweitige staatliche Verbotsmaßnahmen kann man jedenfalls niemanden retten, sondern nur den mündigen Spielern – sowie den Anbietern – das Leben unnötig schwer machen. Es wird Zeit, sich vom bevormundenden Ansatz der Suchbekämpfung zu verabschieden.