08.10.2018

Strafsteuern statt Dialog

Von Detlef Brendel

Titelbild

Foto: TheUjulala via Pixabay / CC0

Mehrere Organisationen haben die „Plattform Ernährung und Bewegung“ verlassen, um wie Foodwatch lauter nach Maßnahmen wie einer Zuckersteuer schreien zu können. Unseriöse Rufe, die verhallen sollten.

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und die Deutsche Adipositas-Gesellschaft sind am 18. September 2018 gemeinsam aus der Plattform Ernährung und Bewegung (PEB) ausgetreten. Dies ist ein Zu­sammenschluss von rund einhundert Partnern aus Wissen­schaft, Wirtschaft, öffentlicher Hand und der Zivilgesellschaft, die sich aktiv für eine ausgewogene Ernährung und mehr Bewe­gung als wesentliche Bestandteile eines gesundheitsförderli­chen Lebensstils bei Kindern und Jugendlichen einsetzen.

Den jetzt ausgetretenen Verbandsstrategen waren konstruk­tive Diskussionen bei PEB und gemeinsame Initiativen nicht scharf genug. Die Lebensmittelwirtschaft, so wird lamentiert, würde wieder einmal alles blockieren. Und das, obwohl sie nur ein Viertel der Mitglieder bei PEB ausmacht und wie alle ande­ren Gruppen nur eine Stimme hat.

Die Führungsriege der abtrünnigen Verbände sollte eigentlich wissen, dass der Wechsel von einer sachgerechten Diskussion zu platten Angriffen auf die Ernährungswirtschaft auf sehr brüchiges Eis führt. Das beginnt bei der alarmistischen Politisierung des Körpergewichts. Weltweit zweifeln Wissenschaftler am Sinn des Body-Maß-Index (BMI), mit dem Menschen per Definition zu Übergewichtigen (ab einem Wert von 25) und Fetten (ab 30) standardisiert werden. Durchtrainierte Sportler, die per Definition als fettsüchtig und behandlungsbedürftig gelten? Als dick identifizierte Menschen, die nach Meta-Analysen länger leben als die Normalgewichtigen? Wie relevant ist der Unterschied von Fett in Abhängigkeit von der Positionierung am Körper? Der Zusammenhang zwischen so genanntem Übergewicht, Gesundheit und Krankheit ist längst noch nicht im Detail verstanden.

„Werden Eltern durch staatliche Ernährungsregeln klüger und wohlhabender?“

Die Verbandsärzte darf das nicht interessieren, wenn sie auf der aktuellen Welle der Ernährungsagitation mitschwimmen wollen. Wer versteht schon den Stoffwechsel? Die Behauptung, an allem sei die Ernährungswirtschaft mit dem böswillig versteckten Zucker schuld, ist doch viel eingängiger und auch schon gelernt. Bei der Suche nach den Ursachen für dicke Kinder ist die kompetente Truppe allerdings auf eine neue Variante als Begründung verfallen.

Der Faktor Bewegung

Die Retter der nachwachsenden Generation haben aus Anlass ihres Austritts ihre sozio­medizinischen Erkenntnisse in einer Erklärung zusammenge­fasst, mit der sie neue Konzepte für den Schutz vor Adipositas fordern. Die Sätze der Hobby-Politiker sind eindrucksvoll. „Ein zentraler Risikofaktor ist der Bildungsstatus der Eltern.“ „Bil­dungsniveau, berufliche Stellung sowie das Haushaltseinkom­men entscheiden also wesentlich über die Gesundheit des Kin­des.“ Man zitiert aus der nationalen Kinder- und Jugendgesund­heits­untersuchung des Robert Koch-Instituts (KiGGS) und nennt eine 4,1-fach höhere Adipositas-Häufigkeit für Jungen und ein 4,4-fach höheres Risiko für Mädchen aus sozioökonomisch be­nachtei­ligten Familien. Geschickt verschwiegen wird dabei die kritische Bewertung des Bewegungsverhaltens von Kindern und Jugendlichen in der KiGGS-Studie. 1

In der Erklärung der drei Organisationen kommt nämlich ein Wort nicht vor, weil es nicht vorkommen darf. BEWEGUNG. Das Kind darf also ruhig vor der Playstation sitzen bleiben oder vom Sofa aus in sozialen Netzwerken unterwegs sein, weil oh­nehin der fehlende Bildungsabschluss der Eltern der entschei­dende Risikofaktor für die Zunahme des Körpervolumens ist. Und weil die Rasselbande von Kinderärzten nun auch Politik machen will, hat man gleich auch schon, wie in der Headline der Erklärung angekündigt, neue Konzepte. „Von der Politik ge­setzte Regeln sollten beim Essen die gesündere Wahl zur leich­teren Wahl machen, womit das Adipositas-Risiko deutlich ge­senkt werden kann.“ Werden die Eltern mit fehlender Bildung und geringem Einkommen damit klüger und wohlhabender? Ihre bildungsferne Existenz sei doch, wie mehrfach eindrucksvoll herausgearbeitet, das eigentliche Risiko für ihr Kind.

Verantwortungsvolle Ärzte werden in ihrer Praxis schon manchen Eltern und deren Kindern bei den ersten Speckröllchen den Rat gegeben haben, nicht nur vor dem Bild­schirm zu sitzen, sondern die Playstation gegen einen Fußball auszutauschen. Mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren statt mit dem Mama-Taxi, erscheint ebenso sinnvoll wie der Hinweis auf Sportvereine, die sich über Nach­wuchs freuen.

Rufe nach Regulierung

Die Vorstellungen der genannten Verbände gehen aber in eine andere Richtung. Die Kennzeichnung von Lebensmitteln soll ein­facher werden, damit jeder deren ernährungsphysiologische Details verstehen kann. Als Übergangslösung empfiehlt Dr. Thomas Fischbach, Verbands-Präsident der Kin­der- und Jugendärzte, die App „Open Food Facts“ auf das Handy zu laden. Damit lässt sich der Barcode der Produkte scannen und ein „Nutriscore“ für das jeweilige Produkt im Supermarkt ermitteln. Ein konstruktiver Vorschlag für bildungsferne Verbrau­cher? Aber von Dr. Fischbach stammt auch die Erkenntnis „Wenn ein Kind zu dick ist, bewegt es sich weniger.“ Bei einem Arzt, der Ursache und Wirkung vertauscht, sollte man immer aufpassen.

„Besonders gut lassen sich Gesunde zu Kranken machen, wenn eine neue Krankheit geschaffen wird: Prädiabetes.“

Zu den vermeintlich innovativen Konzepten gehört natürlich auch die Wer­bekontrolle für die Zielgruppe Kind und die Forderung nach der Zuckersteuer. Diese angeblich neuen Vorschläge sind identisch mit den gebetsmühlenartig vorgetragenen Forderungen von Foodwatch. Für die Foodwatch-Aktivisten ist der Zucker ein Schnelldreher im Sortiment der Agitation durch Kampagnen. Durch Skandalisierung erzielte Medienaufmerk­samkeit zur Spendenakquise funktioniert mit zuckerhaltigen Produkten, die den Menschen schmecken, bestens. Kein Nah­rungsmittel-Baustein scheint besser geeignet, die gesamte Ernährungsbranche von den Landwirten über die Hersteller bis zum Han­del als Gefährder der menschlichen Gesundheit anzugreifen.

Zucker macht über den Weg von Übergewicht die Krankheit Zucker, also Diabetes mellitus. Diese Formel ist ebenso eingängig wie falsch. Kein seriöser Mediziner würde das bestreiten. Aber wer sind eigentlich die Diabetiker, die behauptete rund 60 Milliarden Kosten in Deutschland verursachen? Es ist, und das macht den Pharmamarkt so gut steuerbar, eine Frage der Definition. Der mit Unterstützung der Aventis-Stiftung entstandene „Nationale Aktionsplan Diabetes“ pathologisiert große Teile der Bevölkerung. Eine Verschärfung der Grenzwerte erhöht die Zahl der therapiebedürftigen Menschen. Besonders gut lassen sich Gesunde zu Kranken machen, wenn eine neue Krankheit geschaffen wird: Prädiabetes. Das könnte doch jeder haben. Da freuen sich die Unterstützer der für solche Kreativität verantwortlichen Institutionen. Die Liste der finanzierenden Pharmaunternehmen ist lang.

Der wohlschmeckende Nahrungsmittel-Baustein Zucker wird im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit für Übergewicht, Diabetes und viele andere Risiken verantwortlich gemacht. Evidenzbasierte Beweise dafür braucht man nicht. Hinweise auf den inaktiven Lebensstil in einer modernen Gesellschaft und spezi­ell auf den zunehmenden Bewegungsmangel bei Kindern wer­den als korrupte und ablenkende Argumente von Industrie-Freunden nieder­geknüppelt. Was bringen Lebensmittel-Ampeln, Straf­steuern und regulierte Rezepte, wenn in der jüngeren Vergangenheit nicht etwa der Kalorienverbrauch gestiegen, sondern die körperliche Aktivität gesunken ist? Bei Foodwatch sieht man das umgekehrt.

Foodwatch und die Ärzte

Dieser Strate­gie von Foodwatch und anderen schließen sich nun die Verbände für Kinder- und Ju­gendmedizin an. Der schnelle Seitenwechsel von PEB zu Foodwatch erscheint den Ärzte-Präsidenten trendy, ist allerdings verantwortungslos. Mit einer wirren Theorie werden keine übergewichtigen Jugendlichen auf schlank getrimmt. Wer durch eine Lebensmittelampel grün gekennzeichnete Nahrungsmittel eifrig konsumiert und dabei ruhig im Sessel sitzen bleibt, wird das Phänomen der Gewichtszunahme am eigenen Körper erleben können. Und der Zucker soll wieder der Schuldige sein. Von Kalorien und deren adäquatem Verbrauch spricht niemand. Die Strafsteuer soll es richten. Das zielt auf diejenigen ab, deren Haushaltskasse ohnehin schmal ist. Schließlich sind sie ja auch als das eigentliche Risiko ausgemacht worden. Ist es eine Lösung, wenn die Limo teurer wird und dann auf Billigprodukte umgestiegen wird? Nicht der Lebensstil ist von den Preisen für Nahrungsmittel abhängig, sondern die Qualität der Produkte.

„Es bleibt die Hoffnung, dass die Ärzte in den Praxen verantwortungsvoller sind als die Funktionäre der interessegeleiteten Fachgesellschaften.“

Die politisierenden Kinderarzt-Funktionäre ficht das nicht an. Offenbar stellen sie sich ein Arztgespräch so vor: „Bei Ihrer mangelnden Bildung, liebe Frau, muss Ihre Tochter ja fett werden.“ Das wäre scheinbar der rich­tige Einstieg in ein konstruktives Gespräch. „Ihr persönliches Niveau und Ihr geringes Haushaltseinkommen können im Hin­blick auf das Gewicht Ihres Sohnes nur durch Strafsteuern kompensiert werden.“ So geht das. Bewegen wollen sich die dicken Dummen ohnehin nicht. Dann verknappen wir ihnen doch die Haushaltskasse.

Gespräche mit Fachkollegen wären hilfreich gewesen. Die wissen, dass nicht der Zucker, sondern die mangelnde Bewegung Probleme schafft. Langfristig sind die Folgen vielleicht gravierender als ein paar Pfunde auf den Hüften. Orthopäden stellen nämlich fest, dass Rückenschmerzen und versteifte Nacken bei Kindern und Jugendlichen zu einem wachsenden Krankheitsbild werden. Haltungsschwä­chen infolge einer mangelhaft ausgebildeten Muskulatur und geringe Belastungsverträglichkeit werden schon bei Grund­schülern zu einem signifikanten Problem. Liegt auch das am Zucker? Doch wohl nur dann, wenn die Eltern ihren Nachwuchs zwingen, täglich Zucker in schweren Säcken zu schleppen. Aber dafür haben die verantwortungslosen Verbandsärzte sicher die richtige Lösung. Wenn Gummibärchen und Limo zehn Cent teurer werden, bringt das auch die bildungsfernen Verbraucher zur Räson und macht Muskulatur und Rücken ihrer Kinder stärker.

Es bleibt die Hoffnung, dass die Ärzte in den Praxen verantwortungsvoller sind als die Funktionäre der interessegeleiteten Fachgesellschaften und bei den Vorsorgeuntersuchungen das Gespräch auch mit den Eltern suchen, die bei Bildungsgrad und Einkommen nicht auf Augenhöhe sind. Und dann gibt es ja auch noch gut Situierte – Dicke wie Dünne –, die eine Limo-Strafsteuer im Geldbeutel ohnehin nicht bemerken.

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