29.01.2025
Sein und Bewusstsein des Postkapitalismus (Teil 2/3)
Von Boris Kotchoubey
In der heutigen Wirtschaft gerät der Mensch als Produzent von Wohlstand aus dem Blickfeld. Er ist zudem keine Maschine, wie sie sich der Transhumanismus vorstellt.
Im Laufe der letzten 200 Jahre lebte jede Generation im Westen besser als die vorige. Dies wurde als Naturgesetz empfunden: Die Kinder sollen einen höheren Wohlstand erreichen als ihre Eltern. Allerdings war dieses Wohlstandswachstum nicht linear; er wurde immer wieder durch Krisen, wirtschaftliche Depressionen und insbesondere durch Kriege jäh unterbrochen. In diesen Zeiten stürzte der Wohlstand dramatisch ab, aber merkwürdigerweise machten diese Abstürze dem gefühlten Naturgesetz der steten Besserung nichts aus. Denn Krisen und Kriege wurden als Ausnahmezustände empfunden wie Naturkatastrophen. Die sind natürlich schrecklich, da muss man aushalten, Kräfte sammeln und weiterleben. Darauf reagiert man, wie der Marquis de Pombal 1755 nach dem verheerenden Erdbeben, in dem die ganze Stadt Lissabon vom Boden verschwand und 100.000 Menschen ums Leben kamen, auf die verzweifelte Frage des Königs „Was sollen wir jetzt tun?“: „Was tun? Die Toten beerdigen, die Lebendigen ernähren.“
Mit anderen Worten: Zwei mentale Einstellungen bestanden parallel. Einerseits das Bewusstsein darüber, dass die Entwicklung immer wieder zu Katastrophen führt, andererseits die Überzeugung, dass diese Entwicklung trotzdem ‚im Durchschnitt‘ immer ansteigt und noch schneller steigen würde, wenn ein Mittel gefunden würde, den Katastrophen vorzubeugen und sie zu vermeiden.
Von Füchsen und Zombies
Tatsächlich wurde dieses Mittel gefunden, und zwar in Form der staatlichen Unterstützung für die Wirtschaft. Wirtschaftskrisen sollten dadurch seltener und milder werden, Firmenpleiten weniger häufig, und ihre persönlichen Konsequenzen für die Inhaber abgefedert werden; Kriege wurden auf die Peripherie der Welt verdrängt, und in der Zeit zwischen 1991 und 2022 konnten vorzügliche Optimisten sogar auf deren Verschwinden hoffen.
Man wusste zwar, dass dieses Mittel bereits in der Mitte des 20. Jahrhundert vom italienischen Korporatismus und dem deutschen nationalen Sozialismus mit ausgesprochen negativen Folgen ausprobiert worden war. Aber man hegte den falschen Gedanken, dass wenn die staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft weniger radikal ausfallen, sie auch weniger tief greifen. Das Gegenteil kann der Fall sein: Weniger aggressive Maßnahmen fallen weniger auf, ihre unmittelbaren Folgen sind weniger dramatisch, sie rufen keinen Widerstand hervor, und deshalb können sie langfristig (über Jahrzehnte) sogar tiefer an das Fleisch gehen als radikale Maßnahmen der Faschisten und der Nazis.
In der UdSSR waren Silberfüchse neben Erdöl, Gas und Holz eine wichtige staatliche Einnahmequelle. Die Tiere sind aber höchst aggressiv (viel aggressiver als z.B. Rotfüchse), weshalb die Silberfuchsbetriebe kaum Mitarbeiter finden konnten, die sich täglich dem Risiko stellen wollten, schwer gebissen oder gekratzt zu werden. Auch die Impfung gegen Tollwut löst das Problem nicht: Die Wunden können derart gefährlich werden, dass sie auch durch banale Infektionen (also keine Tollwut oder Tetanus) zum Verlust einer Gliedmaße führen können. Deshalb beauftragte die Regierung die Abteilung für Verhaltensgenetik der Universität Moskau, eine nicht-aggressive Rasse der Silberfüchse zu züchten. Die Forscher bewältigten diese Aufgabe ausgezeichnet und formierten Silberfüchse, die keine Menschen mehr angriffen. Leider gab es einen Nebeneffekt: Das Fell dieser Tiere war wertlos. Was man nicht wissen konnte: Die Fellqualität war mit dem Verhalten genetisch verknüpft; man kann das eine nicht ändern, ohne dass sich das andere ändert.
Die neuere Geschichte des Kapitalismus repliziert diese Geschichte der Silberfüchse. Auch er war hochproduktiv und zugleich hochaggressiv. Auch er konnte in den letzten Jahrzehnten erfolgreich domestiziert werden – aber das Fell ist weg.
„Ohne Risiko gibt es kein Wachstum, und mit dem Schwinden des Wachstums schwindet auch die Hoffnung.“
Als „Zombie“ wird in der Wirtschaft ein Unternehmen bezeichnet, das sich drei Jahre nacheinander nicht rentiert, wobei das erste dieser drei Jahre außerhalb der ersten sieben Jahre nach der Gründung liegen muss. D.h. ein Zombie kann nur ein Unternehmen sein, das mindestens zehn Jahre existiert. Mit dem Verschwinden oder der Abmilderung von Wirtschaftskrisen begann die Zunahme der Zombie-Unternehmen; wenn ihre Zahl ein bestimmtes Prozent von allen Unternehmen übersteigt, spricht man von einer Zombie-Wirtschaft. Profitlose Firmen vegetieren jahrelang dahin, werden immer wieder umgeschuldet (in virtuellem Geld selbstverständlich, siehe im ersten Teil die Pfeife von René Magritte), und letztendlich werden ihre Verlustgeschäfte über mehrere Stationen der Staatsbürokratie vom Steuerzahler beglichen.
Die Überproduktionskrisen, die den klassischen Kapitalismus charakterisierten, waren nicht nur Katastrophen, sondern sie erfüllten eine kathartische Funktion, indem sie den Markt von der Masse ineffizienter Akteure bereinigten, die keinem nutzten außer sich selbst. Die Politik des künstlichen Schutzes für Produzenten führte deshalb zum Absturz der Effizienz, und dieser Prozess hat eine positive Rückmeldeschleife1: Je mehr Teilnehmer ineffizient sind, desto weniger motiviert das alle anderen, effizienter zu werden. Das Risiko lohnt sich nicht mehr.
Größere Unternehmen werden besonders risikoscheu. Viele haben einen Risikomanager, der sein Gehalt gerade dafür bekommt, dass er bei jeder Entscheidungsoption deren negativen Aspekte hervorhebt und versucht damit, auch minimale Risiken auszuschließen. Theoretisch sollte der CEO die Argumente seines Risikomanagers gegen die Überlegungen über mögliche Vorteile der diskutierten Option abwägen. In der Praxis aber ist das persönliche Risiko des CEO unvergleichbar höher, wenn er gegen die Meinung des Risikomanagers fehlerhaft entscheidet, als wenn sich seine Übereinstimmung mit dem Risikomanager als Fehler erweist; also ist in dieser Struktur die Vermeidung aller kleinsten Risiken die optimale Strategie.
Ohne Risiko gibt es aber kein Wachstum, und mit dem Schwinden des Wachstums schwindet auch die Hoffnung. Die nach 2000 geborene Generation ist die erste, deren Wohlstandsniveau, gemessen in den Reallöhnen und realen Leistungen, niedriger ist als das Niveau ihrer Eltern und Großeltern, und dies ohne Kriege, Erdbeben und sonstige Erschütterungen. In Deutschland haben die meisten arbeitenden Menschen mittleren Alters keine Chancen mehr, aus der Miete auszusteigen und ein Eigenheim zu erwerben. Und da fragt man sich, warum man keine Lust auf Arbeit hat und warum so viele Jüngere radikale Parteien wählen. Wir machen damit eine neue, seit vielen Jahrzehnten unbekannte Erfahrung, denn die klassische kapitalistische Epoche war die Epoche des grundsätzlichen Optimismus, und zwar keines solchen, der meinte, das Heute sei gut, sondern eines, der glaubte, morgen sollte es besser werden. Dieser grundsätzliche Optimismus ist jetzt dahin, und der Fortschrittsglaube sieht gekünstelt aus wie eine Werbekampagne.
„Die Trennung zwischen dem nominalen Geld und den realen Werten potenziert die Eingriffsmöglichkeiten des Staates tausendfach, da dieser jetzt als Marktfaktor mit unbegrenzten Mitteln auftreten kann.“
Der russische Blogger Oblomov berichtet, dass er in Verbindung mit zahlreichen Kollegen aus Russland, den USA, Großbritannien und Kanada steht und keinen einzigen in der Altersklasse unter 35 kennt, der in die Zukunft optimistisch blicken würde. Dabei fehlt ein apokalyptisches Gefühl („das Ende ist nah“) vollständig. Diese jungen Menschen fürchten keine Katastrophe wie etwa einen Atomkrieg, sondern bloß eine allgemeine, langsame, aber unaufhaltsame Verschlechterung aller Umstände. „Die Welt versinkt in Dunkelheit nicht wegen unserer Fehler oder böser Taten anderer Menschen, sondern infolge der Eigenschaft von Raum und Zeit, in dem und in der wir leben.“ Auch die Epidemie von 2020 wird nicht als Zäsur, als Bruch empfunden, sondern als noch einen der vielen kleinen Schritten in die gleiche Richtung. „Es gibt keine Katastrophen, aber das Leben wird mit jedem Jahr ein bisschen schlechter. Ein bisschen niedriger der Lebensstandard, ein bisschen weniger Freiheit, ein bisschen fahlere Filme und Spiele, ein bisschen stärker soziale Atomisierung“.
Die oben erwähnte Trennung zwischen dem nominalen Geld und den realen Werten potenziert die Eingriffsmöglichkeiten des Staates tausendfach, da dieser jetzt als Marktfaktor mit unbegrenzten Mitteln auftreten kann. Wer Geld ohne Ende hat, kann sich (fast) alles und (fast) jeden kaufen, einschließlich Wissenschaft und Kunst, die ihre Freiheit verlieren und zu Dienstmägden der staatlichen Politik entarten. Der Weg ist dann eröffnet zu einem extremen Etatismus, der die Lücke zwischen Produktion und wirtschaftlichem Erfolg unüberbrückbar macht: Man braucht keinen Erfolg bei Kunden, wenn man den Großkunden Staat hinter sich hat. Wozu hohe Verkaufszahlen, wenn der Unternehmer durch gute Lobbyarbeit allein mit einem Rabatt auf die künstlich verteuerte Energie mehr Geld erspart, als er mit hochwertigen Produkten verdienen könnte? Wozu an einem Kunstwerk arbeiten, das vielleicht als Meisterwerk in die Geschichte eingeht (vielleicht auch nicht), wenn man schnell eine literarische oder Bühnenproduktion zu politisch aktuellen Themen zusammenbasteln kann, was zwar beim Leser bzw. Zuschauer nur Gähnen bis Kotzen hervorruft2, aber mit staatlichen Geldern, eventuell auch mit Preisen und Prämien überhäuft und von den Kritikern (die sich am gleichen staatlichen Trog ernähren) zum Himmel gelobt wird? Wozu ein Lied komponieren, das zum Verkaufsschlager aufsteigen und von Tausenden gesungen werden könnte, wenn man mit politisch genehmen Texten „gegen alles Böse und für alles Gute“ bis ans Ende seiner Tage wirtschaftlich abgesichert wird?
Menschsein als Ursünde
Da die subjektiv wichtigsten (weil gewinnbringenden) Dienstleistungen die Massen arbeitender Produzenten außer Acht lassen, treten Menschen in diesem System immer weiter in Hintergrund, sie werden nicht mehr als Arbeitskraft angesehen, sondern als Störfaktor, dessen Wirkung es um jeden Preis zu reduzieren gilt. Ich nehme an, dass der typische Leser dieses Artikels nicht zu den Milliardären gehört, aber auch er könnte sich fragen: Was stört uns am meisten, auf der Straße, in einem Museum, an einem Strand? Natürlich die Menschen, und zwar die anderen Menschen. Man selbst ist niemals ein Overtourist.
Die erste Ursache der Menschenverachtung ist die oben erwähnte Trennung zwischen Geldverdienen und Produktion. Soweit letztere zum ersteren (anscheinend) nicht beiträgt, bleibt für einen Gutverdienenden unklar, wozu es diese produktiv arbeitenden Menschen überhaupt gibt. Alles ist ja „einfach da“: Der Strom kommt aus der Steckdose, die Brötchen wachsen auf den Bäumen, der Sprit ist zu jedem Augenblick in jeder Tankstelle, die Autos verbrauchen pro 100 Kilometer immer weniger davon, und die Kanalisation funktioniert scheinbar, ohne dass jemand (insbesondere die verachteten Vertreter technischer Berufe) dafür nötig wäre. Welche technische Präzision, welche Anstrengung der menschlichen Köpfe und Hände notwendig sind, damit in Deutschland unter den Bedingungen der Energiewende immer noch kein Blackout standgefunden hat, interessiert fast niemanden.
„In der Wahrnehmung eines Managers ist der Arbeiter keine produktive Kraft mehr, sondern nur ein Kostenfaktor.“
Die Werte – und zwar nicht nur materielle, sondern auch kulturelle und geistige – werden nicht mehr als Produkte der menschlichen Aktivität angesehen. Diese Aktivität wird ausschließlich als Störung wahrgenommen. In der Wahrnehmung eines Managers ist der Arbeiter keine produktive Kraft mehr, sondern nur ein Kostenfaktor. In der Wahrnehmung eines Autofahrers sind andere Autofahrer die Ursache von Stau und nicht die Hersteller des Wagens, mit dem er gerade fährt. Der Wagen ist „bloß da“.
Dieses „alles ist da“ betrifft nicht nur Lebensmittel und Kleidung, Auto und Urlaub, sondern auch Freiheit und Demokratie, Menschenwürde und Bürgerrechte. Auch sie werden nicht durch stete geistige Anstrengung am Leben gehalten (was für den deutschen Dichterfürsten noch „der Weisheit letzter Schluss“ war), sondern sind einfach vorhanden. Wer für diese Werte kämpft, um sie „täglich zu erobern“, ist genauso sonderbar und altmodisch, ein Relikt vergangener Epochen, wie derjenige, der montags bis freitags um 6 Uhr aufsteht, um materielle Werte herzustellen, statt einfach „auf Staatsknete“ zu leben. Aber dies wäre ein Thema für sich.
Subjektive Ursachen kommen zu den beschriebenen objektiven hinzu. Der moderne Kapitalist baute entweder sein Vermögen relativ langsam und mühsam auf oder erbte es. D.h. er wuchs entweder in die Oberschicht hinein oder wurde dort hineingeboren. In den beiden Fällen musste er nicht beweisen, dass er sich von den Nichtvermögenden unterscheidet. Dieser Unterschied war offensichtlich, und das Offensichtliche beweist man nicht. Die Fälle eines raschen Aufstiegs waren selten und meistens auf Krisenzeiten begrenzt.
Wenn aber das große Geld nicht mehr in der Produktion, sondern in der Kommunikation (auf Deutsch: Blabla) gemacht wird, wird ein schneller Aufstieg zur Regel. Daraus folgt das Bedürfnis zu verstehen, warum man eigentlich reich geworden ist, während andere „da unten“ geblieben sind. Aus den Biografien von Menschen, die große Summen in der Lotterie gewannen, ist bekannt, dass sehr schneller Reichtum sogar traumatisieren kann. Die Erklärung wird im Glauben an die gerechte Welt gefunden: Mein wirtschaftlicher Aufstieg beweist, dass ich ein besserer Mensch bin.
„Der offene, dreiste und unverhohlene Menschenhass ist en vogue, und keiner schämt sich mehr, Tausende, Millionen oder Milliarden Menschen zu hassen.“
Diese Nouveau-Riche-Mentalität gesellt sich zu den objektiven, durch Veränderung und Verlagerung von Produktionsprozessen, durch Aufblasen von unproduktiven Wirtschaftszweigen bedingten Faktoren hinzu und führt über bloße Entfremdung und Verachtung der produktiven Klasse hinaus zu deren Entmenschlichung. Die Vertreter der US-amerikanischen politischen Elite sagen immer offener, dass sie die Menschen, die den materiellen Wohlstand des Landes schultern, als Untermenschen, als Müll betrachten; alle darauffolgenden Beteuerungen – „man hat uns falsch verstanden“ – können diese Einstellung nicht abmildern. In Deutschland sind die politischen Äußerungen etwas subtiler, aber die Bauern sind natürlich verkappte Nazis.
Alles zusammen führt zum Anstieg der neo-malthusianischen Ideologie. Laut dem Neo-Malthusianismus können alle globalen Probleme der Gegenwart darauf zurückgeführt werden, dass es zu viele Menschen gibt. Inzwischen hat der Neo-Malthusianismus die ganzen gehobenen Mittelschichten von der Beamtenschaft bis zu den sich um den staatlichen Futtertrog drängenden Antikulturschaffenden erreicht. Meistverbreitet ist er bei den Grünen. Für diese ist, um Protagoras zu paraphrasieren, der Mensch das Maß und die Quelle aller bösen Dinge. Alles Schlimme, was passiert oder auch vielleicht in hundert Jahren passieren könnte, hat nur einen Grund: Die Aktivität der Menschen und ihre bloße Existenz auf dem Planeten. Die wichtigste Aufgabe eines Menschen auf der Erde ist laut Grünen die maximale Verringerung seines ökologischen Fußabdrucks, d.h. der Spur, die er durch sein Dasein hinterlässt. Selbstverständlich ist der Fußabdruck am kleinsten, wenn man gar nicht lebt, und erst recht keinem weiteren Menschen das Leben schenkt. Das „ökologische Bewusstsein“ bedeutet in dieser Ideologie, dass der Mensch täglich an seine unverzeihliche Schuld denkt, die darin besteht, dass er ein Mensch ist, dass er isst, atmet und sich bewegt.
Aber das Thema ist längst über die Grenzen der grünen Fanatiker hinaus in die weite Welt und ins gesamte politische Spektrum von Kommunisten und Sozialisten über Bürgerliche bis zu den Rechtsliberalen eingestiegen. Wenn ich versuchen würde, eine einzige These zu finden, bei der die meisten Politiker und politisch Denkenden verschiedenster Couleurs trotz aller Kontroversen miteinander gleicher Meinung sind, dann ist es: Die Ursache aller wichtigsten Probleme und Krisen ist die Überbevölkerung der Erde. Der offene, dreiste und unverhohlene Menschenhass ist en vogue, und keiner schämt sich mehr, Tausende, Millionen oder Milliarden Menschen zu hassen. „Der Mensch ist die Krebskrankheit der Erde“, sagt ein Arzt, der kraft seiner Ausbildung ganz genau weiß, dass Krebs nur auf eine einzige Art und Weise ausgeheilt wird, nämlich wenn alle Krebszellen – alle menschlichen Individuen in seiner Metapher – ohne Ausnahme getötet werden.
Diese prinzipiell neue Form der Menschenverachtung sollen wir nicht mit den aus der Geschichte bekannten Formen verwechseln. Dass Mensch seit seiner Geburt ein Sünder, ein verlorenes Wesen ist, lehrt auch die christliche Kirche seit Jahrhunderten. Aber sie zeigt auch die verschiedenen Wege der Überwindung dieser Ursünde: vom reinen Glauben an Gott und an Jesus als persönlichen Retter bis zum einfachen Kauf eines Ablassbriefes. Seiner Ökosünde kann der Mensch dagegen nicht entgehen: Jede physiologische Aktivität seines Körpers (z.B. Atmung) führt unausweichlich zu einem negativen Impakt auf das Ökosystem Erde.
„Die Theoretiker der Postmoderne schrecken nicht von der Aussage zurück, die meisten Menschenwesen seien vollkommen nutzlos.“
Die Verachtung der Unterschichten in Standes- und insbesondere in Kastengesellschaften unterschiedet sich ebenfalls von der gegenwärtigen Form in einem wichtigen Punkt: Die Epsilons sind zwar verachtenswert, aber im Gesamtaufbau der Gesellschaft notwendig. Die niederen Klassen wurden von den höheren herabgeschaut, oft sogar als unwürdige Halbmenschen-Halbtiere angesehen, doch wurde niemals in Frage gestellt, dass der weise Kreator der sozialen Hierarchie auch für diese Untermenschen einen Platz und eine nützliche Funktion gefunden hat. Das hat sich heute radikal geändert, und die Theoretiker der Postmoderne schrecken nicht von der Aussage zurück, die meisten Menschenwesen seien vollkommen nutzlos.
Einer der höchstbezahlten Aktivisten des deutschen Staatsfernsehens vergleicht Kinder mit Ratten, die ausgerottet werden sollen. Jacques-Yves Cousteau, der berühmte Meeresforscher, meint, dass zur Erhaltung der Erde „täglich 350 000 Menschen eliminiert werden müssen“ (ein für Heinrich Himmler völlig unerreichbares Tempo), wobei er immerhin einer der wenigen Menschenfresser ist, der dabei das Wort „leider“ hinzufügt. Um welche Dimensionen es sich handeln könnte, zeigt ein harmloser wissenschaftlicher Artikel, der über Messungen des von Menschen ausgeatmeten Methans (CH4) berichtet. Da die Standardkonzentration von Methan in der Atmosphäre bei 2 Teilen pro Million (in der Fachsprache: 2 ppm) liegt, wurden Personen als „Methanproduzenten“ definiert, deren ausgeatmete Luft 3 ppm oder mehr von Methan beinhaltete. Insgesamt fand die Studie heraus, dass 31 Prozent der Menschen nach dieser Definition Methanproduzenten sind, bei den über 30-Jährigen sogar 40 Prozent. Wenn also Sie, verehrter Leser, über 30 sind, beträgt die Wahrscheinlichkeit ganze 40 Prozent, dass Sie ökologisch gesehen ein Schädling sind, und Sie können diese Tatsache nicht einfach durch ein ökobewusstes Verhalten ändern, weil die Studie keine Wirkung der Essgewohnheiten darauf feststellte, ob man ein Methanproduzent ist oder nicht. Zum Vergleich: Laut der nationalsozialistischen Rassenlehre gehörten weniger als ein Prozent der deutschen Bevölkerung 1933 zu den „Volksschädlingen“ (vgl. hier); ebenfalls bei ca. einem Prozent lag die Zahl der Personen, die im stalinistischen „großen Terror“ (1936-38) zu den „Volksfeinden“ bzw. „Klassenfeinden“ gezählt wurden.
Ein Autor eines Leserbriefes an eine christlich-konservative (!) Zeitschrift behauptet, dass die meisten Probleme unserer Zeit verschwinden, wenn die Menschheit auf 900 Millionen reduziert wird. Auf meinen Hinweis, dass der gute Christ an nichts Geringeres als einen tausendfachen Holocaust denkt, antwortete die Redaktion seelenruhig, dass sie für den Inhalt der Lesebriefe keine Verantwortung trägt. Und wer einen Vergleich mit dem Holocaust im Land des Holocaust ungeeignet findet, soll dem Präsidenten des Potsdamer Instituts für Klimaforschung zuhören, der eine „globale ‚Kulturrevolution‘“ fordert. Wenn allein in China in der Kulturrevolution bis zu 20 Millionen Menschen getötet und 100 Millionen traumatisiert hat, so kann man einfach per Dreisatz die erwartete Zahl der Opfer einer weltweiten Kulturrevolution ausrechnen.
Menschen haben keinen Zweck
Ich habe bereits darüber geschrieben, dass der Judenhass, der wie die Pest im 14. Jahrhundert seit einem Jahr in den westlichen Metropolen und Universitätsstädten umherzieht, lediglich der Ausdruck vom allgemeinen Menschenhass ist. Die meisten Israelhasser sind auch Deutschlandhasser und Amerikahasser, allgemeiner Demokratiehasser. Der Vergleich des Menschen mit der „Krebskrankheit der Erde“ stammt aus dem Lexikon arabischer Terroristen, die Israel schon immer als „Krebstumor“ bezeichnet haben. Dieselben Medien, die Corona-Hysterie verbreiteten und Klima-Hysterie weiterhin verbreiten, beschäftigen sich nach dem 7. Oktober 2023 mit der Verharmlosung des antisemitischen Terrors. Dieselben US-Universitäten, die ansonsten jeden Hauch einer freien Meinungsäußerung verbieten, erlauben oder befürworten sogar offene Aufrufe zum Judenmord, weil ein Verbot dieser Aufrufe angeblich gegen universitäre Freiheit verstoßen würde. Von ganz odiösen Figuren wie Greta schweigen wir an dieser Stelle lieber.
Die Verachtung von Menschen wird bestätigt und verstärkt durch das falsche Menschenbild, das den biologischen Körper des Menschen mit einer Maschine und sein Gehirn mit einem Computer gleichsetzt. In der Tat wäre es eine sehr ineffiziente Maschine und ein wenig leistungsfähiger Computer. Das menschliche Gehirn verarbeitet Daten etwa zwei Millionen Mal langsamer als der Laptop, mit dem ich jetzt arbeite. Daraus folgt, dass „die Wissenschaft“, eine treue Dienstmagd der Drittmittelgeber, diese Maschine entweder optimieren oder gar durch bessere Maschinen ersetzen soll. Im ersteren Fall handelt es sich um eine Ideologie des „neuen Menschen“ (Viktor Frankenstein lässt grüßen), im letzteren Fall um Robotik und die künstliche Intelligenz.
„Der Mensch ist mitnichten einer Maschine ähnlich, lebendige Körper funktionieren auf vollkommen anderen Prinzipien, schon deshalb, weil sie im Gegensatz zu Maschinen keinen Zweck haben.“
Während die erstgenannte Richtung wenig mehr als ein Gemisch eines abgebrochenen Philosophiestudiums und einer alchemieähnlichen Scharlatanerie darstellt, besitzt die letztere trotz der contradictio in adjecto (künstliche Intelligenz ist ein rundes Quadrat) eine gewisse rationale Basis, indem sie auf einer revolutionierenden Informationstechnologie aufbaut. Doch auf dieser Technologie obendrauf sitzt eine naive Ideologie. Der Mensch ist mitnichten einer Maschine ähnlich, lebendige Körper funktionieren auf vollkommen anderen Prinzipien, schon deshalb, weil sie im Gegensatz zu Maschinen keinen Zweck haben. Nicht umsonst führten technologische Revolutionen zwar manchmal zu kurzfristigen Massenentlassungen, mittelfristig erhöhten sie die Beschäftigungsquote aber statt sie zu senken. Mit dem Verschwinden des einst so verbreiteten Berufs Stenotypistin sank die Beschäftigungsquote von Frauen nicht.
Natürlich können einige Jobs durch Robotisierung und KI ersetzt werden. Aber ich kenne fast keinen Menschen, der sich nicht darüber beschwert, dass vorhandene digitalisierte Systeme unbequem, unhandlich, schwerfällig, manchmal untauglich sind, dass sie die Arbeit erschweren, statt sie zu erleichtern, und dass es mit Papier und Bleistift sogar schneller ginge. Doch auf diese Beschwerden wird sofort geantwortet, dass die Systeme natürlich noch nicht ausgereift seien, dass man noch ein paar weitere Jahre Entwicklung, noch leistungsfähigere Rechenzentren, noch ein bisschen Geduld, noch etliche Milliarden staatliche Investitionen brauche, und die Systeme werden einwandfrei funktionieren. Alles, um nicht die offensichtliche Wahrheit anzuerkennen, die E. M. Foster bereits 1909 (!) klar eingesehen hat: Dass es Funktionen gibt, die nie und nimmer von künstlichen Systemen, sondern nur von intelligenten Lebewesen (sprich: Menschen) ausgeführt werden können, und dass die Übertragung dieser Funktionen an Maschinen zu Katastrophen, im äußersten Fall sogar zur Auslöschung der gesamten Menschheit führen kann.
Ohne diesen Punkt hier zu vertiefen, unterstreichen wir das an dieser Stelle Wichtigste: Es handelt sich um einen für kranke Systeme typischen selbstverstärkenden Schaltkreis. Der ganze Giftstrauß der transhumanistischen Mythologie ist einerseits das Resultat der auf den veränderten Produktionsverhältnissen basierten Geringschätzung von Menschen „da unten“. Andererseits aber verfestigt die Ideologie diese Menschenverachtung durch den Irrglauben, dass jene Unwürdigen entweder mit Genmanipulationen, neurowissenschaftlichen Methoden o.ä. zu wohlfunktionierenden und (vor allem) absolut gehorsamen Automaten „optimiert“ werden. Oder sie werden als unnützer Ballast der Evolution aussterben und von „intelligenten Maschinen“, „Algorithmen“ usw. ersetzt, welche den Reichen und Schönen auch ohne Zutun der stinkenden Bildungsfernen alles umsonst ans Bett liefern werden.