24.01.2025

Sein und Bewusstsein des Postkapitalismus (Teil 1/3)

Von Boris Kotchoubey

Titelbild

Foto: Charles & Hudson via Flickr / CC BY-SA 2.0

Der Übergang von der modernen Industrie- zur postmodernen Dienstleitungsgesellschaft rückt die Produktion in den Hintergrund. Das verändert auch die soziale Schichtung.

Andreas Zimmermann stellte neulich in seiner Artikelserie bei der Achse des Guten (von hier bis hier) die Frage, wer an der gegenwärtigen Misere schuld ist. Ich will das Gewicht dieser Frage nicht in Zweifel ziehen. Aber sie muss mit einem Nebenpart parallelisiert werden, indem das W-Wort nicht nur „wer“, sondern auch „was“ lautet. Dies entspricht dem philosophischen Unterschied zwischen Ursachen und Gründen, denn das menschliche Verhalten (ich wage an dieser Stelle eine zugegeben riskante Hypothese, dass Politiker Menschen und keine bloßen Machtmaschinen sind) hat Gründe, während historische Ereignisse auch Ursachen haben.

Die zwei Fragen, die nach der Schuld und die nach den Ursachen, stehen nicht nur in keinem Widerspruch zueinander, sondern ergänzen einander notwendigerweise. Ein pervertiertes soziales System, in dem kriminelles Verhalten belohnt wird, schließt die individuelle Schuld und damit die strafrechtliche Verantwortung jedes konkreten Verbrechers nicht aus; aber schließlich wird das Problem erst dann gelöst, wenn die objektiven Ursachen der Kriminalität verstanden und beseitigt werden. Die nationalsozialistische Ideologie wurde in den Jahren nach 1945 deshalb so erfolgreich bekämpft, nicht nur weil viele (leider nicht alle) Schwerstverbrecher bestraft wurden, sondern auch weil das Phänomen Nationalsozialismus mit seinen wirtschaftlichen, sozialen, psychologischen und anderen Ursachenfaktoren analysiert wurde, und sogar der Umstand, dass viele dieser Analysen grob fehlerhaft waren, hatte positive Wirkung, weil diese Fehler zusätzlich die Komplexität und Vielschichtigkeit des untersuchten Phänomens unterstrichen.

Ich möchte in diesem Text die das Schuldthema ergänzende Frage nach objektiven Ursachen der gegenwärtig beobachteten Trends angehen. Ich vermute, dass dabei einige Grundannahmen der marxistischen Logik behilflich sein können, obwohl sie uns zu Schlussfolgerungen führen, die Marx wahrscheinlich nicht gefallen würden. Dem klassischen Marxismus folgend gehe ich davon aus, dass die gegenwärtige soziale Schieflage (wie auch alle früheren Schieflagen, die es in der Geschichte genügend gab) vor allem als ein wirtschaftliches Ausbeutungsverhältnis verstanden werden soll, und dass ohne dieses Verständnis die Analysen dieser Schieflage auf Oberfläche bleiben. Diese Idee teile ich mit mehreren „alten Linken“; im Gegensatz zu ihnen behaupte ich aber, dass es sich um eine prinzipiell neue, nie dagewesene Ausbeutungsform handelt. Die Analysen von der linken Seite, die die Gegenwart in veralteten Zombie-Begriffen zu erfassen versuchen (meistens als „Kapitalismus“, „Imperialismus“, aber es gibt auch weiter in die Vergangenheit greifende Bezeichnungen wie z.B. „Techno-Feudalismus“), müssen m.E. notwendigerweise scheitern wie jeder Versuch, zweimal in dasselbe Wasser zu treten.

„In jeder menschlichen Gesellschaft waren, sind und werden Menschen sein, die auf Kosten anderer Menschen leben wollen.“

Da ich im Gegensatz zu Karl Marx keinen Anspruch auf eine erschöpfende Erklärung aller Geschichtsvorgänge erhebe und deshalb keinen Text eines mit „Das Kapital“ vergleichbaren Umfangs vorhabe, kann ich hier nur ein grobes Schema der wichtigsten kausalen Verbindungen darstellen. In der Tat sind die Prozesse viel weniger geradlinig als sie in dem folgenden Schema erscheinen können; sie erhalten zahlreiche Rückmeldeschleifen, die meisten davon leider positive1, von denen nur wenige angesprochen werden.

Parasitäre Demokratie

In jeder menschlichen Gesellschaft waren, sind und werden Menschen sein, die auf Kosten anderer Menschen leben wollen. Über anthropologische und sozialpsychologische Gründe dieses Phänomens gibt es bereits eine ganze Bibliothek der Literatur, die uns hier aber nicht interessiert. Von Belang ist lediglich seine absolute Allgegenwart.

Die Methoden, mit denen man ein glückliches Schmarotzerleben führen kann, können sehr unterschiedlich sein. Ein Held aus russischen Schelmenromanen sagte, er kenne vierhundert „relativ legale“ (d.h. im StGB nicht ausreichend definierte) Methoden, das Geld den Taschen der Bürger zu entnehmen. Doch die meistverbreitete Methode in der Geschichte war einfach brutaler Raub. Die meisten Adelsgeschlechter sind Nachkommen der Räuber, die mit roher Gewalt andere Menschen gezwungen haben, ihnen einen Luxus zu gewährleisten (wobei der Begriff Luxus extrem von Ort und Zeit abhängig ist; heute würde keine kleinbürgerliche Familie die Lebensqualität einer mittelalterlichen Burg akzeptieren; und in der Antike konnten sich manche Könige kein Thermalbad leisten, wie es jeder römische Bürger genießen konnte).

Aber wie auch immer die Parasitenklassen in der Gesellschaft entstanden und mit welchen Mitteln sie den Rest der Gesellschaft ausbeuteten, eines steht fest: Diese Klassen waren immer zahlenmäßig klein. Das hat eine einfache arithmetische Ursache: Damit die Ausgebeuteten zum einen den Ausbeutern alles Notwendige für deren schönes Leben liefern und zum anderen ihr eigenes Überleben sichern (denn wenn sie nicht überleben könnten, wen müssten dann die Ausbeuter an ihrer Stelle ausbeuten?), mussten sie (die Ausgebeuteten) in der Mehrheit sein. Damit ein französischer Adliger im 18. Jahrhundert sein Leben am Pariser Hof standgemäß führen konnte, musste eine vierstellige Zahl von Bauern und Handwerkern für ihn arbeiten. Von den Guinness-verdächtigen Gestalten, wie dem Graf Piotr Scheremetew (1713-1788), für dessen Wohl fast eine Million Leibeigene gesorgt haben, gar nicht zu sprechen. Der Einwand, dass es sich nicht immer um eine Ausbeutung in Reinform handelt (Schutzfunktionen der Feudalherrscher im Früh- und Hochmittelalter, organisatorische Funktion der Unternehmer im Kapitalismus), ist korrekt, ändert aber nicht den demographischen Fakt. In der Frühneuzeit verlor der Adel seine Schutzfunktion vollständig, aber die Ausbeutung der unteren Klassen ist damit nur schlimmer geworden.

„Heute kann ein Bauer Dutzende wohlständige Familien mit allem versorgen. Die Produktiven müssen nicht mehr aus rein arithmetischen Gründen eine Mehrheit bilden.“

Laut einer Legende wollte eine antike Regierung beschließen, dass alle Sklaven ein weißes Band am Handgelenk tragen müssen, damit man auf der Straße auf den ersten Blick einen Sklaven von einem Freien unterscheiden kann. Ein weiser Senator legte gegen diesen Beschluss sein Veto ein: Die Sklaven, sagte er, würden sofort sehen, dass sie in der großen Mehrheit sind, und können daraus einige uns unerwünschte Schlussfolgerungen ziehen.

Se non è vero, è ben trovato. Im Laufe der Geschichte hatten die unproduktiven Klassen der Ausbeuter auf ihrer Seite oft den gesamten Gewaltapparat, die Schwerter und Kanonen, die Polizei und die Armee, die Propaganda und sogar die bloße körperliche Kraft, weil sich die Oberschicht besser ernähren konnte. Gegen all diese Vorteile hatten die Ausgebeuteten auf ihrer Seite eine einzige, aber effektive Waffe: ihre schlichte Quantität. Deshalb kämpften in der Geschichte die produktiven Gruppen immer für eine quantitative Demokratie, d.h. die Macht der arithmetischen Mehrheit.

Die Demokratie war – zusammen mit mehreren weiteren Faktoren, die an dieser Stelle nicht untersucht werden müssen – eine der Grundlagen für den steilen Produktivitätsanstieg, den wir seit Beginn der Industriellen Revolution beobachten. Aber mit der hohen Produktivität geht die so gut in der Geschichte bewährte Waffe der Produktiven verloren. Früher mussten eintausend Bauern einen Aristokraten ernähren; heute kann ein Bauer Dutzende wohlständige Familien mit allem versorgen. Die Produktiven müssen nicht mehr aus rein arithmetischen Gründen eine Mehrheit bilden. Im Gegenteil kann die parasitäre Oberschicht sich eine gigantische Stütze aus einer genauso parasitären (aber tausendfach zahlreicheren) Unterschicht bilden, indem sie zusammen, wie zwei Greifbacken einer Zange, die kleine produktive Mittelschicht auspressen. Wenn sich aber in einer Gesellschaft eine solche Unterschicht aus historischen und kulturellen Gründen nicht ohne weiteres bilden lässt, dann wird sie einfach importiert.

Das soll verdeutlichen, wie irrig die in den rechten Kreisen verbreitete Meinung ist, seit 2015 könne „jeder, wer will“ nach Deutschland kommen. Die großen Schwierigkeiten, die hierzulande ausländische Ärzte, Wissenschaftler, Musiker, Lehrkräfte mit hervorragenden Deutschkenntnissen erleben, zeigen, dass es eben nicht jeder kommen kann, der will, sondern nur der, der bestimmten Kriterien entspricht. Es ist nicht wahr, dass die Bevölkerung in Syrien oder Nordafrika in ihrem größeren Teil aus den Menschen besteht, die uns hier präsentiert werden (an dem Tag, an dem ich dies schreibe, gab es bereits drei Meldungen über Angriffe von Neuangekommenen mit Tötungsabsicht – und es ist erst 16:50 Uhr).

„Ob die Politiker absichtlich und planmäßig oder rein intuitiv und gefühlsmäßig agieren, bleibt ohne Belang.“

Höchstens teilweise ist die Aussage richtig, dass das Problem der Einwanderer darin bestehe, dass sie „einer anderen Kultur“ entstammen, denn das Wort „anders“ ist mehrdeutig. Für die arbeitende Mittelschicht sind diese Menschen „anders“ im Sinne von unähnlich. Für die parasitäre Oberschicht sind sie dagegen „anders“ im Sinne einer Ergänzung: Die einen suchen diejenigen, die von ihnen abhängig sind, und die anderen suchen solche, von denen sie gerne abhängen wollen. Sie passen zueinander wie Yin und Yang, und die Wählerverteilung in den USA bietet ein klares Bild dazu: Von den zwei großen politischen Parteien wird die eine vorwiegend von Menschen mit mittleren bis höheren Einkommen gewählt, die andere von sehr Reichen und von sehr Armen, grob gesagt von Milliardären und Sozialhilfeempfängern.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an einen glücklichen Fall in meiner Familie. Mein Großvater war selbständiger Handwerker in einem Vorort von Moskau. In der Welle des stalinistischen Großen Terrors wurden fast alle Menschen seiner Gruppe vernichtet. Nur meinen Großvater haben die NKWD-Leute nicht gefasst. Ein Jahr zuvor hatte er Streit mit einem Nachbar und warf schließlich auf diesen eine Axt. Als man ihn 1937 abholen wollte, war er nicht zu Hause: Er war schon im Knast! Die damalige Ideologie unterschied nämlich zwischen zwei Kategorien von Verbrechern: Im Gegensatz zu „Klassenfeinden“, die brutal und gnadenlos bekämpft werden mussten, gehörten unpolitische Gewalttäter einschließlich Totschläger und Mörder zu der Kategorie „sozial Nahestehende“, die viel besser behandelt wurde und unter den Insassen einen höheren Status genoss. Als „Kleinbürger“ sollte mein Opa eigentlich Klassenfeind sein; da er aber zu seinem Glück bereits wegen Gewaltverbrechen (gefährliche Körperverletzung) verurteilt worden war, fiel er damit in die „privilegierte“ Kategorie. Während viele seiner Freunde ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben in sibirischen Lagern ließen, kehrte er nach zwei Jahren Absitzen zu seiner Familie zurück.

Damals haben die politischen Führer der UdSSR ihre „soziale Nähe“ zu den Kriminellen offiziell anerkannt und zu einer Komponente ihrer Ideologie gemacht. Aber im Allgemeinen bedarf das Gefühl einer inneren Nähe keiner expliziten Worte: Die Nähe existiert objektiv, wenn sie Gründe hat, unabhängig davon, ob die Menschen daran denken oder nicht. Deshalb beinhalten die obigen Überlegungen keine Unterstellung böser Absichten, denn die soziale Nähe wird nicht von subjektiven Absichten, sondern von objektiven Interessen bestimmt. Die Aussage, dass Autobauer unbedingt wollen, dass Menschen möglichst viele Autos kaufen, ist keine Unterstellung und bedarf keiner Fähigkeit zum Gedankenlesen. Der Inhalt der Gedanken unserer Eliten ist nicht nur unbekannt, sondern auch völlig uninteressant. So spielt es z.B. für die Bewertung des bolschewistischen Terrors wahrlich keine Rolle, ob Lenin wirklich daran glaubte, dass die Millionen Erschossenen und Ausgehungerten für die Befreiung des Proletariats notwendig sind, oder ob er lediglich nach seiner persönlichen Macht strebte. Wie Freud es in „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“ (sinngemäß) ausdrückte: Ein Soldat, der seine Dienstpflicht vergessen hat, ist schuldig in genau dem gleichen Maße, wie derjenige, der gegen diese Pflicht vorsätzlich verstoßen hat. In anderen Worten: Ob die Politiker absichtlich und planmäßig oder rein intuitiv und gefühlsmäßig agieren, bleibt ohne Belang.

„Der Hauptunterschied zwischen dem oberen Mob und dem unteren Mob besteht im Kontostand, aber nicht in der Bildung oder Denkfähigkeit.“

Dabei sei angemerkt, dass die Nähe und die gegenseitige Ergänzung der zwei parasitären Schichten keine ewige Harmonie garantieren. Denn auch die abgehängten Unterschichtler können einmal zur der Einsicht gelangen, dass sie eine selbständige Macht geworden sind. Das Schicksal der gegenwärtigen Elite könnte dann das Schicksal der arabischen Elite in Ägypten des 13. Jahrhunderts spiegeln, die eine hochtrainierte Armee von Mameluken zur Unterwerfung ihrer Untertanen ausgebildet hatte, dann aber von diesen Mameluken abgeschlachtet wurde – oder das Schicksal der bolschewistischen Elite, die 1917 in Russland zur Unterstützung ihrer Diktatur neue Klassen zum politischen Leben erweckt hatte, um zwanzig Jahre später von diesen Klassen gnadenlos beseitigt zu werden. Aber gerade die Tatsache, dass die gegenwärtigen Herren von der Geschichte früherer Eliten keine Ahnung haben, beweist zusätzlich, dass der Hauptunterschied zwischen dem oberen Mob und dem unteren Mob im Kontostand besteht, aber nicht in der Bildung oder Denkfähigkeit.

Kap(italismus) der Guten Hoffnung

Ab dem 19. Jahrhundert, und besonders ab der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts erlebt der globale Westen (im weiten Sinne) einen bis dahin nie dagewesenen Anstieg der Rechte und bürgerlichen Freiheiten, der parallel zu einem genauso wenig je dagewesenen Anstieg des materiellen Wohlstands verläuft. Verweise auf historische Grundlagen dieses einzigartigen Prozesses (u.a. jüdisch-christliche Kultur und das römische Recht) sind zweifellos richtig, aber nicht hinreichend. Schließlich war das römische Recht mit der römischen Sklaverei kompatibel, und unter der Herrschaft des Christentums konnte man im Laufe von mehreren Generationen im Zustand einer nahezu vollständigen Kulturlosigkeit leben.

Die Entwicklung von Produktionsmitteln nach der ersten industriellen Revolution im 18. Jahrhundert führte langsam aber sicher zu einer Situation, in welcher der Fortschritt der unteren sozialen Schichten (also der Menschen, die weder reich noch politisch mächtig waren) für die oberen Schichten (also für die Reichen und Mächtigen) notwendig wurde. Mit anderen Worten mussten die Bosse notwendigerweise einsehen, wie stark sie von ihren Untergebenen abhängig waren. Diese Abhängigkeit hat einen zweifachen Charakter.

Zum einen sind Produktionsprozesse im hochentwickelten klassischen Kapitalismus derart komplex, dass wirklich große Profite nur derjenige erreichen kann, der über viele hochqualifizierte Arbeiter verfügt. Dabei sind beide Wörter wichtig: (a) viele und (b) hochqualifizierte. Das bedeutet nicht nur, dass sie gut bezahlt werden sollten. Der Lohn ist das geringste Problem. Aber diese Arbeiter müssen ausgebildet werden, sie müssen lernen, selbständig zu denken, sie müssen Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen können. Dafür muss eine Infrastruktur entwickelt werden, deren Kosten viel höher ausfallen können als nur ein Arbeitslohn. Solche gigantischen Ausgaben, die letztendlich auf den Schultern der Vermögenden liegen (ich hoffe, dem Leser nicht erklären zu müssen, dass der Staat keinen einzigen Pfennig besitzt, den er nicht vorher seinen Bürgern aus der Tasche gezogen hat), rentieren sich nur unter der Bedingung der langfristigen sozialen Stabilität und Sicherheit. Verständlicherweise hat auch ein großer Landbesitzer Pech, wenn aufständische Bauern seinen Herrensitz in Brand setzen und ihn vielleicht sogar zur Abwanderung zwingen, indem ihm seine Felder und Wälder verloren gehen. Aber das ist sein passiver Reichtum. Wie viel schlimmer ist die Lage eines Industriellen, der aktiv in sein Geschäft, in seine Infrastruktur und u.a. in die Ausbildung seiner Arbeitskräfte Millionen investiert hat (in der Hoffnung, durch qualifizierte Arbeit dieses Personals mehr Millionen zu verdienen) – und zwar Millionen, die er nicht einfach aus dem Portemonnaie geholt, sondern bei der Bank ausgeliehen hat – und nun ereignet sich eine Revolution, und alles ist weg, und die Gläubiger sitzen im angenehmen Ausland und fordern ihr Geld zurück. Lieber investiert ein solcher Kapitalist noch weitere Millionen, um ein System aufzubauen, in dem soziale Umstürze ausgeschlossen sind, und zwar zu 100 Prozent.

„Die beiden Voraussetzungen des demokratischen Kapitalismus des 20. Jahrhunderts, nämlich der Bedarf an einer Masse hochqualifizierter Arbeitnehmer und der Bedarf an einer Masse wohlständiger Verbraucher, bestehen im 21. Jahrhundert nicht mehr.“

Zum anderen hängt der moderne Kapitalist nicht nur von seinen Arbeitern, sondern auch von seinen Abnehmern ab. Sehr große Profite werden durch Massenproduktion erzielt. Das bedeutet, dass der Reiche eine ganze Masse von solchen „Armen“ braucht, die reich genug sind, massenweise zu konsumieren. Richtig gewinnbringend wird die Autoindustrie nur in der Gesellschaft, in der die meisten sich ein Auto leisten können.

Also braucht die Oberschicht eine riesige Mittelschicht, die erstens gut arbeiten, zweitens gut konsumieren kann. Diese gebildete Mittelschicht besteht aus Menschen, die ihre eigene Meinung haben können. Wem die Fähigkeit abverlangt wird, kritisch zu denken und verantwortliche Entscheidungen zu treffen, dem fällt es schwer, diese Fähigkeit auf einen engen professionellen Bereich einzuschränken. Er interessiert sich auch für soziale und politische Fragen.

Andererseits braucht die Oberschicht keine Unterschicht als soziale Gruppe der wirklich Armen. Wozu? Gut konsumieren kann der Arme per Definition nicht, sondern er kann nur betteln, was nervt. Er ist chronisch unzufrieden, wenn es also viele davon gibt, dann entsteht am Horizont das Gespenst sozialer Unruhen, und das ist, was die Oberschicht am wenigstens braucht. Arbeiten könnte der Arme nur, wenn er motiviert würde, aus der Armut emporzusteigen, aber wenn er diese Motivation hätte, würde er unter gegebenen Umständen sehr bald kein Armer mehr sein, sondern wiederum ein Mittelschichtler.

Postkapitalistische Destruktion

Die beiden Voraussetzungen des demokratischen Kapitalismus des 20. Jahrhunderts, nämlich der Bedarf an einer Masse hochqualifizierter Arbeitnehmer und der Bedarf an einer Masse wohlständiger Verbraucher, bestehen im 21. Jahrhundert nicht mehr. Der Hauptgrund dafür ist die fortschreitende Trennung von Produktion und Reichtum.

Besonders offensichtlich ist diese Trennung in der Finanzwirtschaft. Dort kann sie sogar genau datiert werden: Am 15. August 1971 löste der Präsident Nixon den Dollar von seinem Goldwert, was zwar nicht sofort, aber im Laufe von Jahrzehnten unaufhörlich dazu führen musste, dass die Welt keine reale Währung mehr hat. Das Geld ist heute kein Äquivalent von Produkten und Leistungen mehr, wie es laut der ökonomischen Lehre sein sollte, sondern gleicht der Pfeife auf dem Gemälde von René Magritte, das den Titel „Das ist keine Pfeife“ trägt. Magritte erklärte, warum er das Bild so benannte: Sein Gemälde stellt zwar eine Pfeife dar, aber die Darstellung der Pfeife ist selbst keine Pfeife. Unser Geld ist ebenfalls eine (nicht künstlerische, sondern künstliche) Darstellung von materiellen Werten, aber diese Darstellung sollte nicht mit den wirklichen Werten verwechselt werden.

Dieselbe Trennung wird aber spätestens seit den 1990er Jahren auch in anderen Bereichen immer deutlicher. Marketing, Werbung, Schulung und vor allem soziale Netzwerke bringen immer mehr Geld ohne klaren Zusammenhang mit Produktion. Reich werden durch Produktion wird heute nahezu unmöglich. Nur Menschen der zweiten Sorte verdienen ihr Geld, indem sie Werte schaffen. Menschen der ersten Sorte jonglieren mit den lediglich auf den Bildschirmen als Zahlen mit vielen Nullen existierenden Milliarden US-Dollar, verkaufen Luftschlösser und arbeiten im Service, d.h. bei der Bedienung. Die Diener wurden Herren. Eine Person mit einer originellen Geschäftsidee kann noch riskieren, eine neue Produktion gründen und vielleicht nach 20 Jahren Millionär werden; ein Influencer macht eine schöne Miene vor der Kamera und baut das gleiche Vermögen in zwei Jahren auf, wobei er wenig investieren muss und kaum Risiken übernimmt. Besonders gut lässt sich verdienen mit sozialer Kommunikation, Überzeugungsarbeit, Propaganda, Daten, Zahlen und Versprechungen.

„Besonders stark wächst die Armee der Berater.“

Da wir nicht behaupten wollen, all diese Leistungen seien unproduktiv, sprechen wir lieber von „paraproduktiven“ Funktionen. Natürlich existieren diese seit Jahrhunderten. Aber erst in den letzten Jahrzehnten, besonders mit Entstehung der sogenannten sozialen Netzwerke beherrschen sie die Ökonomie und werden zunehmend komplizierter, zunehmend undurchschaubarer. Merkwürdig ist allerdings, dass zeitgleich mit der beschleunigten Komplexität der paraproduktiven Abläufe viele Produktionsvorgänge im Gegenteil vereinfacht werden: Man vergleiche den modernen Verbrennungsmotor mit dem primitiven Elektromotor, oder noch krasser ein Kernkraftwerk mit einer Windmühle. Selbstverständlich findet eine solche Vereinfachung nicht überall in der Produktion statt, wohl aber in den am stärksten politisierten Bereichen.

Auch Produktion und Status werden zunehmend unabhängig voneinander. Im klassischen Kapitalismus waren viele Leiter von Großunternehmen Experten für den entsprechenden Produktionsbereich (z.B. ausgebildete Chemiker als Leiter chemischer Großbetriebe). Heute ist das bereits Rarität. Auch produzierende Unternehmen werden in der Regel von Wirtschaftsspezialisten (salopp gesagt, „Kaufmichs“) geführt. Auf niederen Chefetagen und in kleineren Firmen findet man immer öfter Manager mit einem Abschluss in Soziologie, Psychologie, Pädagogik oder gar Theologie, alles Menschen mit einer gut funktionierenden Zunge. Fachleute für Produktionsprozesse werden immer weiter nach unten hinabgedrängt. Kein Wunder, dass Ingenieur- und insgesamt MINT-Berufe im Ansehen jüngerer Generationen verlieren – verglichen mit solch für das Wohl der Gesellschaft absolut notwendigen Fachgebieten wie Gender-, Politik- oder Kommunikationswissenschaft. Schließlich beschloss die Regierung Merkel die Energiewende mit ihren zwölfstelligen Kosten, nachdem sie von einem Expertengremium abgesegnet worden, das aus mehr Philosophen, Sozialwissenschaftlern und Theologen als aus Experten für Energieversorgung bestand.

Besonders stark wächst die Armee der Berater. Geschäftsleute beraten einander, vernetzen Berater miteinander oder vernetzen die Vernetzer. Die Berater und deren Vernetzer müssen auch geschult werden, daher entsteht eine zweite Armee von Coaches. Auf einer entfernten Bergweide steht ein Hirte mit einer großen Schafsherde. Ein Hubschrauber landet, daraus kommt ein Mann in einem perfekt sitzenden Anzug mit Tablet. „Ich kann Ihnen sofort sagen, wie viele Schafe haben Sie", sagt er. „Ja, bitte", antwortet der Hirte. „Aber wenn meine Angabe genau ist, darf ich mir das beste Schaf nehmen." "Ja, bitte", wiederholt der Hirte. Der Mann schaut auf den Bildschirm, benennt die genaue Zahl, holt das Tier und schleppt es zum Hubschrauber. „Halt", sagt der Hirte, „ich kann auch genau sagen, was Ihr Beruf ist." "Ja, bitte", sagt der Mann. „Sie sind Berater." „Wie haben Sie das erahnt?", fragt der Mann. "An drei Merkmalen“. antwortet der Hirte. „Erstens haben Sie eine gute Internetverbindung; zweitens können Sie mir genau sagen, was ich sowieso schon wusste; drittens können Sie ein Schaf nicht von einem Schäferhund unterscheiden."

„Wenn Sie in Ihrem Zimmer einen Lichtschalter betätigen, wie oft, wie intensiv denken Sie dabei an ein Kraftwerk?“

Interessanterweise beinhalten die typischen Beratungsverträge eine Klausel, nach welcher der Berater keine Haftung für das Ergebnis der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen übernimmt. Das Gleiche gilt auch für andere Services wie Governance oder Coaching. Auch die Werbeagenturen tragen keine Verantwortung für die Qualität des Produkts, auch wenn dieses (z.B. ein Medikament) nachgewiesenermaßen schädlich ist. Der deutsche Soziologe Stefan Kühl betrachtet diese Tätigkeiten als Analoge der Schamanen bei primitiven Kulturen: Ihr wahrer Nutzen besteht nicht in den Inhalten, die sie vermitteln, sondern in ihrem motivierenden Einfluss auf den Zusammenhalt der Gemeinde (bzw. des Personals). Wie die Schamanen niemals dafür zur Verantwortung gezogen werden, wenn ihrem Regentanz kein Regen folgt (schuld daran sind immer die Sünden der Gemeindeglieder), so beweist der fehlende Effekt der Beratung nicht die Unglaubwürdigkeit des Beraters: Schuld am Misserfolg haben äußere Umstände oder fehlende Compliance der Mitarbeiter bei der Realisierung der prinzipiell immer korrekten Empfehlungen. Diese Trennung zwischen Geldverdienen und Haftung ist eine direkte Folge der Trennung zwischen Geldverdienen und Produktion, denn sie erstreckt sich nicht auf die Produktionsprozesse. Natürlich hängt der Erfolg z.B. eines Baubetriebs auch von externen Umständen (u.a. vom Wetter) ab, aber in dessen Fall befreit der Auftritt unvorhersehbarer Faktoren den Betriebschef nicht von wirtschaftlichen Verlusten.

Dennoch ist der Hauptpunkt hier ein anderer: Ich möchte an dieser Stelle nicht die Wirksamkeit der postkapitalistischen paraproduktiven Leistungen im Allgemeinen beurteilen, sondern unterstreichen, dass der Postkapitalist, ob Berater, Marketingexperte, Netzwerker, Coach o.ä., keine Massen hochqualifizierter Arbeitnehmer mehr braucht, höchstens eine Handvoll qualifizierter IT-Experten. Die Selbstkosten der Kommunikationsprodukte sind niedrig, diese Produkte bestehen physikalisch gesehen aus mechanischen (wenn gesprochen) oder meistens elektromagnetischen Schwankungen, die nicht energieintensiv sind. Großprojekte werden als Ausnahmen mit Beteiligung des Staates, d.h. der Steuerzahler, ausgeführt.

Wer mit Werbung, Marketing, Schulungen, Vernetzung, Datenerfassung usw. sein Geld verdient, kennt kein Gefühl, das ein klassischer Kapitalist bekam, als er eine volle Arbeitshalle mit gut ausgebildeten, fleißigen Arbeitern betrat und sofort wusste: Diese Weber weben nicht bloß einen Stoff für Kleidung; sie weben sein Vermögen. Dieses Bewusstsein haben die Postkapitalisten nicht. Genauso wenig brauchen sie eine große Masse wohlhabender Konsumenten: Ihre Abnehmer sind meistens andere Unternehmen, aber keine Endverbraucher. Die Millionen Nutzer von Facebook oder Google sind keine Käufer, sondern Waren, aber sie werden nicht wie die klassischen Waren im Schweiße des Angesichts hergestellt, sondern kommen selbst, wie die Ratten in Hameln.

Natürlich schimmert irgendwo in der Ferne, am Horizont, eine Produktion. Die Experten für Netzwerkbildung für die Experten für emotionale Behandlung der Experten für Ausbildung der Experten für Bemalen der Werbeflächen verdienen ihr Geld schließlich nur deshalb, weil in der Werbung etwas beworben wird, was zuvor (meistens in einem mehrere Tausend Kilometer entfernten Land) hergestellt werden musste. Aber die Kette zwischen Herstellung und Geld ist dermaßen lang und verknotet geworden, dass ihre ersten Glieder vollständig aus dem Bewusstsein verschwinden, wie das Ufer in den Seerosenbildern von Claude Monet: Natürlich wissen wir, dass der abgebildete Teich irgendwo ein Ufer haben muss, aber wir sehen es nicht; es ist außerhalb unseres Wahrnehmungsfeldes. Und wer fragt, warum die Reichen von heute nicht einsehen, dass auch ihr Vermögen letztendlich von der Arbeit (und dem Konsumverhalten) von Millionen Menschen abhängt, dem stelle ich eine Gegenfrage: Wenn Sie in Ihrem Zimmer einen Lichtschalter betätigen, wie oft, wie intensiv denken Sie dabei an ein Kraftwerk?

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