05.02.2025

Sein und Bewusstsein des Postkapitalismus (Teil 3/3)

Von Boris Kotchoubey

Die Postmoderne baut die Demokratie ab. Reichtum und Produktion trennen sich, Wirtschaft und politische Macht nähern sich. Statt der Herstellung steht die Verteilung im Fokus.

Eine Bruchzahl ist sinnlos, wenn der Nenner gleich Null ist. Das bedeutet aber nicht, dass eine Bruchzahl immer sinnloser wird, wenn sich der Nenner der Null nähert: 1/0,1 ist nicht sinnvoller als 1/0,01, sondern 10-mal kleiner. Die Null stellt eine besondere, einzigartige Qualität dar.

Philosophen, die in der Vergangenheit versuchten, sich die schöne Zukunft der Menschheit auszudenken, meinten, dass mit dem Anstieg der Produktivität einmal ein Zustand erreicht wird, in dem jede Ware, jede Leistung, jedes Produkt für jeden ohne extra Kosten zugänglich sein werde. In diesem absoluten Zustand, behaupteten sie weiter, verschwinde das Problem der Verteilung von allein, da alles immer vorhanden sein werde.

Zweifelsohne sind wir heute näher an dem hypothetischen Zustand der absoluten Fülle als je in den vergangenen Zeiten. Daraus aber den Schluss zu ziehen, dass die Verteilungsproblematik heute weniger akut ist, wäre genauso fehlerhaft, wie die Vermutung, die Zahl 1/0,0001 sei weniger sinnvoll als 1/0,1, oder dass 2+2=10 richtiger sei als 2+2=20. Der Grund dafür ist logischer Natur: Es gibt kein relatives Absolutes.

Herstellung und Verteilung

Wenn es auch zwischen der Verfügbarkeit von Waren und Leistungen einerseits und der Aktualität der Verteilungsdiskussion einen Zusammenhang gibt, dann genau umgekehrt: Je mehr Güter vorhanden sind, umso heißer wird die Verteilungsdiskussion. Das liegt einfach daran, dass Menschen in einer kärglichen Gesellschaft viel mehr an die Herstellung der Güter denken müssen als an die Verteilung und Umverteilung des Hergestellten. Wie bereits erklärt, haben bei einer relativen Fülle immer mehr Menschen genug Ressourcen, um sich um das produktive Leben nicht kümmern zu müssen, und doch haben sie weniger als ihre Nachbarn, also fühlen sie sich durch ungerechte Verteilung benachteiligt. Anders gesagt: Menschen, die sehen, wie klein der Kuchen ist, müssen darüber Gedanken machen, wie er vergrößert werden kann. Sie hoffen (ob diese Hoffnung berechtigt ist, ist eine andere Frage), dass sich auch ihre eigenen Chancen auf ein gutes Stück erhöhen, wenn der ganze Kuchen größer wird. Wer aber sicher ist, der Kuchen sei riesengroß, dem bleibt die einzige Sorge, dass sein persönliches Stück kleiner sein könnte, als ihm das benachbarte Stück aus seinem Blickwinkel erscheint.

Dabei ist jede Verteilung von Gütern per Definition ungerecht, einfach weil niemand auch den leisesten Hauch einer Ahnung davon haben kann, wie eine gerechte Verteilung aussehen könnte. Wie ein Held aus Thomas Manns „Zauberberg“ formulierte, gibt es nur zwei Ideale der Gerechtigkeit: „Jedem das Seine“ und „Allen das Gleiche“, und wir wissen jetzt, dass die beiden totalitär sind und zu nichts als Massenmord führen können; quod erat demonstrandum.

Im 19. Jahrhundert amüsierte sich eine Gruppe russischer Intellektueller um den Grafen Alexej K. Tolstoi, indem sie unter dem Pseudonym Kozma Prutkow demonstrativ dumme, widersinnige Literaturwerke publizierte, Vorgänger der absurdistischen Kunst des 20. Jahrhunderts. In einem Aphorismus sagt „Prutkow“: „Wenn du gefragt werdest, ob die Sonne oder der Mond nützlicher sei, dann antworte: Der Mond; denn er leuchtet uns nachts, wenn wir es am meisten brauchen, während die Sonne am Tag leuchtet, wenn es ohnehin hell ist.“

„Diese neue Struktur von Produktionsvorgängen fördert den Verteilungskampf und bildet die Grundlage für soziale Spaltung und Identitätspolitik.“

Natürlich fällt uns die offensichtliche Dummheit dieser Aussage sofort auf. Dennoch antworten Tausende westliche Intellektuelle, wenn sie gefragt werden, was wichtiger ist, der Produktionsvorgang oder der Verteilungsvorgang, wie selbstverständlich: Natürlich der Verteilungsvorgang, denn dadurch werden die Menschen versorgt, während im Produktionsvorgang lediglich die Güter hergestellt werden, die es „ohnehin“ im Überfluss gibt! Im Gegensatz zur Ironie beim „Kozma Prutkow“ wiederholen sie diese genauso offensichtliche Absurdität im vollen Ernst, womit sich die ganze Riege der Besitzer akademischer Titel als humor-, wenn nicht als hirnlos darstellt.

Die sozialen Veränderungen im Westen einschließlich der Gefahr einer weltweiten totalitären, von der Bevölkerung widerstandslos hingenommenen Gesundheits-, Öko- und Diversitätsdiktatur sind keine Ergebnisse teuflischer Verschwörungsarbeit reicher Bösewichte, sondern die Folgen der auf der enormen Produktivitätssteigerung vorangegangener Jahrzehnte und Jahrhunderte prinzipiell neuen Struktur von Produktionsverhältnissen. Dadurch ist erstens eine in der Geschichte nie dagewesene Lage entstanden, in der die Gruppe von Menschen, die den Wohlstand der Gesellschaft gewährleistet, quantitativ kleiner wird als die Gruppen, die diesen Wohlstand verzehren, so dass die erstere Gruppe von den letzteren überstimmt werden kann. Zweitens fördert diese neue Struktur von Produktionsvorgängen den Verteilungskampf und bildet die Grundlage für soziale Spaltung und Identitätspolitik. Drittens führt sie zur Entwicklung immer größerer Dienstleistungskomplexe und somit zur Trennung zwischen Produktion und Reichtum. So wie das Komplexerwerden von Produktionsprozessen nach der Industriellen Revolution dem Aufbau der modernen Demokratie zugrunde lag, legt das Komplexerwerden von paraproduktiven Dienstleistungsprozessen die Basis für deren postmodernen Abbau.

Infolgedessen tritt die ursprüngliche Wertschöpfung in den tiefen Hintergrund. Damit verlieren auch die mit der wertschöpfenden Arbeit zusammenhängenden ethischen Eigenschaften – Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Disziplin – ihren sozialen Wert. An der Stelle dieser verachteten Tugenden tritt das Pharisäertum parasitärer Schichten: Eine Moral, bei der man seine Freunde und Kollegen denunzieren, Millionen Gesunden zur Zwangstherapie verurteilen, zum Massenmord aufrufen kann, aber weder ein Zigeunerschnitzel als Hauptgericht noch einen Negerkuss zum Nachtisch nehmen darf und Wörter in einer hässlichen, extra als virtue signalling erfundenen Pseudosprache aussprechen muss. Wieder nach Marx: Die herrschende Moral ist die Moral der Herrschenden; oder in Begriffen des Augsburger Friedens formuliert: Cujus regio, ejus mores.

„Die Nähe zwischen Wirtschaft und Macht ist heute zwar bei weitem noch nicht so wie unter Stalin, nicht mal so wie unter Mussolini, aber die Tendenz zeigt in diese Richtung.“

Die westliche Zivilisation kämpfte – möglicherweise als einzige in der Geschichte – immer, wenn auch mit wechselndem Erfolg, für eine Trennung von Macht und Besitz. In asiatischen Despotien, in südamerikanischen Imperien, in kommunistischen Ländern waren diese zwei Begriffe faktisch Synonyme. Der Reichtum in diesen Systemen war streng proportional zur Nähe an das Machtzentrum (Kaiser, Khan, Diktator), und der Verlust der Machtposition bedeutete auch den Verlust des gesamten Besitzes oder zumindest seines größten Teils. Aber schon im europäischen Mittelalter konnte ein Feudalherr sehr reich sein, ohne jeglichen Posten in der Machtpyramide innezuhaben; im Frühmittelalter konnte ein Graf oder Herzog sogar mehr besitzen als sein Suzerän, und in der Frühneuzeit zählten manche Finanzverwalter eines Fürsten viel mehr Geld auf dem eigenen privaten Konto als auf dem des Fürsten. Im klassischen Kapitalismus hat die Entfernung zwischen Geld und politischer Macht ihr Maximum erreicht, und der beste Beweis dafür ist der Begriff Korruption, der die Verflechtung zwischen den beiden negativ konnotiert und damit zeigt, dass für uns ihre Trennung der normale Zustand ist. Die ‚alternativen‘ Zivilisationen wie der Sozialismus kennen dagegen keine Korruption: Da die politische Macht und der materielle Besitz in diesen Systemen ein und dasselbe sind, können sie nicht miteinander „verflochten“ sein.

Je größer die Entfernung des Kapitals von den Produktionsvorgängen ist, desto schneller verringert sich sein Abstand von der Macht, desto wichtiger wird seine Integration in das politische Gewaltgefüge. Wenn das Geld durch Dienstleistungen verdient wird, kann sich die Bedienung der wenigen Mächtigen mehr lohnen als die der Massenkunden. Die Masse wird irrelevant, und so auch die Demokratie. Und wenn ein Unternehmen sowieso viel Geld für Berater ausgibt, dann könnte ein Präsidentensohn als Berater besonders nützlich sein. Die Nähe zwischen Wirtschaft und Macht ist heute zwar bei weitem noch nicht so wie unter Stalin, nicht mal so wie unter Mussolini, aber die Tendenz zeigt in diese Richtung.

Prognosen

Wie könnte sich der beschriebene Zustand weiterentwickeln? Das Meme „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie Zukunft betreffen“ ist übrigens weniger paradoxal als es scheint, da schon beim Versuch, die Gegenwart korrekt zu beschreiben, enorme Schwierigkeiten entstehen. Im Allgemeinen gibt es zwei Arten von Prognosen: die linearen und die nicht-linearen. Die lineare Prognose geht davon aus, dass alles so weiterläuft wie bisher. Wenn es so ist, kann um einen wirtschaftlichen Zusammenbruch kein Weg vorbeizuführen. Eine Gesellschaft, in der die produktive Arbeit einen so niedrigen Stellenwert hat wie in der postmodernen westlichen Gesellschaft, kann nichts erzeugen, sondern nur die enormen, in der modernen Epoche aufgebauten Reserven verfressen. Wie effizient die modernen Technologien auch sind, so funktionieren sie nicht ohne eine große Zahl von qualifizierten Beschäftigten. Das im Vergleich zum 20. Jahrhundert verlangsamte Produktivitätswachstum kann den beschleunigten Rückgang der Zahl der Einzahler nicht kompensieren. Einen fleißig arbeitenden Woken kann man sich ohne Lachen nicht vorstellen, und die Hypothese, dass alles Nötige von KI-gesteuerten Robotern hergestellt wird, möchte ich aus Respekt vor den Lesern gar nicht diskutieren. Man kann nur so lange in der Postmoderne leben, wie es noch Menschen, Maschinen und ethische Prinzipien der Moderne gibt; sobald das Potenzial der Vergangenheit aufgebraucht sein wird, endet die Entwicklung, denn von nichts kommt nichts.

Außerdem ist grundsätzlich voraussagbar, dass der Zusammenbruch plötzlich eintritt, ohne sich noch einen Tag davor voranzukündigen, und von einem anscheinend unbedeutenden Vorfall, etwa einem Stromausfall in einer Region, ausgelöst wird. Andererseits kann ein Zukunftsszenario, das an dieser Stelle erstaunlich oft diskutiert wird, so gut wie ausgeschlossen werden: Dass eine erwartbare finanzielle und industrielle Implosion des Westens zu einer Machtübergabe an andere, nicht-westliche Akteure wie Brics-Staaten führen wird. Dies ist – zumindest in der absehbaren Zukunft – deshalb höchst unplausibel, weil die kandidierenden Möchtegern-Weltmächte in das weltweite Wirtschaftssystem so stark integriert sind, dass auch sie vom Zusammenbruch des Westens in den Sog miteingezogen würden. Insbesondere trifft das auf rein rohstoffexportierende Länder zu, weil alle obengenannten Probleme der postmodernen postkapitalistischen Wirtschaft auch die Rohstoffökonomie charakterisieren, und zwar in einem noch höheren Maße. Außerdem sind all diese Länder dermaßen korrupt, dass im Vergleich mit deren Oberschichten sogar der EU-Apparat wie ein Mädchenpensionat erscheint. Wenn sich also ein Weltbrand ereignet, wird er auch auf die Brics-Häuser übergreifen und sie möglicherweise sogar noch schlimmer beschädigen als die Gebäude im Feuerherd, weil sie aus weniger feuerbeständigem Material gebaut sind.

„Dass wir uns jetzt diese neue Demokratie nicht vorstellen können, beweist lediglich unser unzureichendes Vorstellungsvermögen.“

Die einzige globale antiwestliche Kraft, die in das System nicht oder nur sehr schwach involviert wird und deshalb vom Kollaps des Westens erheblich profitieren kann, ist der politische Islamismus. Dessen weitere Stärke ist seine Dezentralisierung, die ihn zu einer tausendköpfigen Hydra macht. Seine größte Schwäche ist ebenfalls die Dezentralisierung, da er aus vielen Bewegungen besteht, die einander genauso brutal bekämpfen wie die Außerstehenden; die Köpfe der Hydra sind immer bereit, einander zu fressen. Dennoch müssen die Feindseligkeiten zwischen verschiedenen islamischen Richtungen dem Sieg des Islamismus nicht unbedingt im Wege stehen; schließlich kann man sich auch einen Krieg zwischen (z.B.) einem schiitischen Deutschland und einem sunnitischen Frankreich durchaus vorstellen.

Was nun die nicht-linearen Prognosen betrifft, so sind sie überhaupt keine Prognosen, weil sie die Wirklichkeit als ein chaotisches System betrachten, das im höchsten Maße von Ausgangsbedingungen abhängt, und da kann jeden Augenblick ein schwarzer Schwan erscheinen, der alles ändert. Wie oben gesagt: „wenn alles so weiterläuft wie bisher“. Ob es weiterläuft, und wie lange, hängt von uns ab, in einem winzigen Ausmaß auch von diesem Artikel. Spannend ist m.E. der Wettlauf zwischen der wachsenden Unzufriedenheit und der zunehmenden Einsicht der Bevölkerung einerseits und der Stärkung des Gewaltpotentials der abgehobenen Transformationseliten.

Die bisherigen Erfahrungen sind sehr unterschiedlich. 1930 bis 1932 setzte Stalin mit militärischer Gewalt ideologiebetriebene Agrarreform durch, was zum Verhungern von Millionen Menschen („Holodomor“) geführt hat. Damit wurde auch die persönliche Macht Stalins als alleiniger Diktator der UdSSR für weitere Jahrzehnte verfestigt. 2021 versuchte der Präsident von Sri Lanka, Gotabaya Rajapaksa, eine ähnliche ideologiebetriebene Agrarpolitik seinem Land aufzuzwingen. Auch hier stürzte das Land schnell in eine Hungersnot: Die Lebensmittelpreise stiegen innerhalb weniger Monate bis auf 70 Prozent, und fast jeder fünfte Einwohner fiel unter die Hungergrenze. Sehr bald aber kam das hungernde Volk auf die Straßen, Hunderttausende wütende Menschen stürmten den Präsidentenpalast, die Zwangsbiowirtschaft wurde abgeschafft, der Präsident floh nach Singapur und wurde später in Abwesenheit verurteilt. Allein diese zwei Beispiele zeigen, dass unsere Zukunft nicht vorbestimmt ist.

Auch der objektiv bedingte Abbau des modernen demokratischen Rechtsstaates bedeutet nicht, dass keine Demokratie und keine freiheitliche Rechtsordnung möglich sind. Außer dieser, uns am besten bekannten, Formation gab es auch in der vormodernen Zeit zahlreiche wohlfunktionierende Demokratien, sowohl direkte (z.B. Nowgorod) als auch parlamentarische (z.B. Island) und freiheitlich-rechtsstaatliche soziale Strukturen; warum können sich in der Postmoderne keine neuen Formen entwickeln? Dass wir uns jetzt diese neue Demokratie nicht vorstellen können, beweist lediglich unser unzureichendes Vorstellungsvermögen.

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