19.07.2010

Es gibt kein Wohlstands-Paradoxon

Kommentar von Daniel Ben-Ami

Die Versuche, das Streben nach Wohlstand durch Maßnahmen zu ersetzen, um Menschen „glücklicher“ zu machen, tragen therapeutische und autoritäre Züge.

Konsumkritiker haben sich an etwas festgebissen, was sie als Paradoxon bezeichnen: Ein zentrales Thema ihrer Argumentation ist, dass wirtschaftliches Wachstum die Menschen nicht glücklicher macht. Ihrer Meinung nach ist das Ziel, den Wohlstand massenhaft zu vergrößern, sinnlos und wahrscheinlich sogar dafür verantwortlich, dass die Menschen unzufriedener werden. Statt zu versuchen, noch wohlhabender zu werden, sollten wir uns anderen, sozialen Zielen zuwenden wie etwa unserer mentalen Gesundheit. Ist das Argument, es gebe keine direkte Verbindung zwischen Wohlstand und Glück, wirklich so überzeugend, wie Konsumkritiker glauben? Die Wachstumsskeptiker scheinen einfach darüber hinwegzusehen, dass größerer Wohlstand ungemein nützlich sein kann, auch wenn er die Menschen nicht unbedingt glücklicher macht. Sie verstehen nicht, dass die Neigung der Menschen, unzufrieden mit ihrer Lage zu sein, positive Aspekte beinhalten kann. Das Streben nach einem besseren Leben ist der Motor des Fortschritts. Hinzu kommt, dass die Maßnahmen, die sie vorschlagen, um Menschen „glücklicher“ zu machen, tendenziell autoritäre Züge tragen.

Die Vorstellung, das Streben nach mehr Wohlstand unterliege einem Irrtum, ist eines der Schlüsselargumente der heutigen Wachstumsskeptiker. Richard Layard, Professor an der London School of Economics, nutzt sie als zentrales Konzept in seinem Werk Happiness: Lessons from a New Science (Allen Lane 2005). Schon im ersten Absatz steht: „Die meisten Menschen wollen ein höheres Einkommen und streben danach. Während jedoch die westlichen Gesellschaften reicher geworden sind, ist deren Bevölkerung nicht glücklicher geworden.“ Das Thema wird zwar unterschiedlich behandelt. Der Ansatz von Layard ist aber der am weitesten verbreitete. Aufgrund von Ergebnissen der Meinungsforschung in Industrieländern in den letzten 50 Jahren sind Analysten zu dem Schluss gelangt, Wohlstand mache die Menschen nicht glücklicher. Sind die Grundbedürfnisse der Menschen erst einmal befriedigt, scheinen sie durch ein steigendes Einkommen nicht glücklicher zu werden. In jeder Gesellschaft sind die Reichen im Schnitt zwar glücklicher als die Armen. Aber die Kurve des individuellen Glücks verläuft mehr oder weniger flach, wenn eine Gesellschaft die Grenze von etwa 15.000 Euro Jahreseinkommen überschritten hat.

Bevor wir uns anschauen, wie die Glücksadvokaten dieses Paradoxon erklären, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass sich das Leben für die Menschheit dank des wachsenden Wohlstands stetig verbessert hat. Was auch immer wir subjektiv darüber denken mögen: Der Massenwohlstand hat der entwickelten Welt riesige objektive Vorteile gebracht. Solche Gewinne fangen auch an, sich auf die Entwicklungsländer auszuwirken, die ebenfalls wohlhabender werden. Der Wohlstand verschafft uns die Ressourcen für ein längeres, gesünderes und erfüllteres Leben.

Das neue Buch von Indur Goklany The Improving State of the World: Why we’re Living Longer, Healthier More Comfortable Lives on a Cleaner Planet (Cato 2007) bewertet Entwicklungsdaten der letzten Jahre detailliert. Der Volkswirt aus den USA zeigt dies anhand diverser Beispiele:

Lebenserwartung: Während großer Teile der Menschheitsgeschichte lag sie bei 20 bis 30 Jahren. Im weltweiten Durchschnitt erhöhte sich die Lebenserwartung von 31 Jahren im Jahr 1900 auf 66,8 im Jahr 2008.

Kindersterblichkeit (Todesfälle von Kindern unter einem Jahr pro 1000 Lebendgeburten): Vor der Industrialisierung lag die Zahl typischerweise bei über 200. Über ein Fünftel aller Babys starb vor dem Erreichen des ersten Geburtstags. Der weltweite Durchschnitt ist von 156,9 in den frühen 50er-Jahren auf 56,8 im Jahr 2003 gefallen. In der entwickelten Welt liegt der Durchschnitt bei 7,1.

Luftqualität: Unabhängig vom weit verbreiteten Vorurteil, wirtschaftliche Entwicklung führe zu Luftverschmutzung, zeigt das Beispiel der entwickelten Welt, dass sich die Qualität der Luft verbessert.

Die Tatsache, dass es einen Trend zum Besseren gibt, heißt nicht, alles sei perfekt. Das gilt vor allem für Entwicklungsländer. Doch wenn es noch Probleme gibt, dann deshalb, weil wir viel mehr und nicht weniger Entwicklung brauchen. Dann könnten Entwicklungsländer den Lebensstandard der entwickelten Welt erreichen, was für den Anfang nicht schlecht wäre. Auch stimmt es nicht, dass die entwickelte Welt einen Zustand erreicht hat, in dem sie nicht länger von wachsendem Wohlstand profitieren kann. Da ist zum Beispiel die Angst vor einer „demografischen Zeitbombe“: Befürchtet wird, dass die arbeitende Bevölkerung zu wenig erwirtschaftet, um für die wachsende Zahl alter Menschen zu sorgen. Solange die Gesellschaft reicher wird, gibt es keinen Grund, weshalb nicht eine größere Anzahl Abhängiger unterstützt werden kann. Es ist wichtig, die objektiven Vorteile des Wohlstands zu verteidigen. Doch das reicht in der Regel nicht aus, um Skeptiker zu überzeugen. Sie erkennen die Vorteile teilweise an, meinen aber trotzdem, Wohlstand schlage den Menschen aufs Gemüt.

Meistens wird das Paradoxon in Zusammenhang mit dem Problem der Ungleichheit in Verbindung gebracht. Wenn es auch nicht so direkt gesagt wird, lautet die Grundidee: Es nütze nichts, mehr Wohlstand anzustreben, weil die relativen Ungleichheiten fortexistieren würden. Dieser Perspektive zufolge kann das Streben nach größerem Wohlstand die Menschen nur unglücklich machen. Das Ungleichheitsargument der Skeptiker findet sich in zwei Variationen: Die erste hebt auf sogenannte „positionale“ Güter ab, die eher aus sozialen denn aus physischen Gründen knapp sind. So gibt es beispielsweise keine prinzipielle Landknappheit in der Nahrungsmittelproduktion, weil die Landwirtschaft produktiver gemacht werden kann. Ein Stück Land, das früher zehn Menschen ernährte, kann durch verbesserte Techniken 100 Menschen ernähren. Ein Stück Land, das einer Familie zur Erholung dient, kann aber nicht weiter aufgeteilt werden.

Laut der zweiten Variation des Ungleichheitsarguments beurteilen Menschen ihr Wohlbefinden anhand ihrer relativen Stellung in der Gesellschaft. Diejenigen, die sich oben befinden, seien in der Regel zufriedener als diejenigen, die dem unteren Segment der Gesellschaft angehören. Selbst wenn uns die Akquisition von mehr materiellen Gütern kurzfristig motiviere, führe dies nicht zu anhaltendem Glück. Wir mögen uns also über einen neuen Plasma-Bildschirm freuen, aber schon bald streben wir nach noch höheren Lebensstandards, und die gute Laune ist wieder dahin. Dieser Kreislauf setze sich fort mit dem Wunsch, immer neue, nutzlose Dinge zu erwerben. Diese Argumente über Ungleichheit mögen überzeugend klingen. Sie haben jedoch ihre Schwächen. Selbst wenn manche Dinge inhärent knapp und deswegen schwer zu erreichen sind, folgt daraus nicht, dass man gar nicht erst versuchen sollte, sie anzustreben. Der Wettbewerb, an einer der besten Unis studieren zu können, könnte zum Beispiel dazu beitragen, den Bildungsstandard aller Abiturienten zu erhöhen. Die wachsenden Ressourcen, die mit dem Wirtschaftswachstum einhergehen, könnten dazu beitragen, die Standards aller Universitäten zu verbessern. Selbst wenn also Ungleichheiten bestehen bleiben, können wir insgesamt vom Wettbewerb und von einer Ausweitung der Ressourcen profitieren.

Dass Arme ihren Lebensstandard mit dem der Reichen vergleichen, ist vollkommen rational. Da die Wohlhabenden normalerweise mehr besitzen und über bessere Technologien und Gesundheitsversorgung verfügen, führt ihr Lebensstil vor Augen, was erreichbar ist. Die Wohlhabenden sind in der Regel die Ersten, die neue Güter besitzen und nutzen. Das zu begehren, was wohlhabendere Schichten besitzen, sollte nicht als ungesunder Neid abgetan werden. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass Menschen unzufrieden mit ihrem Los sind, kann als gesundes Motiv für Veränderung gewertet werden. Die Menschheit hat sich in der Geschichte weiterentwickelt, indem sie permanent versucht hat, ihre Position zu verbessern. Das Resultat ist, dass es ihr heute besser geht als jemals zuvor. In diesem Sinne sollte Unzufriedenheit begrüßt werden. Es ist ein Zeichen für Ambition und ein Antrieb für Fortschritt und kein Ausdruck für einen angeborenen Drang zum Jammern. Im Gegensatz dazu lautet die konservative Botschaft der Glücksgurus, die Menschen sollten sich mit ihrem Schicksal abfinden. Hieran sollte deutlich werden, dass es das Paradoxon des Wohlstands nicht gibt. Der Anstieg des Massenwohlstands hat die Lebensqualität der Menschen enorm gesteigert. Es gab jedoch nie eine Garantie dafür, dass solcher Fortschritt Glück bringen würde. Eine der positivsten Qualitäten der Menschen ist, dass sie oft mehr wollen, als sie haben. Typischerweise wünschen sie für ihre Kinder und Enkelkinder ein besseres Leben, als sie selber hatten. Die Wachstumsskeptiker würden es stattdessen lieber sehen, wenn wir beim aktuellen Standard verharren oder sogar auf ein niedrigeres Wohlstandsniveau zurückgehen.

Massenwohlstand ist erstrebenswert. Die Frage ist, warum so viele Skeptiker dies hinterfragen. Einer der wichtigsten Faktoren ist der Rückgang des Wirtschaftswachstums in der entwickelten Welt. In den späten 40er-Jahren bis in die 60er-Jahre hinein war die Vorstellung weit verbreitet, Wachstum solle eine nationale Priorität sein. Davor, nach den Erfahrungen der großen Depression und des Zweiten Weltkrieges, lag der Schwerpunkt darauf, die wirtschaftliche Stabilität zu sichern. Von 1970 an, als sich das Wachstum zu verlangsamen begann, wurden die Vorteile des Wohlstands zunehmend hinterfragt. Während der 50er- und 60er-Jahre hatte der stete Anstieg des Lebensstandards die Legitimität der Staaten in der entwickelten Welt gestärkt. Als jedoch das Wachstum in den 70er-Jahren nachließ und die Arbeitslosigkeit stieg, wurde es für die Volkswirtschaften schwieriger, beständig Mehrleistungen zur Verfügung zu stellen. Ein weiterer Faktor ist die Niederlage der Linken. Sie sah sich ab 1970 in der Defensive und wurde immer anfälliger für die Ideen des Umweltschutzes und der Wachstumsgegner. Hinzu kam, dass sich die Gegenkultur der 60er-Jahre zunehmend der Konsumkritik und der Umweltbewegung zuwandte. Die Kräfte, die in der Vergangenheit für Massenwohlstand eingetreten waren, wurden immer skeptischer gegenüber dem Wachstumsbegriff.

Diese Entwicklungen wurden von 1980 an durch eine Reihe neuer Faktoren verstärkt. Das Ende des Kalten Krieges bestärkte die Vorstellung, es gebe keine Alternative zur Marktwirtschaft. Fortschritt war als Idee weitgehend diskreditiert. Der Drang, das menschliche Potenzial weiter auszuschöpfen, wurde zunehmend als Problem und nicht als erstrebenswertes Ziel angesehen. Hinzu kommt, dass sich in der Gesellschaft eine zunehmende Risikoscheu entwickelte. Die soziale Atomisierung und der Zusammenbruch traditioneller Institutionen haben zu einer intensiven Risikoaversion geführt. Die Angst davor, dass die Zukunft potenzielle Gefahren bergen könnte, wächst kontinuierlich. Die beiden letztgenannten Aspekte sind wichtig für das Verständnis der aktuellen Wachstumsskepsis, weil sie auch die zunehmende Furcht vor der Zukunft erklären helfen. Was die Wachstumsskeptiker als fehlendes Glück identifizieren, kann teilweise zutreffender als sozialer Pessimismus beschrieben werden. Kaum jemand glaubt heute, dass die Zukunft besser werden könnte als die Gegenwart, im Gegenteil: Potenziell positive Entwicklungen, wie z.B. der technische oder wissenschaftliche Fortschritt, werden zunehmend mit einer bangen Vorahnung behaftet. Unter solchen Bedingungen ist es kein Wunder, wenn Umfragen zu belegen scheinen, dass die Menschen zutiefst unglücklich sind.

Die Sichtweise der Wachstumsskeptiker und die Maßnahmen, die sie häufig propagieren, haben mindestens zwei gefährliche Konsequenzen. Zunächst einmal leidet die Gesellschaft als Ganzes, und die Armen insbesondere, unter den Angriffen auf den Wohlstand. Auch wenn die Angriffe wie eine Kritik an den Reichen klingen, so ist es doch die große Masse der Gesellschaft, die am meisten vom steigenden Wohlstand profitiert. Die Wohlhabenden genießen im Allgemeinen ohnehin die Vorteile eines hohen Lebensstils. Zudem öffnet die Drosselung des Glücksstrebens die Türen für eine autoritäre Politik. Es ist nur ein kleiner Schritt dahin zu glauben, dass die Regierung unser Denken irgendwie korrigieren sollte, wenn wir nicht glücklich sind. Die Regierung nimmt eine zunehmend therapeutische Rolle ein, bei der es als notwendig erachtet wird, die Emotionen von Menschen zu lenken. Jeder sollte selbst entscheiden, ob er die Suche nach Glück zu einem seiner persönlichen Ziele machen möchte. Für die Gesellschaft ist es indes wertvoll, Wirtschaftswachstum und damit einen größeren Wohlstand für alle anzustreben.

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