07.10.2016

Offene Grenzen zwischen Einverständnis und Zwang

Analyse von Robert Benkens

Titelbild

Foto: Johan Barbarà (CC BY-SA 2.0 / bearbeitet)

Niemand sollte an einem von Krieg bestimmten Ort bleiben müssen, gleichzeitig darf man Länder nicht zur Aufnahme von Flüchtlingen zwingen. Das Dilemma lässt sich nur durch offene Debatten auflösen

Das größte Problem in der sich zuspitzenden Migrationskrise ist, dass Einwanderung in erster Linie von vielen zunehmend als Belastung empfunden wird. Das übrigens nicht zu Unrecht, denn im Asylsystem müssen die Einheimischen für Unterbringung, Versorgung, Integrationsmaßnahmen und Verwaltungs- sowie Sicherheitsmaßnahmen finanziell aufkommen, ohne dass sie ein nennenswertes Mitspracherecht über die Einwanderungspolitik hätten. Das allerdings liegt nicht an den Flüchtlingen, sondern an einem System, in dem diese eben untergebracht, versorgt, integriert und verwaltet werden, anstatt sofort ihren Beitrag leisten zu müssen – eine „Lose-lose-Situation“, die die Konflikte in der Gesellschaft weiter anheizen wird. Ein solches System stetig steigender Belastungen muss früher oder später an seine Grenzen kommen.

Bereits der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman hat herausgestellt, dass ein unbegrenzter Wohlfahrtsstaat und offene Grenzen gleichzeitig nicht funktionieren. Deshalb müssten aber nicht Grenzen geschlossen, sondern der Zugang zum Wohlfahrtsstaat begrenzt werden. Um eine dauerhafte Überlastung eines Sozialsystems bei dauerhaftem Zuzug Schutzsuchender also zu verhindern und gleichzeitig Lebensperspektiven für Flüchtlinge zu eröffnen, könnten Ansprüche auf Sozialleistungen für ein paar Jahre entfallen, gleichzeitig aber die Grenzen sowie der Arbeitsmarkt für alle geöffnet werden. Damit würde das Asylsystem und die damit verbundene ohnehin schwierige Aufteilung in Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge hinfällig und eine sofortige Arbeitsaufnahme und eigenverantwortliche Integration möglich. Es käme weiterhin zu einer wirtschaftlichen Win-Win-Situation ohne schädliches Neid- oder Anspruchsdenken, das die Gesellschaft zunehmend spaltet. Die Flüchtlinge wären Kollegen am Arbeitsplatz und keine Fremden in Massenunterkünften. Soweit die sympathische Theorie offener Grenzen aus libertärer Perspektive, die sich bedeutend von der des paternalistischen Betreuungsstaates unterscheidet.

„In der politischen Realität muss mit der Unterscheidung zwischen Asyl und Einwanderung gearbeitet werden.“

Das bedeutet, dass der Arbeitsmarkt zwar nicht so begrenzt ist wie ein Asyl- oder Sozialsystem und bei brummender Konjunktur deutlich mehr Zuwanderer als bisher zum Vorteil beider Seiten aufnehmen könnte und sollte, dieser aber, wenn bei lahmender ökonomischer Entwicklung die Arbeitsplätze knapp werden, bei der Integration einer sehr großen Anzahl ungelernter und nichtsdestotrotz hochmotivierter Zuwanderer ebenfalls an seine Grenzen kommt. Dies ist global gesehen vor allem dann der Fall, wenn sich eine stetig zunehmende Zahl Auswanderungswilliger auf nur sehr wenige Länder konzentriert und es somit nicht zu einem Ausgleich im Sinne einer zirkulären Migration kommen kann. Neben die politisch nicht durchzusetzende und auch humanitär nicht zu vertretende Abschaffung des Asylsystems treten somit auch praktische Bedenken gegen eine dauerhafte und regellose Grenzöffnung. In der politischen Realität muss also mit der Unterscheidung zwischen Asyl und Einwanderung gearbeitet werden – was im Übrigen von der Bundesregierung auch getan wird, die trotz ihrer humanitär motivierten Grenzöffnung für syrische Kriegsflüchtlinge keinesfalls eine Vertreterin wirklich offener Grenzen ist.

Nun kann man als Vertreter einer Vision offener Grenzen natürlich dennoch auf dauerhafte und umfassende Grenzöffnungen pochen und sich damit gegen die überwältigende Mehrheit der Staaten in Europa und ihrer Bevölkerungen stellen. Man kann aber auch Alternativen anbieten, die die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik nach klaren Kriterien regeln und im beiderseitigen Interesse gestalten, um so eine schrittweise und vor allem freiwillige Öffnung zu ermöglichen. Im Folgenden sollen drei unterschiedliche liberale Konzepte und Gedankenexperimente rund um das Einwanderungs- und Flüchtlingsthema vorgestellt werden, die sich sowohl von bedingungsloser Öffnung als auch von rigoroser Abschottung unterscheiden, aber dennoch in meinen Augen im Rahmen einer Debatte über offene Grenzen diskussionswürdig sind.

Liberale Alternativkonzepte zur derzeitigen Flüchtlingspolitik

Erstens: Das Asylsystem ist nicht gleich Einwanderungssystem, da es nicht nach Job- und Integrationsperspektiven im Aufnahmeland, sondern allein nach dem Gesichtspunkt der humanitären Schutzpflicht zu behandeln und bei großen Zahlen langfristig nur gesamteuropäisch aufrechtzuerhalten ist. Die FDP hat diesbezüglich ein Konzept zur Flüchtlingskrise vorgelegt, das einen relativ schnellen und wenig bürokratischen humanitären Schutz von Bürgerkriegsflüchtlingen für die Zeit des Konfliktes in Europa vorsieht – ohne damit ein dauerhaftes Einwanderungsrecht zu verbinden. Für Letzteres sollen Kriterien wie Beherrschung der Sprache, Achtung des Rechtssystems und ein Angebot für einen Arbeitsplatz gelten, die sich nach den Interessen und Bedürfnissen des Aufnahmelandes richten. Darüber hinaus können aber unter einem solchen Schutzstatus stehende Migranten einen dauerhaften Aufenthaltstitel erhalten, sofern sie die Kriterien des Einwanderungsrechts erfüllen. Treten sie also während ihres Schutzaufenthaltes einen Ausbildungsplatz oder Job an, was ihnen natürlich auch ermöglicht werden muss, lernen die Sprache und halten sich an die Gesetze, können sie nach einer Zeit in das klassische Einwanderungsrecht wechseln. Hierdurch sollen Anreize und Chancen zur Integration geschaffen und Parallelgesellschaften unwahrscheinlicher werden. Zugleich könnten aufgrund der durch das Modell erhofften Integrationserfolge mehr Flüchtlinge aufgenommen werden.

Zweitens: Auf europäischer Ebene müssen Alternativen gefunden werden, die nicht in kaum durchzusetzenden Zwangsverteilungen bestehen. Eine bedenkenswerte Möglichkeit wären europaweite freiwillige Sozialsysteme. Hierbei wird die länderübergreifende Hilfsbereitschaft genutzt, ohne die trotzige Schar derjenigen, die jegliche Hilfe verweigern wollen, durch weitere Zwangsmaßnahmen zu vergrößern. Alle Gelder derjenigen Staaten und Privatpersonen, die helfen wollen, sowie Beiträge der Flüchtlinge selbst flössen in einen europaweiten Topf, aus dem die Aufnahme und Verpflegung sowie Verwaltungsangelegenheiten bezahlt werden. Die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen orientierte sich an den Kapazitäten dieser europaweiten und freiwilligen Sozialsysteme. Ihre Versorgung im Rahmen des humanitären Schutzes wäre also nicht mehr an die Aufnahme und Grenzkapazitäten eines bestimmten Asylsystems gekoppelt – den Gefahren zunehmender Verteilungskämpfe und Zwangsverteilungen von Flüchtlingen in Länder, in die diese gar nicht wollen und die diese nicht wollen, würden so entgegengewirkt.

„Fluchtursachen in den Herkunftsländern müssen tatsächlich bekämpft werden.“

Durch die freiwillige und sich selbst finanzierende Hilfe wäre ein entscheidendes Argument der Aufnahmegegner hinfällig. Bei einer Rückkehr aufgrund einer Verbesserung der Lage im Herkunftsland könnten die Flüchtlinge zudem ihre in den flexiblen und dezentralen Sozialsystemen aufgebauten Ansprüche mitnehmen und ebenso dezentral für den Wiederaufbau nutzen. Eine Genossenschaft für Flüchtlinge könnte so entstehen.

Drittens: Fluchtursachen in den Herkunftsländern müssen tatsächlich bekämpft werden. Dies kann durch sogenannte Freizonen geschehen, um so all jenen eine Perspektive zu geben, die auch vom großzügigsten Verteilungsschlüssel nicht betroffen wären oder sich die Flucht gar nicht leisten können. In einem Beitrag der liberalen Studenten-Zeitschrift peace, love, liberty 1 wird dieses Konzept von einigen Vertretern offener Grenzen vertreten, die die politischen Realitäten vorerst akzeptieren und gleichzeitig für die Masse der Flüchtlinge in der Herkunftsregion etwas tun wollen. Diese Freizonen würden demnach nicht einfach eine finanzielle Dauersubventionierung von Flüchtlingslagern bedeuten, sondern durch einen funktionierenden Rechtsstaat und Investitionssicherheiten wirkliche Arbeits- und Lebensperspektiven in Heimatnähe eröffnen. Solche Freizonen können – vorausgesetzt es finden sich Staaten, die dort freiwillig auf Souveränitätsrechte verzichten – zu Stätten des Wachstums und neuer Lebensperspektiven werden, in die Flüchtlinge freiwillig kommen, um den miserablen und gefährlichen Umständen in ihren Heimatländern zu entfliehen. Ein Vorteil für die Flüchtlinge, aber vor allem für die europäischen Staaten. Diese könnten durch ihre rechtsstaatliche Expertise und finanziellen Möglichkeiten sehr viel mehr in diesen Freizonen ermöglichen als in den bürokratisierten Asylsystemen ihrer Staaten und zugleich den Zuwanderungsdruck auf diese mindern.

Demokratisierung der Asylpolitik als Chance

Sicherlich hat jedes dieser drei Konzepte auch kritikwürdige Seiten. Aber wer sich auf den Weg zu einem noch utopischen Ziel wie offene Grenzen machen will, sollte eine Politik der kleinen Schritte gehen, seine theoretischen Überlegungen immer mit den realen Umsetzungsmöglichkeiten abgleichen und Mut zu konkreten Vorschlägen zeigen. Je mehr Bürger im Zuge eines solchen Konzeptes wirklich erleben statt nur von oben gesagt bekommen, dass die Einwanderung keine Überforderung, sondern eine Bereicherung ist und Integration funktioniert, desto mehr werden für offenere Grenzen eintreten. Bemerken sie hingegen eine komplette Regellosigkeit, wachsende Integrationsprobleme und fühlen sich zudem bei einem so wichtigen Thema übergangen, werden sie für geschlossene Grenzen votieren. Ironischerweise wird eine konzeptionslose und aufgezwungene Politik der offenen Grenzen somit am Ende zu geschlossenen Grenzen führen.

Ein Beispiel hierfür ist Schweden. Ein seit jeher offenes und liberales Land gerät angesichts einer zunehmenden Überforderung bei Aufnahme, Versorgung und vor allem der Integration in eine Politik der Abschreckung und Grenzschließung. Dabei ist der finanziell-organisatorische Aspekt in Schweden wie vermutlich auch bei den meisten anderen europäischen Ländern nicht mal der ausschlaggebende, sondern die Befürchtung, dass eine dauerhafte und vor allem bedingungslose Zuwanderung – auch aus anderen Krisengebieten – bereits bestehende Parallelgesellschaften in europäischen Großstädten weiter vergrößern könnte. Denn wo viele Menschen unterschiedlicher Herkunft vor allem vom Wohlfahrtsstaat abhängig sind, sinken Integrationsanreize, wachsen Perspektivlosigkeit und gesellschaftliche Spannungen.

„Zuwanderung wird in Kanada aus praktischer Erfahrung gemeinhin als Bereicherung und nicht als Bedrohung gesehen.“

Als Gegenbeispiel kann hier Kanada gelten: Wer nach Kanada einreisen und ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erhalten möchte, kann einen Antrag stellen und über die Kategorien des Arbeitsmigranten, Familienangehörigen oder Schutzsuchenden einreisen. Allerdings ist Kanada bei der Arbeitsmigration von einer starren Fokussierung auf Hochqualifizierte aufgrund staatlicher Fehlplanungen abgewichen – auf kanadischen Straßen sind die meisten taxifahrenden Ärzte anzutreffen. Deshalb ist zu begrüßen, dass nun vielmehr ein Arbeitsangebot auch für einfachere und gesuchte Berufsfelder die Einreise erleichtern soll.

Genauso soll der Familiennachzug der Wirtschaftsmigranten erleichtert werden. Kanada achtet also bereits bei der Einreise darauf, dass die vielen Zuwanderer nach Möglichkeit auf eigenen Beinen stehen und ihren Beitrag leisten können und unterstützt sie dann aber auch bei erteilter Aufenthaltsberechtigung durch eine aktiv-fördernde Integrationspolitik, zu der eine gelebte Willkommenskultur und schnelle Einbürgerungen mit gleichen Rechten und Pflichten gehören. Diese zweifellos nicht perfekte, aber stets durchdachte, demokratisch legitimierte und auf jeweilige Herausforderungen angepasste Politik sorgt für eine im internationalen Vergleich vorbildliche Integration der Zugewanderten und eine überdurchschnittlich hohe Akzeptanz von Zuwanderern insgesamt. Sie sind nicht nur auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssektor erfolgreich, sondern verstehen sich häufig auch als neue „Kanadier“.

In Kanada gehört Einwanderung somit zur Erfolgsgeschichte und Identität des Landes. Nicht die Herkunft eines Zuwanderers entscheidet, sondern sein Wille, auch wirklich dazugehören zu wollen. Zuwanderung wird hier aus praktischer Erfahrung gemeinhin als Bereicherung und nicht als Bedrohung gesehen. Das wirkt sich auch auf die Offenheit der Kanadier für Schutzsuchende und Flüchtlinge aus. So sagte der kanadische Einwanderungsminister McCallum in einem beeindruckenden Interview mit der F.A.Z., dass sich Kanada angesichts der Flüchtlingskrise bereit erklärt hätte, weit mehr Flüchtlinge als bisher und auf Einladung aufzunehmen – und das nicht aufgrund ihrer Qualifikation oder rein ökonomischer Gesichtspunkte, sondern aus humanitärer Verantwortung. Ein wesentlicher Bestandteil der Aufnahmemöglichkeiten seien dabei freiwillige Hilfsinitiativen und Privatpersonen. Auch die Asylpolitik wird geordnet, dezentralisiert und demokratisch mitgetragen. Das Beispiel Kanada zeigt: Schrittweise Öffnung und bedachte Regulierung sind keine Gegensatzpaare, sondern ergänzen sich.

Verantwortungsbewusstsein auf allen Seiten

Es muss also darum gehen, möglichst vielen Menschen, die Krieg und Armut entkommen wollen, zu helfen, ohne dabei die bereits bestehenden Integrationsprobleme eines einzelnen Landes zu verstärken und so seine Integrationskraft zu überfordern. Wenn alle reichen Länder sich zu ihrer humanitären Verpflichtung in der Praxis bekennen und ihren Teil beitragen würden, hätten wir keine Flüchtlingskrise. Das ist von reichen und wohlhabenden Ländern nicht zu viel verlangt. Es ist ebenfalls nicht zu viel verlangt, wenn ein Land, das sich für Zuwanderer großzügig öffnet und ihnen Sicherheit und Chancen bietet, im Gegenzug erwartet, dass diese sich für die humanistischen Werte dieses Landes öffnen, sich grundsätzlich an seine Gesetze halten und möglichst schnell auch ihren materiellen Beitrag leisten. Wer also weiterhin das Ziel einer offenen und integrationsfähigen Gesellschaft verfolgt, sollte selbstbewusst Leitbilder und Konzepte vorlegen, wie dies gelingen kann.

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