20.04.2015

Zwischen Selbstschutz und Offenheit

Essay von Sabine Beppler-Spahl

Die europäische Einwanderungspolitik ist von Pessimismus geprägt. Eine ehrliche Debatte findet nicht statt. Sabine Beppler-Spahl plädiert unter Verweis auf die Geschichte für mehr Optimismus und geht auf konservative Kritiker ein. Europa kann von offenen Grenzen profitieren

Die Wissenschaft kommt uns gelegen, wenn sie mit beinharten Fakten belegt, was wir ohnehin glauben. Ein Beispiel sind die zahlreichen Studien, die zeigen, wie vorteilhaft Einwanderung ist. Eine Untersuchung nach der anderen weise nach, so die Ökonomen Michael Clemens und Justin Sandefur in einem Beitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs, dass die Öffnung des Arbeitsmarktes für Einwanderer aus ärmeren Ländern zu höheren Renditen und einem beschleunigten Wirtschaftswachstum im Aufnahmeland führe. [1] Harvard-Professor Edward Glaeser beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Zuwanderung und Städten. In den USA habe sich die Bevölkerung in den vergangenen 40 Jahren um 106 Millionen Menschen erhöht. 74 Prozent davon (78 Millionen Menschen) seien Zuwanderer und deren Kinder, schreibt er. Dieser Zuzug habe aus Städten dynamische Zentren gemacht. [2] Auch für Deutschland hat das Institut der Deutschen Wirtschaft Köln im Februar 2014 festgestellt, dass Zuwanderung die Wirtschaftskraft und die öffentlichen Haushalte stärke sowie den Wohlstand des Einzelnen fördere. [3] Eine andere Studie des Bonner Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) kam im Jahr 2012 sogar zu dem Ergebnis, dass Einheimische „deutlich zufriedener“ seien, wenn sie in Gegenden mit hohem Ausländeranteil wohnten. [4]

Trotz dieser einhelligen Botschaften bleibt ein großer Teil der Bevölkerung in den westlichen Ländern kritisch. „Zuwanderern begegnen Deutsche nach wie vor mit großer Skepsis“ war das Fazit einer TNS Emnid Umfrage im Auftrag der Bertelsmann Stiftung vom Dezember 2012. [5] Nach dem (knappen) Votum der Schweizer gegen Masseneinwanderung im Februar 2014 wurde ängstlich darüber spekuliert, wie eine solche Abstimmung bei uns ausgegangen wäre. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble forderte die Politik auf, Lehren zu ziehen: „Es zeigt natürlich ein bisschen, dass in dieser Welt der Globalisierung die Menschen zunehmend Unbehagen gegenüber einer unbegrenzten Freizügigkeit haben“ [6], sagte er. Auch in anderen europäischen Ländern ist die Sorge vor offenen Grenzen gewachsen, wie der Erfolg immigrationskritischer Parteien in Deutschland, Frankreich, England und anderswo zeigt.

„Die Skepsis gegenüber Einwanderung schwindet nicht allein durch wirtschaftliche Argumente“

Diese Skepsis schwindet leider nicht allein durch wirtschaftliche Argumente. Was ist zu entgegnen, wenn z.B. Nigel Farage, Vorsitzender der UK Independence Party (UKIP) in Großbritannien, nach einem seiner fulminanten Wahlsiege sagt, er wäre lieber ärmer mit weniger Migranten? [7]. Nicht nur aus dem Spektrum der Protestparteien kommt Gegenwind. In seinem Buch Exodus- Warum wir die Einwanderung neu regeln müssen fordert Professor Paul Collier strengere Einwanderungsquoten. Der Direktor des Zentrums für afrikanische Ökonomie der Universität Oxford und ehemalige Leiter der Forschungsabteilung der Weltbank stellt die meisten Studien nicht infrage, die der Einwanderung positive Impulse für die Wirtschaft zusprechen. Er meint jedoch, die sozialen Probleme seien vernachlässigt worden. Die Immigration, so Collier, bedrohe den Zusammenhalt unserer Gesellschaften. Sein Buch traf offensichtlich einen Nerv und erreichte auch in Deutschland schon kurz nach Erscheinen den Amazon-Bestsellerstatus.

Im Zentrum der Immigrationsdebatte steht also nicht so sehr die Wirtschaft, sondern die Sorge darüber, die Kontrolle über das eigene Umfeld zu verlieren. Zahlreiche Deutsche fürchten, dass Werte und Lebensgewohnheiten, die sie richtig und wichtig finden, durch die Immigration stark unter Druck geraten. Sie sehen das, was sie an ihrem Land schätzen und lieben dahinschwinden (ob berechtigterweise oder nicht). Dieses Gefühl des Verlusts griff Thilo Sarrazin in seinem Buch Deutschland schafft sich ab, mit dem Untertitel „wie wir unser Land aufs Spiel setzen“, geschickt auf. Das Buch ist exemplarisch für die Vermischung der Einwanderungsfrage mit anderen Themen, die unser Zusammenleben betreffen. Es wurde als Plädoyer für die Verteidigung von Werten verstanden, die nicht nur der Autor, sondern viele andere bedroht sehen. Die Immigration, so Sarrazin, habe unser Selbstverständnis mit „autoritären, vormodernen, auch antidemokratischen Tendenzen“ konfrontiert. [8] Gemeint sind z.B. der Schleier muslimischer Frauen, der Radikalismus junger Salafisten oder der Ruf nach Gebetsräumen an Schulen.

„Das freie Wort verbietet Zensur, selbst wenn sich andere beleidigt fühlen könnten“

Die vielen Debatten über kopftuchtragende Lehrerinnen oder den Bau von Moscheen in Wohngebieten zeigen, dass er Recht hat. Durch sie sind wir gezwungen, uns über so grundsätzliche Fragen wie die Religionsfreiheit, den Wert der Toleranz, den Schutz von Minderheiten und die Redefreiheit auseinanderzusetzen: Wo beginnt und wo endet die Toleranz? Dürfen wir verbieten, was uns stört (Stichwort Burka)? Wie viel Fremdheit kann eine Gesellschaft verkraften und wie können wir eigene Werte schützen?

Verbotsforderungen erinnern an überholte Zeiten, in denen unbeliebte Minderheiten per Dekret an der Ausübung ihres Glaubens gehindert wurden. Andererseits gilt in einer freiheitlichen Gesellschaft das freie Wort. Es verbietet Zensur, selbst wenn sich andere durch das Geschriebene oder Gesagte beleidigt fühlen könnten (Stichwort: Satanische Verse). Wie sind die Prinzipien der Toleranz und der Redefreiheit miteinander zu vereinbaren?

Welche Werte sind uns wichtig?

All diese Fragen zeigen, dass Einwanderung einen Klärungsprozess auslösen kann, der weit mehr umfasst als nur die Interessen der Zugezogenen. Das ist nichts Neues. Immigration war meist ein anstrengender Prozess, weil er nicht nur die Einwanderer, sondern auch die ansässige Bevölkerung mit Gewohnheiten, Sprachen und Weltanschauungen konfrontiert, die ihnen fremd sind. Was bei Deutschland schafft sich ab als unheilvolle Last dargestellt wird, kann als positiver Prozess verstanden werden, denn er zwingt die aufnehmende Gesellschaft, sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen. Welche Werte sind für uns von zentraler Bedeutung? Sind es die Errungenschaften der Moderne und der Aufklärung? Dazu gehört z.B. die konsequente Verteidigung des freien Worts. Wenn wir feststellen, dass wir unseren, eigenen Ansprüchen nicht immer treu sind, sollten wir uns fragen, ob das wirklich an den Zuwanderern liegt.

In den letzten Jahrzehnten gab es immer wieder Beispiele für Selbstbeschränkungen. Bücher, Theaterstücke oder Filme wurden in vorauseilender Vorsicht zensiert. Im Frühjahr 2014 nahm der Penguin-Verlag das Buch der amerikanischen Indologin Wendy Doniger vom Markt und ordnete an, alle unverkauften Werke zu vernichten, weil radikale Hindus protestiert hatten. [9] Wenige Monate später sah sich die Metropolitan Opera in New York nach Protesten genötigt, eine Kinoübertragung von John Adams Oper The Death of Klinghoffer abzusagen. Wie die Zeitschrift Der Spiegel im Juni 2014 berichtete, wurde befürchtet, die Oper könne antisemitische Ressentiments entfachen. In Berlin wurde im Jahr 2006 die Aufführung der Oper Idomeneo (Mozart) abgesagt, weil darin die abgeschlagenen Köpfe von Buddha, Mohammed und Jesus zur Schau gestellt werden sollten. Diese Beispiele verdeutlichen, dass freiheitliche Grundsätze durch unsere eigene Verunsicherung unter Druck geraten, auch wenn äußere Einflüsse als Auslöser gelten. Das Zusammenspiel zwischen inneren und äußeren Kräften bei der Relativierung von Werten beschreibt der englische Autor Kenan Malik in seinem Bestseller From Fatwa to Jihad. Für ihn war die Affäre um Salman Rushdies Satanische Verse ein Vorbote der späteren Konflikte mit radikalisierten muslimischen Jugendlichen. [10]

Kultur und Identität

Immer wieder waren Staaten mit dem Widerspruch des Selbstschutzes und der Offenheit konfrontiert. Ein Beispiel ist das wohl erfolgreichste und größte aller Einwanderungsländer: die USA. Mitte des 18. Jahrhunderts kamen an die hunderttausend Deutsche nach Pennsylvania. Die Folge war, dass der Anteil der Deutschen an der Gesamtbevölkerung binnen kürzester Zeit auf über 30 Prozent anstieg. Ganze Dörfer aus der Pfalz hatten sich auf die Reise gemacht. Benjamin Franklin, Aufklärer, Erfinder des Blitzableiters und einer der Wortführer des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs soll sich nicht sonderlich über die Neuen gefreut haben: „Warum sollte Pennsylvania, das von Engländern gegründet wurde, eine Kolonie von Fremden werden, die in Kürze so zahlreich sein werden, dass sie uns germanisieren (…)? “ [11] Sein Protest war kein Appell zur Abschiebung, sondern ein Aufruf zum Handeln. Franklin forderte, der Germanisierung entgegenzutreten, indem die Kinder der pfälzischen Bauern zur Schule geschickt werden sollten, um Englisch zu lernen. Damit war er offensichtlich erfolgreich.

„Kultur und Identität sind keine festen Eigenschaften, sondern wandelbar“

Noch größere Probleme bereiteten die 4,5 Millionen Iren, die sich zwischen 1820 und 1920 ins „gelobte Land“ aufmachten. Sie waren verarmt, katholisch und radikalisiert durch den Horror der englischen Kolonialisierung. Die ansässige Bevölkerung verband mit ihnen Slums, Trunkenheit, Kriminalität und Terrorismus. Die Probleme waren so groß, dass sie unsere heutigen Erfahrungen in den Schatten stellen könnten. Polizeistatistiken aus New York zeigen, dass 1859 55 Prozent aller Festgenommenen Iren waren. [12] So unbeliebt waren sie, dass Stellenausschreibungen nicht selten die Zusatzklausel „Iren brauchen sich nicht zu bewerben“ enthielten. Daran erinnerte einer ihrer berühmtesten Söhne, der spätere 35. Präsident der Vereinigten Staaten, John F. Kennedy, 100 Jahre später, in seinem posthum erschienenen Buch A Nation of Immigrants. Dort schreibt er: „Die Iren sind vielleicht die Einzigen in unserer Geschichte, denen die Distinktion zukommt, dass sich eine politische Partei gegen sie formierte“. [13] Es war die Partei der „Know Nothings“, die nur englische Protestanten in ihren Reihen duldete und die irische Einwanderung mit Gewalt zu unterbinden versuchte. Die blutigen Bandenkriege zwischen den protestantischen „Natives“ und den katholischen Iren werden in Martin Scorseses Kinofilm Gangs of New York dargestellt.

Konflikte dieser Art zwangen die amerikanische Gesellschaft, das Zusammenleben auf eine konstruktivere und tolerante Basis zu stellen. Das erforderte Zuversicht und Kraft. Den Anstrengungen ist es zu verdanken, dass Kennedy die Einwanderung als die größte Erfolgsgeschichte seines Landes bezeichnen konnte. Die Iren wurden übrigens innerhalb weniger Jahrzehnte von der unbeliebtesten zur beliebtesten Volksgruppe der USA: Bei der Volkszählung von 1980 (Census) behaupteten 40 Millionen Amerikaner, irischer Abstammung zu sein. Eine Zahl, die trotz der großen Einwanderungswellen des 19. Jahrhunderts vollkommen überhöht war, wie der Wirtschaftswissenschaftler Professor Nigel Harris schreibt. [14] Was war geschehen? Die Iren waren offensichtlich so beliebt geworden, dass sie bei der Auswahl der eigenen Vorfahren zur Präferenz wurden. Daran zeigt sich, dass Kultur und Identität eben keine festen Eigenschaften sind, sondern wandelbar.

Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück

Nun ist die Situation Amerikas im 18. Jahrhundert nicht mit der heutigen in Deutschland vergleichbar. Die Immigranten trafen in Amerika auf ein Land, das trotz Problemen uneingeschränkt offen für Einwanderer war und dessen Bevölkerung sich durch einen robusten Optimismus auszeichnete. Wie der amerikanische „Schmelztiegel“ funktionierte, beschreibt der Historiker Oscar Handlin in seinem wunderbaren Buch The Uprooted (Die Entwurzelten). Freiheitliche Grundwerte, die schon im Unabhängigkeitskrieg erprobt und gefestigt worden waren, erlaubten den Neuankömmlingen, ihr Leben weitgehend so zu gestalten, wie sie es für richtig hielten. Das Prinzip der Religionsfreiheit war tief im amerikanischen Selbstbewusstsein verankert. Unzählige religiöse Zentren bildeten sich, denn der Glaube war für viele der einzige Anker und Orientierungspunkt in einer fremden Welt (eine Tatsache, die bis heute stimmen dürfte, weshalb wir bei Einwanderern oft eine größere Religiosität erkennen als bei den Daheimgebliebenen). Jede Gruppe gründete ihren eigenen Tempel, ihre Kirche oder ihr Gebetszentrum. Darunter waren deutsche, polnische oder russisch-orthodoxe Juden, Quäker, irische, italienische und polnische Katholiken, Lutheraner, Protestanten, schwäbische oder skandinavische Pietisten usw.

„In Deutschland ist vom Vertrauen in die eigenen Werte nicht viel zu spüren“

Auch war Integration keine staatlich-hoheitliche Aufgabe, sondern man verließ sich auf die Überzeugungskraft des amerikanischen Lebens. Dieses Selbstbewusstsein fehlt uns heute. Im Deutschland des 21. Jahrhunderts ist von dem Vertrauen in die eigenen Werte nicht viel zu spüren. Was ist mit der Überzeugung, dass sich das Richtige durchsetzt, auch wenn Migranten „rückständige“ Ansichten vertreten? Dabei war auch in den Jahren der großen Flüchtlingsströme des letzten und vorletzten Jahrhunderts nichts einfach. Ghettos bildeten sich in den dichtbesiedelten Stadtteilen New Yorks. Es entstanden Slums, die den Mythos, die USA habe den Einwanderern mehr Platz bieten können als das moderne Europa, Lüge strafen. Jeder Nationalität war es möglich, die eigene Kultur zu pflegen. Theater und soziale Treffpunkte entstanden, die zum Teil auch wichtige soziale Funktionen übernahmen und zur Anlaufstelle für die „Entwurzelten“ wurden. Einige der bekanntesten Theater der USA, wie das US-Vaudeville, sind auf diese frühen Zeiten zurückzuführen. Die Vorstellungen waren, je nach Wochentag, auf Polnisch, Deutsch, Italienisch, Russisch oder Jiddisch.

Selbst große Zeitungen wurden zunächst oft noch in der Sprache der Zugewanderten gedruckt. Joseph Pulitzers auflagenstarkes Blatt World richtete sich an die zweite Generation Deutsch-Amerikaner. Der Stifter des renommierten Pulitzer-Preises hatte seine Karriere als Journalist bei deutschsprachigen Zeitungen in Amerika begonnen. Im Unterschied zu heute aber stand hinter diesem ganzen „Chaos“ eine positive Vision: „Religiöse Verfolgung, politische Unterdrückung und wirtschaftliche Not waren die Hauptgründe, weshalb sich bis in die späten 1950er-Jahre über 42 Millionen Menschen nach Amerika aufgemacht hatten. Mit dieser Entscheidung hat jeder Einwanderer auf seine Art – und aus ganz individuellen Gründen – auf das Versprechen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung reagiert, die ihm das Recht auf Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück garantiert.“ [15]

„Gastarbeiter“ oder Bürger?

Auch hier erkennen wir einen wichtigen Unterschied zu heute: Nicht die Frage, welchen unmittelbaren Nutzen die Zuwanderer fürs Land haben steht im Mittelpunkt, sondern was das aufnehmende Land seinen Bürgern bietet. In den vergangenen Jahren ging es bei uns immer nur um die erste Frage. Selten wird darüber nachgedacht, was die Attraktivität unseres eigenen Lebens ausmacht: Gibt es Lebensgewohnheiten und Freiheitsrechte, die überzeugen und deswegen von Neuankömmlingen oder ihren Kindern übernommen werden? Die Schwierigkeiten beginnen schon damit, dass viel zu oft das Trennende im Mittelpunkt der Diskussion steht und nicht das, was uns als gemeinsame Bewohner dieses Landes verbindet. Bis vor wenigen Jahrzehnten wehrten sich politische Kräfte dagegen, überhaupt von einem Einwanderungsland zu sprechen. Das Land der „Gastarbeiter“ wagte erst zu Beginn des neuen Jahrtausends einen vorsichtigen und, wie die Journalistin Sabine Reul schreibt, halbherzigen Versuch, die Enkel der Zugezogenen als gleichberechtigte Bürger anzuerkennen. In einem Beitrag zur Reform des Staatsbürgerschaftsrechts aus dem Jahr 1999 schreibt sie:

„Die Abgrenzung zu Fremden ist für viele Teil eines kollektiven Zugehörigkeitsgefühls“

„In Deutschland (...) praktiziert man eine über Generationen anhaltende rechtliche Ausgrenzung von Einwanderern. Entkommen kann ihr nur, wer bereit ist, ein Einbürgerungsverfahren zu durchlaufen, das nicht als Einlösung eines Rechtsanspruchs, sondern immer noch als Zuteilung eines widerstrebend gewährten Privilegs gehandhabt wird. Diese Praxis hat, zusammen mit einer von der Politik über Jahrzehnte gepflegten Kultur der Ausgrenzung (...) von Einwanderern, das Verhältnis zwischen den verschiedenen im Lande lebenden Bevölkerungsgruppen nachhaltig belastet. Sie hat, über die rein formalrechtliche Benachteiligung hinaus, gravierende soziale Diskriminierung zur Folge. Die zeigt sich u.a. darin, dass hierzulande, anders als in anderen großen Einwanderungsländern wie den USA, England und Frankreich, südländische und nicht-europäische Immigranten in Führungspositionen und gehobenen Berufsgruppen noch immer so gut wie gar nicht anzutreffen sind.“ [16]

Eine Konsequenz dieser Politik war, dass sich manche türkische Einwanderergruppen tatsächlich von der Mehrheitsgesellschaft abkoppelten und gefährlich isolierten. Wenn junge Musliminnen der dritten Einwanderergeneration wieder Kopftuch tragen, obwohl ihre Mütter das nicht taten, so können wir das nicht allein auf ihre Herkunft zurückführen. Was genau ist es, in das sich Türken oder Araber integrieren sollten? Mehr als der Hinweis, jeder müsse Deutsch lernen, fällt den Wenigsten ein. Doch sieht so Inspiration und Überzeugungskraft aus? Zum Glück können wir davon ausgehen, dass sich unsere Gesellschaft seit 1999 geöffnet hat, denn türkische oder arabische Führungskräfte in Wirtschaft und Politik sind keine ganz große Ausnahme mehr.

Kleinster gemeinsamer Nenner?

Wie aber können wir, um auf unser Ausgangsthema zurückzukommen, in unserer heutigen Zeit überzeugend für offene Grenzen werben? Nicht, indem wir die Themen ignorieren, die für viele Deutsche wichtig sind. Die Abgrenzung zu Fremden ist für zahlreiche Bürger Teil eines kollektiven Zugehörigkeitsgefühls. Eine Multikulti-Ideologie, die die kulturellen Unterschiede hervorhebt und so tut, als könnten wir uns alle auf den kleinsten gemeinsamen Nenner des Zusammenlebens einigen, verstärkt das Abgrenzungsbedürfnis. [17] Interessant sind in diesem Zusammenhang die Parallelen zwischen Deutschland schafft sich ab und Paul Colliers Exodus. Beide Autoren verstehen sich als Gegner eines, in ihren Augen, zerstörerischen Trends, der alte Tugenden wie Zuverlässigkeit, Hilfsbereitschaft, Solidarität oder auch Fleiß untergraben habe. Die „Gutmenschen“, die die Immigration um jeden Preis forderten, hätten diesen Trend in Gang gesetzt und die Gesellschaft geschwächt.

Collier, der vorsichtiger, klüger und weniger stigmatisierend argumentiert als Sarrazin, sieht vor allem die sozialen Errungenschaften seines Landes in Gefahr. Das Nationale Gesundheitssystem (NHS) z.B. sei die populärste öffentliche Institution Großbritanniens. Das fragile Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Interessensgruppen, die das Gesundheitswesen stützten und finanzierten sei durch die massive Zuwanderung, z.B. von Polen, aufgeweicht worden. Während Kooperation und der Sinn für das Gemeinwohl früher wichtig für die Menschen gewesen seien, habe sich heute eine ungesunde Anspruchshaltung durchgesetzt, schreibt Collier. Jeder kleine Fehler eines Pflegers oder Arztes des NHS ende in einer Entschädigungsforderung. Darin sieht der Autor (nicht ganz zu Unrecht) einen Verfall der Kultur des Vertrauens und des Zusammenhalts. Wer auf eine Klage verzichte, werde als dumm bezeichnet, weil er etwas verschenke. Damit aber werde ein Teufelskreis ausgelöst, der das Gesundheitswesen, das allen gedient habe, zerstört. Verursacht habe diesen Zustand die hohe Diversität der Gesellschaft. Deswegen müsse bei der Immigration darauf geachtet werden, dass eine verkraftbare Größe nicht überschritten werde und es nicht zu Gruppeneinwanderungen käme. [18]

„Immigration wird zu einer Lebensstilfrage“


Beide Bücher (Sarrazins und Colliers) können als Streitschriften verstanden werden, die sich gegen eine Politik richten, der sie vorwerfen, die Interessen der „schweigenden Mehrheit“ zu lange ignoriert zu haben. Sie wenden sich gegen eine selbstherrliche Elite, die ihrer Meinung nach einen viel zu großen Einfluss auf die Politik ausübe. Diese Elite habe den Selbsterhaltungswillen der Gesellschaft missachtet. Der englische Publizist David Goodhart bläst ins gleiche Horn und spricht von einer „städtisch-liberalen Schicht“, die hochnäsig auf andere herabschaue, die den Preis der Zuwanderung zu zahlen hätten (zum Beispiel in Form höherer Mieten oder einer Verschlechterung ihres Wohnumfelds). Ganz falsch liegt Goodhart mit seiner Beschreibung der Schichten nicht. Die „anderen“ sind die eher traditionell orientierten Teile der Bevölkerung. Es sind auch diejenigen, die um ihren Arbeitsplatz eher fürchten müssen als die gutsituierte Mittelschicht. Sie sind, wie oben erwähnt, nicht begeistert von einem kosmopolitischen, „multikulturellen“ Lebensstil. Schlimmer noch: Sie merken, dass sie wenig ernst genommen werden von einer selbstzufriedenen urbanen „Elite“, die sich als etwas Besseres fühlt. Nicht selten schottet sich diese „privilegierte“ Gruppe in ihrem Multikulti-Kiez bewusst von der Mehrheitsbevölkerung ab (zumindest, bis die Kinder zur Schule kommen und dann doch ein ruhigerer Stadtteil bevorzugt wird). Dadurch aber wird die Immigration zu einer Lebensstilfrage. Die Folge ist, dass wir einen Streit erleben, der mit dem eigentlichen Thema der Zuwanderung nicht viel zu tun hat. Vielmehr wird ein kultureller Konflikt ausgetragen, an dem kein Immigrationsbefürworter ein Interesse haben kann.

Zuwanderung und nationale Souveränität

Das Ärgerliche dabei ist, dass die Öffentlichkeit, wenn es um Zuwanderung geht, tatsächlich wenig eingebunden wird. Der Eindruck, die Immigration werde einer skeptischen Öffentlichkeit aufgedrängt, hat Immigrationskritikern in den letzten Jahren den größten Auftrieb gegeben. Ein Beispiel war die Öffnung der Grenzen für Arbeitsmigranten aus Rumänien und Bulgarien Anfang des Jahres 2014. Mit dem Willen der Bürger hatte dies wenig zu tun, denn sie wurde uns als ein bürokratischer Akt verkauft, der Vorgaben und Beschlüsse aus Brüssel umsetzt. Statt aktiv für die Grenzöffnung zu werben, versuchten die Parteien, das Thema möglichst von der Öffentlichkeit fernzuhalten.

Eine solch technische Herangehensweise funktioniert nicht, denn sie ruft geradezu nach Opposition. Zwar wiesen namhafte Forschungsinstitute und Wirtschaftsvertreter auf die Vorteile der Grenzöffnung hin. So sagte z.B. der Vize-Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Achim Dercks, der Rheinischen Post: „Die Unternehmen haben in vielen Bereichen weiterhin Schwierigkeiten, qualifiziertes Personal zu finden – da sind Zuwanderer sehr willkommen“. Auch stand schon kurz nach der Grenzöffnung fest, dass die Arbeitslosigkeit in Folge der Grenzöffnung nicht steigen würde (Im September 2014 lag sie sogar geringfügig unter dem Wert des Vorjahres). [19] Im Laufe des Jahres 2014 bestätigte sich, dass Bulgaren und Rumänen mehr in die Sozialkassen eingezahlt als empfangen hatten. [20]

Doch diese Statistiken wurden meist als Beschwichtigungsmanöver einer Unternehmerschicht wahrgenommen, die in der Migration eine Möglichkeit sah, billige Löhne durchzusetzen. Entscheidend war, dass für die Grenzöffnung durch die Politik nicht aktiv geworben wurde. Statt im eigenen Recht für die Arbeitnehmerfreizügigkeit einzutreten, versteckte sich die Regierung hinter Brüssel und Schengen. Auf die Unterstützung der breiten Bevölkerung wurde unklugerweise verzichtet. Die Konsequenz war, dass die Grenzöffnung nicht gefeiert, sondern als notwendiges Übel wahrgenommen wurde. Statt den Freiheitsgewinn vieler Europäer zu begrüßen, wurde darüber spekuliert, ob die Städte den Zustrom verkraften könnten, was der Debatte einen außerordentlich begrenzten Charakter verlieh.

Entfremdung oder Überfremdung?

Wer nicht für seine Politik wirbt und die geistige Auseinandersetzung mit dem Bürger sucht, schafft ein politisches Vakuum, das von anderen ausgefüllt wird. Es gibt zurzeit wohl kaum ein Thema, welches mehr mit den Defiziten demokratischer Mitsprache in Verbindung gebracht wird als die Zuwanderung. Das ist eine Tragik! Die Erfolge immigrationskritischer Bewegungen sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass geglaubt wurde, man könne Politik machen, ohne für sein Anliegen zu werben. Schon 1999, als die rot-grüne Bundesregierung das Einbürgerungsgesetz reformieren wollte, unterlag sie diesem Irrtum. Als die hessische CDU die Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft begann, reagierte die Regierung vorwiegend defensiv. In einem „Frankfurter Aufruf“ wehrten sich Teile der Grünen und der SPD dagegen, dass sensible Fragen wie die Einbürgerung auf der Straße diskutiert werden sollten. Doch gerade da gehören die Debatten über sensible Fragen hin. Anstatt sich der Herausforderung zu stellen, wurde die Initiative weitgehend einer CDU überlassen, die Bürgernähe demonstrieren konnte und in Hessen einen Wahlsieg davontrug.

„Bei der Immigrationsdebatte muss es auch um die Frage gehen, wer die Entscheidungen im Land treffen darf“

Wie eng die Themen Immigration und Mitbestimmung verknüpft sind, verdeutlichte auch ein Plakat der AfD beim Europawahlkampf 2014, auf dem zu lesen war: „Die Schweiz ist für Volksentscheide. Wir auch“. Die Botschaft war klar: Während in der liberalen Schweiz die Bürger über Einwanderung und Minarette mitbestimmen dürfen, wird dies den Deutschen vorenthalten. Deswegen muss es bei der Immigrationsdebatte auch um Souveränität und um die Frage gehen, wer die Entscheidungen im Land treffen darf. Die Debatte über offene Grenzen ist zu einem Katalysator für Unzufriedenheit geworden. Oft geht es dabei überhaupt nicht mehr um die Zuwanderung, sondern um den Widerstand gegen Bevormundung. Für Wähler, die das Gefühl haben, nicht mehr gefragt zu werden, wenn es um die Zukunft ihres eigenen Landes geht, ist die Immigration zum „Blitzableiter der Entfremdung“ [21] geworden.

Wer ernsthaft für offene Grenzen werben möchte, muss daher das Thema Mitbestimmung auf die Tagesordnung setzen und auf die Kraft der eigenen Argumente vertrauen. Als Lichtblick in schwierigen Zeiten kann das Ergebnis der Schweizer Volksabstimmung gegen „Masseneinwanderung“ durchaus gewertet werden: 50,3 Prozent der Schweizer unterstützten zwar die Initiative der national-konservativen SVP. Doch dieser Mehrheit stand eine ziemlich große Minderheit gegenüber, die sich offensichtlich nicht gegen Masseneinwanderung aussprechen wollte. Das ist kein ganz schlechtes Ergebnis und spricht für das Land, in dem jeder vierte Bewohner Zuwanderer ist. Darf eine Bevölkerung also entscheiden, die Grenzen des eigenen Landes zu schließen? Ja, das darf sie. Wir glauben jedoch nicht, dass sie es tun sollte. Warum? Weil wir meinen, dass von der Immigration positive Impulse ausgehen, die für alle wichtig sind.

Zusammenbruch des Nachkriegskonsenses

Doch auch wenn wir Collier, Goodhart und anderen Recht geben, dass die Immigration zu lange eine Sache der Eliten war, irren sie sich darin, alle Schwierigkeiten mit der Einwanderung in Verbindung zu bringen. Unser Blick verzerrt sich, wenn er durch die Linse der Immigration erfolgt. Die Probleme, mit denen wir heute kämpfen, sind hausgemacht und haben nichts mit der kopftuchtragenden Muslimin zu tun. So geht der Druck, der auf dem britischen NHS lastet, weit zurück. Er hat viel mit dem Zusammenbruch des Nachkriegskonsenses zu tun, der in den späten 60er und frühen 70er Jahren begann und vom Ende des weltweiten Wirtschaftsaufschwungs begleitet wurde (Stichworte: Ölkrise, Zusammenbruch des Bretton Woods Systems, einsetzende Massenarbeitslosigkeit, Club of Rome und Zukunftspessimismus).

Collier begründet seine Position mit den Untersuchungen des amerikanischen Soziologen Robert Putnam. Putnam hat nachgewiesen, dass das soziale Engagement nachlässt, je vielfältiger eine Gesellschaft ist. Diese Untersuchungen beschränken sich aber auf einen relativ kurzen historischen Zeitrahmen, bei dem sich viele Veränderungen überschneiden. So ging die Zunahme der Immigration mit sozialen und politischen Umwälzungen einher, die das Zusammenleben weit stärker beeinflusst haben dürften als die Migration. Mit dem Ende des Kalten Krieges sind überall in der westlichen Welt die großen Institutionen der Nachkriegszeit in eine Krise geraten. Das Ende der Ideologien hat Spuren bei den Parteien, den Gewerkschaften und den Kirchen hinterlassen. Alle mussten Mitgliederschwunde hinnehmen. Keine der ehemaligen Volksparteien kann sich mehr auf ihr klassisches Milieu stützen.

„Die Probleme, mit denen wir heute kämpfen, sind hausgemacht und haben nichts mit der kopftuchtragenden Muslimin zu tun“

Das, und nicht die Vielfalt, hat zur Individualisierung geführt. Sie wirkt sich nicht nur auf das Gesundheitssystem aus, sondern auf den gesamten Wohlfahrtsstaat, der mit seinem ursprünglichen Auftrag nur noch wenig zu tun hat. Statt Menschen zu helfen, die in Not geraten sind, füllt er die Lücke aus, die das Ende der klassischen Politik hinterlassen hat. Er ist zu einem Instrument des Staates geworden, mit dem er den Kontakt zum Bürger sucht: „Das heutige Wohlfahrtsmodell basiert auf der therapeutischen Prämisse, wonach im Grunde alle Menschen in unterschiedlichem Ausmaß von einem omnipräsenten Staat und seinen Institutionen beraten, betreut und zu einem gesünderen und besseren Lebensstil erzogen, verführt oder gedrängt werden müssen. Gefördert wird Abhängigkeit und Entsolidarisierung statt Unabhängigkeit und gesellschaftliches Miteinander“, heißt es im Freiheitsmanifest des Think Tanks Freiblickinstitut. [22] Es mag sein, dass die Immigration die sichtbarste Veränderung darstellt, die unser Leben betrifft. Die wirklichen sozialen Umwälzungen aber finden auf einer ganz anderen Ebene statt.

Kampf der Kulturen

Deswegen ist auch die Behauptung, eine zu starke Einwanderung untergrabe die Werte und die Stabilität des Westens, zu einfach. Sie ist eine bagatellisierte Variante der „Clash of Civilizations“- These, wie sie in den 1990er Jahren von Samuel Huntington in den USA entwickelt wurde. Die Immigration und die Existenz von Parallelgesellschaften wird als eine Art Trojanisches Pferd des Kulturkonflikts dargestellt. Das Gute und Überlegene, so die Logik, breche zusammen, wenn das Fremde ein bestimmtes Maß übersteige. Die positiven Impulse der Zuwanderung wenden sich laut Collier ins Gegenteil, wenn sie einen bestimmten, kritischen Grenzwert überschritten habe. Dahinter verbirgt sich die Auffassung, dass Minderheitengesellschaften per Definition homogene Einheiten sind, denen die Kultur und der Glauben ihrer Herkunft anhaften.

Die Realität ist komplexer. Als Kind deutscher Eltern geboren zu werden, stellt keine Garantie dar, ein freiheitsliebender oder fortschrittlicher Mensch zu werden. Einem anderen Kulturkreis zu entstammen, bedeutet andersherum nicht, zeitlebens die Institutionen der liberalen Demokratie abzulehnen und zu unterwandern. Identität und Kultur sind keine zeitlosen Wesensmerkmale. Sie entwickeln und verändern sich je nach historischer Begebenheit. Wer glaubt, die Ausgrenzung Fremder bewahre eine Gesellschaft davor, sich ständig mit ihren Werten auseinanderzusetzen, der tut so, als seien uns diese Werte in den Pass geschrieben oder angeboren – ähnlich wie unsere Augenfarbe. Die wirklichen Konfliktlinien verlaufen nicht zwischen unterschiedlichen Kulturen, sondern innerhalb der Kulturen (wie wir an den harten Auseinandersetzungen über die Rolle wirtschaftlichen Wachstums, ökologischer Lebensstile, der richtigen Erziehung und vielem anderen sehen).

Der Streit über die Schulen verdeutlicht dies. Die Bildung nimmt bei Deutschland schafft sich ab eine prominente Stellung ein, denn auf den ersten Blick sieht es so aus, als zögen die Migrantenkinder die Bildung nach unten. Sie sind, in der Tat, immer noch die größten Bildungsverlierer: Bis heute wird darüber geklagt, dass ausländische Schüler an den Hauptschulen mit 27,5 Prozent überrepräsentiert sind und zu häufig (11,6 Prozent) die Schule ohne Abschluss verlassen (vgl. FAZ 30.10.2014). Doch der Blick auf türkische Jungs lenkt davon ab, dass bei uns seit Jahren eine Auseinandersetzung darüber tobt, wie und was gute Bildung ist: Was müssen Schulen leisten? Geht es um Wissensvermittlung oder nicht? Brauchen wir mehr Abiturienten oder sollten wir das berufliche Ausbildungssystem aufwerten? Dürfen Lehrer Schüler bestrafen? Ist eine Kind-zentrierte Bildung besser als eine, die auch auf Disziplin setzt usw.?

„Wir haben eher mit Bildungsverwirrung zu tun als mit einem Bildungssystem, das sich seiner eigenen Ziele und Verantwortungen bewusst ist“

Während eine Schulreform nach der anderen eingeführt und wieder rückgängig gemacht wird, geben Eltern Studien zufolge pro Jahr Milliarden für die private Nachhilfe aus. [23] Damit versuchen sie den Einfluss einer Schule auszugleichen, die offensichtlich viele Kinder nicht mehr ausreichend fördert. All das spricht mehr für Bildungsverwirrung als für ein Bildungssystem, das sich seiner eigenen Ziele und Verantwortungen bewusst ist. Die Konsequenz ist, dass es leider längst nicht mehr reicht, sich darauf zu verlassen, dass unsere Schulen die besten Begabungen des Kindes hervorbringen. Stattdessen setzt das deutsche System (zumindest während der entscheidenden Grundschuljahre) stark auf die Einbeziehung von Müttern und Vätern. Von Eltern wird erwartet, dass sie Ersatzlehrer spielen, Hausaufgabenhilfe leisten und auch sonst, wenn nötig, ihre Kinder schulisch fördern. Deswegen klagen Eltern, auch solche aus ärmeren Haushalten, auffällig oft über die vielen Stunden, die sie am Nachmittag mit ihren Kleinen verbringen, um Rechnen, Schreiben oder Lesen zu üben. [24]

Diese enge Verknüpfung zwischen Schule und Elternhaus ist ein sicheres Mittel, den Bildungserfolg stärker an den familiären Hintergrund zu binden. [25] Sie stellt nicht unbedingt eine Empfehlung für das deutsche Schulsystem dar. Familien, die ein eher traditionelles Verhältnis zur Schule haben und sich darauf verlassen, dass ihre Kinder dort alles lernen, was sie für den eigenen Erfolg benötigen, sehen sich bitter enttäuscht. Wie sich das auf muslimische Kinder auswirkt, deren Eltern oft dieses klassische Verständnis von Schulen haben, hat eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung vor einigen Jahren beschrieben. Wer also wie Thilo Sarrazin behauptet, diese Kinder seien das größte Problem unseres Bildungssystems, stellt die Realität auf den Kopf.

Fortschrittspessimismus

Besonders auffällig an vielen Debatten über Zuwanderung ist ihr negativ-pessimistischer Tonfall. Auch das hat mehr mit unserer eigenen Weltsicht zu tun als mit denen, die zu uns kommen (die sich ganz im Gegenteil oft durch einen zuversichtlichen Blick auf die Zukunft auszeichnen). Optimisten haben bei uns einen schwereren Stand, denn der Glaube an sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt ist verpönt. Wie fremd klingt in unseren Ohren die Überzeugung eines Robert Kennedy, der im Vorwort zum Buch seines Bruders schrieb: „Unsere Einstellung zur Immigration spiegelt unseren Glauben an das amerikanische Ideal wider. Wir haben immer daran geglaubt, dass der Aufstieg für Männer und Frauen, die ganz unten anfangen, möglich ist – soweit es ihr Talent und ihre Energie zulassen“. Wir dagegen leben in einer Zeit, die nicht durch Aufstiegshoffnungen, sondern durch Abstiegsängste geprägt ist. Das zeigt sich deutlich in unserer Einstellung zur Immigration. Wer heute arm ist, so der Grundtenor auch eines Paul Collier, wird morgen wahrscheinlich noch ärmer sein oder andere Probleme haben.

Immigrationsgegner wie Marine Le Pen, die Vorsitzende des Front National in Frankreich, beschwören sehr erfolgreich die Angst vor einem Verdrängungs- und Verteilungswettbewerb zwischen der einheimischen und der zugewanderten Bevölkerung. Das passt zur vorwiegend pessimistischen Sicht auf die Zukunft. Es ginge nicht, sagte sie in einer Rede, dass die kurdische Familie mit fünf Kindern und drei Euro in der Tasche Vorrang vor der französischen Witwe habe, die nicht mehr ein noch aus wisse. Ihre Rolle sei es, so die Politikerin, erst einmal an ihre Mitbürger zu denken. [26] Diesem Argument verdankt sie einen Großteil ihrer Popularität. Schuld an der Misere der Witwe ist aber nicht die kurdische Familie, sondern die wirtschaftliche Stagnation des Landes, die sich durch einen kleinmütig-knauserigen Blick auf Zuwanderer nicht verändern wird. Das Gegenteil ist zu erwarten, denn die Probleme lassen sich nicht lösen, wenn auf andere gezeigt wird.

„Optimisten haben bei uns einen schwereren Stand, denn der Glaube an sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt ist verpönt“

Leider hat das Argument der Verdrängung auch weit über rechte Kreise hinaus Unterstützer gefunden. Selbst gewerkschaftsnahe Gruppen sind nicht immun dagegen. Sie beschwören das Bedrohungsszenario in Form des „Lohndumpings“. Das kritische Jahrbuch 2011/2012 der Nachdenkseiten z.B. enthält einen Artikel, der gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit von Polen, Letten, Esten, Slowaken usw. wettert (die Freizügigkeit für diese EU-Mitgliedsländer gilt seit Mai 2011). In einem Beitrag mit der Überschrift „Lolek und Bolek ante Portas“ wird behauptet, der deutsche Arbeitsmarkt verkrafte keine hohe Zuwanderung. Die gewählte Rhetorik soll dem Ganzen einen scheinbar radikalen Glanz verleihen: „Warum trommeln die neoliberalen Mietfedern (...) derart euphorisch für die Öffnung des Arbeitsmarktes? Natürlich erhoffen sich die Arbeitgeber durch eine Ausweitung des deutschen Arbeitsmarktes von Tallinn bis nach Szeged eine weitere Senkung des Lohnniveaus“ [27], heißt es. Soll so vielleicht die Verantwortung der Gewerkschaft, die die Lohnzurückhaltung in der Dekade seit 2000 mitgetragen hatte, heruntergespielt werden? Die Warnungen haben sich unterdessen als falsch erwiesen. Im Zeitraum nach der Öffnung der Grenzen im Mai 2011 sank die Arbeitslosigkeit, während die Reallöhne ab 2010 zum ersten Mal wieder kurzzeitig anstiegen. [28] Ähnlich sah es in Großbritannien aus, das schon 2004, lange vor Deutschland, eine Politik der offenen Türen für die neuen EU-Mitgliedsländer verfolgte. Weit über eine halbe Million Polen kamen innerhalb kürzester Zeit, ohne dass es einen wahrnehmbaren Verdrängungseffekt gab. Wie überall auf der Welt ergänzten die Zugezogenen den Arbeitsmarkt, statt ihn zu verkleinern. Sie übernahmen Tätigkeiten, für die es nicht genügend heimische Bewerber gab oder erweiterten den Dienstleistungssektor. In England arbeiteten die Polen in der häuslichen Krankenpflege oder im Baugewerbe. Zum ersten Mal seit er in London lebte, sagte der frühere Oberbürgermeister Ken Livingstone während einer Fernsehdebatte, wäre es möglich gewesen, in der Stadt einen Klempner zu finden. [29]

Masseneinwanderung und die Forderung nach Quoten

Am konsequentesten vertritt die Initiative Ecopop aus der Schweiz die Ideologie der Verdrängung aufgrund begrenzter Ressourcen. Sie sieht eine Verbindung zwischen Einwanderung, Umweltschutz und Bevölkerungswachstum. Jeder Zugezogene verstärke den Druck auf die Ressourcen, lautet ihre Botschaft. Ökonomisch und ökologisch sei die „unkontrollierte Einwanderung“ nicht mehr vertretbar. Auf ihrer Website steht: „Seit 2007 wächst die Wohnbevölkerung der Schweiz jedes Jahr um 88.000 Personen (dies entspricht der Stadt Luzern). Jede Sekunde wird hierzulande ein Quadratmeter Naturfläche zubetoniert“ [30]. Ecopop fordert daher, die Nettoeinwanderung auf 0,2 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung zu begrenzen. Es ist anzunehmen, dass die Initiative bei der bevorstehenden Abstimmung scheitern wird. Trotzdem ist sie exemplarisch für das Denken in engen Grenzen. Diese Argumentation geht von der Prämisse aus, Menschen seien nichts anderes als Naturzerstörer und Ressourcenverschwender. Im Mittelpunkt steht ein statisches Weltbild, bei dem unsere Ressourcen als von vornherein begrenzt angesehen werden. Die einzige Variable, mit der wir unsere Umwelt beeinflussen können, ist dieser Logik zufolge die Zahl der Menschen oder die Größe der Bevölkerung. Jede Zuwanderung wird als Belastung empfunden, die den Kuchen kleiner macht (weil er unter immer mehr „Genießern“ verteilt werden muss).

Dieses Modell unterliegt aber einem gedanklichen Fehler: Menschen verbrauchen nicht nur Ressourcen, sondern erschaffen sie auch, denn durch Erfindungen, Entdeckungen und technische Innovationen konnten neue Energiequellen erschlossen, bessere Waren hergestellt und auch die Umwelt effektiver geschützt werden. Der statischen Rechnung muss die Variable der menschlichen Gestaltungsfähigkeit hinzugefügt werden. Deswegen geht eine größere Bevölkerungsdichte keinesfalls notwendigerweise mit einem Verlust an Lebensqualität einher. Um dies zu verdeutlichen, hier ein Rechenbeispiel: Fänden sieben Milliarden Menschen (Erdbevölkerung) auf 357.121 Quadratkilometern Platz (Größe der Bundesrepublik), dann hätten wir eine Bevölkerungsdichte von 19.601 Einwohner pro Quadratkilometer. Die Bevölkerungsdichte von Paris beträgt 21.289, die von Manhattan 27.476 Einwohner pro Quadratkilometer. Selbst wenn sich also jeder Erdbewohner nach Deutschland aufmachen würde, wäre unser Land noch weniger dicht besiedelt als Manhattan oder Paris – beides Orte, an denen es sich gut leben lässt. Dieses Szenario ist selbstverständlich vollkommen unrealistisch. Es soll damit keinesfalls gesagt werden, dass das Leben auf dem Land oder in der Kleinstadt schlecht ist. Das Beispiel hilft aber, das Bild vor der Begrenztheit unserer Aufnahmefähigkeit zu relativieren.

„Die Frage, wie dynamisch die aufnehmende Gesellschaft ist, entscheidet darüber, ob sich eine Einwanderung positiv oder negativ auf eine Volkswirtschaft auswirkt“

Auch die Behauptung Paul Colliers, es gebe eine „optimale“ Einwanderungsgröße, die bei der Festlegung von Quoten zu berücksichtigen sei, lässt Fragen aufkommen. Wer sollte die Quoten festlegen? Auch dies spricht für ein starres, unflexibles Weltbild, das die Ökonomen Michael Clemens und Justin Sandefur zu Recht kritisieren: „Colliers Ängste, dass die Immigration eines Tages den Untergang dicht besiedelter Staaten besiegeln würde, werden durch die Realität widerlegt. Massive Zuwanderung kann sich sogar als Segen für ein Land erweisen. Das dramatischste Beispiel stellt das Ende der Rassentrennung in Südafrika dar. Mit dem Ende der Apartheid 1994 kamen unzählige Migranten, die zuvor in fernen, ländlichen Gebieten angesiedelt worden waren, in die Städte zurück. Sie kamen in großen Scharen und standen im Wettbewerb mit der weißen Bevölkerung um Arbeitsplätze. Die Größe dieser Migrationsbewegung stellt Colliers schlimmste Ängste (…) in den Schatten.“ Dennoch, so die Ökonomen, sei das Durchschnittseinkommen der schwarzen Südafrikaner in den Jahren 1993 bis 2008 um 61 Prozent gestiegen. Für weiße Südafrikaner sei das Einkommen in der gleichen Zeit nicht etwa gesunken, sondern um unglaubliche 275 Prozent gestiegen. [31]

Nicht absolute Zahlen entscheiden darüber, ob sich eine Einwanderung positiv oder negativ auf eine Volkswirtschaft auswirkt, sondern die Frage, wie dynamisch die aufnehmende Gesellschaft ist. Paul Collier geht es, wie bereits oben erwähnt, nicht um die Frage, ob die Immigration gut oder schlecht für die Wirtschaft ist. Das wirtschaftliche Argument zeuge von Verachtung für alle, die durch die Einwanderung benachteiligt würden, schreibt er. Das seien z.B. die in den Heimatländern der Auswanderer Zurückgebliebenen. Er wolle Vorschläge erarbeiten, wie die Interessen der jeweils Betroffenen (das sind die Einwanderer, die in der Heimat Zurückgebliebenen und die aufnehmende Gesellschaft) in einen optimalen Einklang zu bringen seien. Die Auswanderer steckten zwar den Löwenanteil des ökonomischen Gewinns ein, weil sie ihre Gehälter durch den Umzug in ein reicheres Land oft um ein Vielfaches erhöhen könnten. Doch die Kosten für die Zurückgebliebenen – das seien die Alten, Kranken, Frauen und Kinder – müssten in die Rechnung einfließen.

Emigration bezeichnet er daher als „egoistischen Akt“. Die Herkunftsländer, so Collier, stünden vor dem Problem, ihre besten arbeitsfähigen Bürger zu verlieren. Für manche Länder wirke sich dies, unter dem Strich, positiv aus, weil die Auswanderer mit neuen Erfahrungen und Fähigkeiten zurückkehrten. Andere profitierten davon, dass Migranten Gelder in ihre Heimat überwiesen, so der Autor. (Dabei handelt es sich um die sogenannten Remittance Payments, die laut Schätzungen der Weltbank im Jahr 2012 über 400 Milliarden US-Dollar betrugen und damit die weltweite Entwicklungshilfe bei weitem überstiegen). Doch für die meisten Staaten sei der Nettoeffekt negativ, weil die Vorteile die Verluste nicht ausgleichen könnten. Colliers Berechnungen zufolge mussten Länder wie Ghana, Vietnam, Liberia usw. in den vergangenen Jahren wegen der Emigration Nettoverluste hinnehmen. Für ihn ist es daher moralisch gerechtfertigt, den „Exodus“ aus diesen Staaten zu stoppen.

Ausdruck des Freiheitswillens

Doch was soll daran gut sein, Menschen mit Gewalt daran zu hindern, ihr Glück zu suchen? Wir bejahen die Einwanderung auch und gerade, weil wir in ihr einen Akt der Selbstbestimmung und Ausdruck des freien Willens sehen. Wer seine Koffer packt und seine Heimat verlässt, zeigt, dass er sein Schicksal selbst in die Hand nimmt und sich nicht mit den Bedingungen des Hier und Jetzt abfinden möchte. Emigration ist eine der deutlichsten (und ältesten) Bekundungen menschlicher Gestaltungskraft. Indem wir für offene Grenzen eintreten, wehren wir uns dagegen, dass Individuen, wie in Diktaturen, daran gehindert werden, über ihr Leben selbst zu bestimmen. Wer wollte Menschen verbieten, sich dort niederzulassen, wo sie glauben, ihr Potenzial am besten entfalten zu können? Wer hätte es einem DDR-Flüchtling übelgenommen, dass er seine Familie zurücklassen musste?

Wir können davon ausgehen, dass auch heute noch jeder, der sich für Auswanderung entscheidet, wohlüberlegt handelt. Niemand verlässt leichtfertig seine Heimat. In den meisten Fällen wird er von seiner Familie ermutigt. Weiß Paul Collier besser, was für andere gut ist, als die Betroffenen selbst? In Zeiten des Mobilfunks und Internets wissen Migranten, wie hoch die Hürden sind, die sie zu überwinden haben und welches Risiko sie eingehen. Wer sich dennoch aufmacht, beweist Entschlossenheit. Tatsächlich ist die Emigration so anstrengend und gefährlich, dass sich nur die Wenigsten dazu entschließen. Die Nachrichten von Flüchtlingsströmen oder Einwanderungswellen mögen einen anderen Eindruck erwecken. In Wirklichkeit handelt es sich um eine kleine Minderheit. Im Jahr 2013 z.B. lebten, laut Schätzungen der United Nations Population Fund (UNFPA), 232 Millionen Menschen außerhalb ihres Heimatlandes. [32] Das waren 3,2 Prozent der Weltbevölkerung. Selbst als sich zu Beginn dieses Jahres in der EU die Grenzen für Arbeitsmigranten aus Bulgarien und Rumänien öffneten, strömten keine Millionen. Im April lebten, laut Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 430.000 Bulgaren und Rumänen in Deutschland. [33] Da die Länder zusammen ca. 27 Millionen Einwohner haben, sind das nicht einmal 2 Prozent der Gesamtbevölkerung.

„Menschen dort festzuhalten, wo sie durch Zufall geboren wurden, erinnert an die feudalen Fesseln des Mittelalters“

Hinter der Behauptung, die Armen profitierten von Immigrationsbeschränkungen, verbirgt sich eine seltsame Vorstellung von Freiheit und Moral. Darauf weist der Migrationsexperte Kenan Malik hin. Angenommen, so Malik, die ärmeren Länder hinderten Menschen an der Ausreise: Wäre das richtig? Die wenigsten würden diese Frage bejahen, denn dann würden diese Länder wie Nordkorea oder die ehemalige DDR handeln. Ausreiseverbote passen nicht in eine freie Welt. Wenn es aber, so Malik, falsch sei, seine Bevölkerung an der Ausreise zu hindern, wie könne es dann richtig sein, wenn reiche Länder diese Arbeit übernehmen? Ausreise- und Einreisestopps für Flüchtlinge sind eng verbunden. Noch im Jahr 2010 vereinbarten die damaligen EU-Kommissare Cecilia Malmström und Štefan Füle (zuständig für die EU-Erweiterung) mit dem später entmachteten libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi ein Abkommen zur Regelung des Flüchtlingsproblems. Die Rede war von einer Finanzhilfe für nordafrikanische Staaten in Höhe von 50 Millionen Euro. Libyen versprach im Gegenzug für finanzielle Unterstützung seine Grenzen mit Hilfe moderner Überwachungssysteme effizienter zu kontrollieren und die aus Europa Deportierten „humaner“ zu behandeln. [34] Als diese Strategie der Flüchtlingsabwehr nach den Unruhen in Nordafrika nicht mehr funktionierte, wurden Europas Grenzen militärisch aufgerüstet.

Die Brutalität der Abschottung ist mit Freiheitswerten nicht vereinbar. Die Zahlen der Opfer sprechen für sich: 20.000 Menschen sollen seit 1998 beim Versuch, die Grenzen Europas zu überwinden, gestorben sein. Auch das Drama vor Lampedusa am 3. Oktober 2013, bei dem über 300 Personen ertranken, war das Ergebnis einer Politik, die kaum legale Möglichkeiten zur Einreise gewährt. Menschen dort festzuhalten, wo sie durch Zufall geboren wurden, erinnert an die feudalen Fesseln des Mittelalters, das persönliche Mobilität kaum ermöglichte. Das entspricht nicht unserem Selbstverständnis und auch deswegen sind wir für offene Grenzen. So wie wir den Fall der Berliner Mauer als Akt der Befreiung feierten, würden wir es begrüßen, wenn der schändliche Zaun um die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla endlich fiele. Die Einwanderungsfrage trifft uns im Kern, denn es geht darum, wie und in welcher Art von Gesellschaft wir leben möchten. Ist das eine, die das Prinzip der Freizügigkeit schätzt und sich den Herausforderungen stellt? Oder eine, die in der Abschottung die Lösung ihrer Probleme sieht?

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