17.03.2016
Die EU-Einwanderungspolitik ist blind
Kommentar von Kenan Malik
Der Deal mit der Türkei ist ein Beispiel für die fatale Migrationspolitik der Europäischen Union. Die agiert nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn.
Wie löst man eine Krise? Indem man sie weit genug wegschiebt, bis man so tun kann, als ob sie nicht mehr da wäre. Zumindest scheint das der Ansatz zu sein, den die Europäische Union verfolgt. Seit über einem Jahr nagt die Flüchtlingskrise am Herzen der EU. Sie verursacht tiefe Gräben zwischen den Mitgliedsstaaten und wirft Fragen über die Zukunft der Bewegungsfreiheit innerhalb der EU und über die Freiheit der Union selbst auf.
Das Führungspersonal der EU ist auf der verzweifelten Suche nach Lösungen. Nach monatelangen Verhandlungen wurde schließlich ein Deal mit der Türkei zusammengeschustert. Dessen Ziel ist es, das Problem weit genug von sich wegzuschieben, bis man sich vormachen kann, dass es nicht mehr existiert.
Dem Deal zufolge sollen alle zusätzlichen Migranten, die über die Türkei nach Griechenland gelangen, direkt zurückgeschickt werden. Eine „Eins-zu-Eins“-Übereinkunft erlaubt es für jeden syrischen Flüchtling, der aus Griechenland in die Türkei zurückkehrt, einen Syrer aus einem türkischen Flüchtlingslager in die EU zu verlegen. Für alle Nicht-Syrer ist diese Route nach Europa nun vollkommen gesperrt.
„Das Führungspersonal der EU ist auf der verzweifelten Suche nach Lösungen.“
Im Gegenzug versprach die EU, ihre Pläne zu beschleunigen, Türken eine visalose Bewegungsfreiheit innerhalb der Union zu ermöglichen und Ankara tatsächlich etwas von den versprochenen drei Milliarden Euro zu zahlen. Diese Summe wurde der Türkei im Oktober 2015 für die Schließung der Grenze zugesichert. Darüber hinaus hat die Türkei angeblich weitere drei Milliarden Euro gefordert. Eine Forderung, die noch verhandelt wird. Des Weiteren wurden konkrete Schritte bezüglich einer Beitrittsverhandlung der Türkei zur EU gefordert.
Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, beschrieb den Deal als „Durchbruch“ und als „historisch“. Tatsächlich ist er unmoralisch und nicht umsetzbar.
Die Europäische Union weist eine Bevölkerung von mehr als 500 Millionen Menschen sowie ein Bruttoinlandsprodukt von 30.000 US-Dollar pro Kopf auf. Die Türkei hingegen hat eine Population von 75 Millionen Menschen mit einem BIP von 10.500 US-Dollar pro Kopf. Wenn die Ankunft von einer Million Flüchtlinge auf europäischem Boden eine inakzeptable Zumutung und Grundlage einer ernsthaften Krise ist, so stellt sich die Frage, wie das Ausladen von einer Million Migranten in die Türkei weniger Zumutung und keine Krise darstellt? Der EU-Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, Dimitris Avramopoulos, beschrieb den Engpass von Flüchtlingen in Griechenland, der die Grenzschließung weiter nördlich zur Folge habe, als eine „potenzielle große humanitäre Katastrophe“. Warum sollte die Einpferchung von Migranten in der Türkei etwas anderes zur Folge haben als in Griechenland?
Ist der Türkei-Deal umsetzbar?
Lassen wir die moralischen Folgen beiseite und konzentrieren wir uns für einen Moment auf die tatsächliche Durchführbarkeit. Die Übereinkunft zwischen Türkei und EU sieht die massenhafte gewaltsame Ausweisung von Migranten aus Griechenland in die Türkei vor. Glaubt die Union tatsächlich, Zehntausende würden stillschweigend ihr Schicksal hinnehmen und einfach gehen? Wenn uns das letzte Jahr eine Sache gelehrt hat, dann, dass diese Menschen gewillt sind, enorme Risiken auf sich zu nehmen und große Schwierigkeiten zu ertragen. Ebenso hat sich gezeigt, dass sie sich den Autoritäten entgegenstellen, sollten sie zu lange herumgeschubst werden. Man denke nur an die Szenen in Ungarn letzten Sommer oder an die aktuellen Bilder der griechisch-mazedonischen Grenze. Sollte nur eine kleine Minderheit der gewaltsam Repatriierten Widerstand leisten, kann man sich leicht vorstellen, in welchem Chaos und in welcher Brutalität das münden würde.
Die Zahl von Flüchtlingen, die Europa erreicht, ist tatsächlich riesig. Aber es lohnt sich, diese Zahlen im Kontext zu betrachten. Eine Million Migranten stellt weniger als 0,2 Prozent der EU-Bevölkerung dar. Die Türkei hingegen, mit einer Bevölkerung von einem Siebtel der EU, unterhält bereits 2,7 Millionen syrischer Flüchtlinge. (Das sind die offiziellen Hochrechnungen. Die tatsächliche Zahl wird eher bei drei Millionen liegen). Im Libanon befinden sich schon 1,3 Millionen Flüchtlinge, was sich auf 20 Prozent der Bevölkerung beläuft. Das wäre so, als ob sich 100 Millionen Geflüchtete auf europäischem Boden aufhalten würden. In Pakistan und Iran befinden sich jeweils eine Million Flüchtlinge innerhalb der jeweiligen Staatsgrenze.
„Die EU ist gewillt, auf Migrantenrechte zu pfeifen und dabei zuzusehen, wie Erdogan auf der Freiheit der türkischen Bevölkerung herumtrampelt.“
Schon jetzt nehmen einige der ärmsten Länder der Welt die größte Bürde bei der Flüchtlingshilfe auf sich. Würden diese Länder die europäische Herangehensweise übernehmen, gäbe es eine ganz andere Krise. Das ist wohl wohl der unmoralischste Aspekt der EU-Flüchtlingspolitik: Der Umgang mit Einwanderern und Flüchtlingen soll vor allem eine Angelegenheit der ärmsten Nationen sein.
Somit ist der Türkei-Deal alles andere als historisch, folgt er doch nur den Kontinuitäten der EU-Einwanderungspolitik. Diese besteht seit den 1990er-Jahren aus einer Drei-Säulen-Strategie: Kriminalisierung von Migranten, Militarisierung der Grenzkontrollen und schließlich dem Outsourcen des Problems durch Zahlungen an nicht EU-Staaten, welche sich als Europas Immigrantenpolizei aufspielen sollen. Das wiederum bedeutet, dass Europa seine Grenzen weit hinter Europa verlegt. Das berüchtigtste Beispiel für diese Vorgehensweise wäre das vom lybischen Oberst Gaddafi. Das Motto: Das Problem einfach aus Europa herausdrängen und so tun, als sei es gar nicht da.
Viele Beobachter der Lage beklagen, die Türkei habe die EU um ein Lösegeld erpresst. Der Sache näher käme die Beschreibung, dass die EU sich in ihrer Verzweiflung, eine Migrationsvereinbarung abzuschließen, selbst erpresst hat.
Moral muss warten
Über die letzten Jahre hat sich die Türkei unter Erdogans AKP zu einem autoritären Regime entwickelt, das Kritiker zum Schweigen bringt, Journalisten wegsperrt und die freie Meinungsäußerung beschneidet. Mit der staatlichen Übernahme von Zaman, der größten Zeitung der Türkei, wurde effektiv das letzte bisschen Pressefreiheit eliminiert.
In der Vergangenheit, zu einem Zeitpunkt, als die Lage bei weitem nicht so schlimm war, hat die EU solche Menschenrechtsverstöße gerne genutzt, um einer Mitgliedschaft der Türkei entgegenzuwirken. Nun „erfordert“ die politische Zweckmäßigkeit jedoch bei selbst den ernsthaftesten Entwicklungen, mehr als ein Auge zuzudrücken. Die EU versucht so verzweifelt, irgendeinen Deal zur Bewältigung der Flüchtlingskrise einzugehen, dass sie gewillt ist, auf Migrantenrechte zu pfeifen und dabei zuzusehen, wie Erdogan auf der Freiheit der türkischen Bevölkerung herumtrampelt. Der Deal entlarvt das Gerede von den Werten der Europäischen Union, Demokratie und Freiheit, als heiße Luft.
Das einzige Land, das in diesem Debakel noch etwas Würde behält, ist Griechenland. Obwohl Griechenland von der EU praktisch aufgegeben worden ist, als Mazedonien und andere nördliche Länder die Balkanroute geschlossen haben, und trotz der ökonomischen Krise und der von der EU auferlegten Sparpolitik haben die Menschen Griechenlands eine bewundernswerte moralische Hingabe gegenüber den Flüchtlingen gezeigt. Es ist wahr, dass es auch ein paar Demonstrationen von rechtsextremen Gruppierungen gegeben hat und die rechtsradikale Goldene Morgenröte letztes Jahr bei den nationalen Wahlen auf ein Ergebnis von sieben Prozent kommen konnte. Aber überwiegend haben die Griechen eine enorme Solidarität bewiesen.
„Das einzige Land, das in diesem Debakel noch etwas Würde behält, ist Griechenland.“
Nachdem die mazedonische Regierung beschlossen hat, Tag für Tag nur noch eine Handvoll Menschen passieren zu lassen, sind über 14.000 Menschen in Idomeni auf der griechischen Seite der Grenze gefangen. „Ich hege große Bewunderung für diese Menschen, denn Sie haben immer noch Hoffnung“, sagte Idomenis Bürgermeister Evelina Politidou mit dem Hinweis, die Hilfe für die Flüchtlinge sei eine „moralische Verpflichtung“.
Im Zentrum der Krise, nahe der türkischen Küste, liegt die griechische Insel Lesbos. Die Zahl der Migranten, die dort innerhalb der ersten zwei Monate des Jahres 2016 angekommen sind, ist schon größer als die Bevölkerung von Lesbos selbst. Dennoch fahren die Bewohner damit fort, den Flüchtlingen Essen und eine Herberge zu bieten.
Während alldem hat es die EU geschafft, gerade einmal 325 Geflüchteten Unterkunft zu bieten (trotz der Zusage, 66.400 Menschen unterzubringen). „Es ist unglaublich, dass eine kleine Insel das schafft, was das große Europa mit einer halben Milliarde Menschen so schwierig findet“, sagte António Guterres, Vorsitzender des UNO-Hilfswerkes.
Es ist eine Lektion über Moral und Solidarität, von der sich alle Europäer eine Scheibe abschneiden könnten.