23.09.2015

Flüchtlingsdebatte: Die Krise als Chance

Kommentar von Kai Rogusch

In der Debatte über die „Verkraftbarkeit“ der Flüchtlingsströme drohen die Bedenkenträger die Überhand zu gewinnen. Dabei besteht auch Anlass zum Optimismus. Die Flüchtlingskrise könnte die Weichen für eine bessere Zukunft in Europa stellen, findet Kai Rogusch

Die Verwirrung in der Flüchtlingsfrage ist komplett: Innerhalb weniger Tage werden Medienberichte über ein marodierendes „Dunkeldeutschland“ von einer Welle der Hilfsbereitschaft abgelöst, die von breiten Bevölkerungsschichten ausgeht. Kurz nach der Öffnung der Grenzen für die vor allem syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge aber auch anderweitige Immigranten führte Deutschland Grenzkontrollen ein, nur um kurz danach in Person von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Grenzöffnung umso energischer zu verteidigen: „Wir können das schaffen, und wir schaffen das.“

Derweil erweisen sich die Institutionen der Europäischen Union als unfähig, sich auch nur auf klägliche Kontingente für die Verteilung von Flüchtlingen zu verständigen. Wir befinden uns in einer kritischen Periode, in der die Widersprüche des EU-Projektes genauso zutage treten wie die Ratlosigkeit der Eliten mit Händen zu greifen ist. Es besteht die reale Gefahr, dass die Zwietracht unter den Völkern Europas noch mehr wächst. Gleichzeitig bietet die sogenannte Flüchtlingskrise aber auch die einmalige Chance zur Erneuerung unseres Kontinents unter humanistischen Vorzeichen. Wie man es dreht und wendet: Jetzt müssen die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Wie gehen wir mit Flüchtlingen und Einwanderern um, die nach einem menschenwürdigen Leben und Zukunftschancen bei uns suchen? Wie werden sie unsere Gesellschaft verändern? Im Folgenden soll gefragt werden, was wir tun könnten, damit sich die Dinge zum Positiven entwickeln.

Entwicklungspotenziale entfalten

In dieser Krise sind die oft defätistisch anmutenden Zweifel über die „Verkraftbarkeit“ der Einwandererströme eine ständige Begleitmusik. Nicht zuletzt drückt sich hier eine tief empfundene Sinnkrise der europäischen Idee aus. Viele Menschen glauben einfach nicht mehr daran, dass Europa in der Lage ist, die Herausforderung der Flüchtlingsströme zu stemmen. Der Kontinent präsentiert sich zerstritten, politisch ermattet und ohne nennenswerte wirtschaftliche Dynamik. Dass die Flüchtlingskrise auch eine Chance ist, die zementierten Strukturen, die uns lähmen, aufzubrechen, wird selbst von denjenigen, die die Flüchtlinge aus humanitären Gründen freundlich willkommen heißen, kaum ausgesprochen.

„Die Flüchtlingskrise ist auch eine Chance, zementierte Strukturen aufzubrechen“

Allerorten dominiert die Bedenkenträgerei. Dabei könnte man die aktuellen Entwicklungen auch als Katalysator einer Neuausrichtung der nationalen und europäischen Politik unter optimistischeren, menschenfreundlicheren politischen Vorzeichen begreifen. So erfordert die Krise einen Bruch mit den ebenso undemokratischen wie ineffektiven Prozeduren des so genannten europäischen „Einigungsprozesses“, der sich angesichts des würdelosen Geschachers um kleinliche Flüchtlingsquoten als vollends untauglich erwiesen hat, den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden. Vielmehr wird es darum gehen, dass sich diejenigen europäischen Nationen, denen Freiheit und Humanität etwas bedeuten, auf ihre Eigenverantwortung und ihre sie tragenden Gründungsprinzipien zurückbesinnen, um sich im Konzert mit gleichgesinnten Akteuren einen konstruktiven Weg aus der verfahrenen Lage zu bahnen.

Denn vor allem auch hier in Deutschland schlummern nach wie vor gewaltige Potenziale. Erstens: Zumindest ab der oberen Mittelschicht aufwärts besitzt unser Land beträchtliche materielle, aber auch geistige Ressourcen, die sinnvoll zur Meisterung der neuen Herausforderungen eingesetzt werden können. Zweitens: Die enorme Hilfsbereitschaft breiter Bevölkerungsschichten zeigt, dass bei sehr vielen Menschen deutlich erkennbar der Wunsch vorhanden ist, gemeinsam für eine bessere Zukunft für alle Menschen einzustehen. Zwar wird dies in leider nicht unerheblichen Teilen von Politik, Medien und Bürgertum als weltfremdes „Gutmenschengehabe“ abgetan. Doch immer mehr Leute erkennen, dass die Fortführung der EU-Politik des Abschottens und Schwarzer-Peter-Weiterreichens nicht nur für die Flüchtlinge eine humanitäre Katastrophe bedeutet, sondern auch zwischen den europäischen Völkern immer mehr Zwietracht gebiert. Aus dieser Erkenntnis könnte ein neuer Geist der Offenheit in Europa erwachsen.

Drittens: Die aktuellen Herausforderungen sind keineswegs nur ein problembehafteter Kostenfaktor. Sie erfordern Mut, Kreativität und pragmatisches Handeln, was wiederum neue wirtschaftliche Dynamik freisetzen kann. Mit Dienst nach Vorschrift ist es nicht getan. So wird die Krise zu einer Chance, bürokratische Verhärtungen und Überregulierung etwa im Wohnungsbau oder beim Zugang in die Arbeitswelt abzubauen. Schon jetzt ist klar, dass der dringend notwendige Wohnraum mit den absurden Standards, die das deutsche Baurecht an Neubauten stellt, nicht geschaffen werden kann. Und die fragwürdige Akademisierung und Formalisierung von immer mehr Berufsfeldern, die früher vor allem mit Erfahrung, gesundem Menschenverstand und Herzblut gemeistert wurden, stellt ein Hindernis für die Integration von Ausländern dar, deren formale Bildung aus unserem verengten Blickwinkel oft zu wünschen übrig lässt.

Neue Dynamik für den alten Kontinent

Auch sollte man nicht den Fehler begehen, die Solidaritätsbekundungen in Deutschland gegenüber Flüchtlingen als oberflächliche Stimmungen abzutun, die bald wieder vergehen werden, wie z.B. der wenig substanzvolle Hype um die Meinungsfreiheit im Zusammenhang mit Charlie Hebdo-Attentaten Anfang des Jahres, als plötzlich alle Charlie sein wollten, solange es um Meinungen ging, die sie selbst sympathisch fanden. Viele Menschen spüren, dass es gerade im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise um zentrale Fragen unserer Humanität geht – und dass eine Politik des Delegierens von Verantwortung und des puren Abschottens zu nichts führt.

Gleichzeitig stören sich auch viele Leute an der chronischen Unfähigkeit unserer Gesellschaft, ihre enormen technischen und wissenschaftlichen Entwicklungspotenziale im Sinne eines besseren Lebens für uns alle zu erschließen. Gelingt es, diese beiden Impulse, die sich zugebenermaßen oft in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus ausdrücken, zu vereinen, bietet die Flüchtlingskrise tatsächlich die Chance für einen neuen Aufbruch zu progressiverer Politik in Deutschland und Europa.

„Deutschland hat seit Jahrzehnten einen Rückgang an Wirtschafts- und Produktivitätswachstum zu verzeichnen“

Es wird nämlich früher oder später deutlich werden, dass gerade das von so vielen Flüchtlingen wegen seiner stabilen Verhältnisse als „gelobtes Land“ idealisierte Deutschland sich in seiner Selbstwahrnehmung, so etwas wie ein Zenit der Menschheitsentwicklung zu sein, ein wenig zu bequem eingerichtet hat. Tatsächlich verwaltet unser Land einen Mangel an wirtschaftlicher Dynamik, der schon längst in globalen innerelitären Diskussionen als „säkulare Stagnation“ diskutiert wird. Deutschland hat zwar einen hohen Entwicklungsstand erreicht, doch es hat seit Jahrzehnten einen Rückgang an Wirtschafts- und Produktivitätswachstum zu verzeichnen. Die Infrastruktur rottet langsam vor sich hin, und bedeutende technologische Innovationen ereignen sich immer öfter ohne uns.

Unsere Gesellschaft, aber eigentlich der gesamte „alte Kontinent“ hat mittlerweile einen Unwillen kultiviert, nach vorne zu neuen Ufern streben – konkret: mehr Wachstum, Reichtum und wissenschaftliche Erkenntnis zu schaffen. Gerade deshalb können wir von der Dynamik der Einwanderungsprozesse und dem Mut sowie der Tatkraft derjenigen, die zu uns kommen, profitieren. Allerdings sind nur freundliche Willkommensgesten nicht genug. Sollte uns selbst kein Mentalitätswandel gelingen und schaffen wir es nicht, langfristige Zukunftsperspektiven für die Ankommenden zu entwickeln, werden wir mit großen Integrationsproblemen zu rechnen haben.

Als Vorbild für das, was wir in den nächsten Jahren leisten müssen, könnte sich nicht zuletzt ein Blick in die Anfangsjahre der Bundesrepublik als hilfreich erweisen. Hier zeigt sich nämlich, dass die Integration der „Heimatvertrieben“ unter ökonomisch und auch politisch weitaus unsicheren Lebensverhältnissen vonstatten ging als heute. Damals wurden etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung neu in der westdeutschen Republik aufgenommen, die von der einheimischen Bevölkerung oft kaum weniger als „kulturell fremd“ angesehen wurden als die oftmals muslimischen Einwanderer heute; lediglich die Sprachbarriere war nicht gegeben, wie man der Vollständigkeit halber anmerken muss.

„Umgerechnet auf heutige Verhältnisse entspricht die Integration der ‚Heimatvertriebenen‘ einem Zuzug von etwa 16 Millionen Menschen“

Umgerechnet auf heutige Verhältnisse entspricht dies einem Zuzug von etwa 16 Millionen Menschen. Möglich wurde dieser aus heutiger Sicht erstaunliche Prozess vor dem Hintergrund einer ökonomischen Entwicklungsdynamik, die auch von einem zupackenden und optimistischen Zeitgeist angetrieben wurde, der davon ausging, die in jedem Menschen schlummernden Kräfte im Sinne des gemeinsamen Aufbauprojekts aktivieren zu können. Warum sollte man angesichts der heutigen Herausforderungen die damaligen Erfahrungen nicht als Ansporn für eine neue Gründungsphase sowohl für unser Land als auch Europa begreifen?

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