25.08.2016
„Multikulturalismus untergräbt das Gute an der Vielfalt“
Interview mit Kenan Malik
Durch Herumreiten auf Gruppenidentitäten und Einschränkungen der Meinungsfreiheit bedroht die Politik des Multikulturalismus das Funktionieren vielfältiger Gesellschaften.
Marco Visscher: In den 1980er-Jahren haben Sie sich im Kampf gegen Rassismus engagiert. Wie müssen wir uns das vorstellen?
Kenan Malik: Ich bin in einem ganz anderen Großbritannien aufgewachsen. Rassismus war tief in der Gesellschaft verwurzelt. Natürlich ist er nicht ganz verschwunden, aber der bösartige, offene Rassismus, der noch vor einer Generation für Großbritannien typisch war, der ist zum Glück ziemlich selten geworden. Ich habe das noch in lebhafter Erinnerung, wie ich als Acht- oder Neunjähriger in den Bus stieg und die Frau, die neben mir saß, demonstrativ aufstand und sich anderswo hinsetzte – und zwar nicht, weil ich ein rotznäsiger Schuljunge war. Diese Art von offenem Rassismus war allgegenwärtig. Rassistische Angriffe, Messerattacken, Brandanschläge – das gab es jede Woche.
In den 1980er-Jahren habe ich Straßenpatrouillen in Ostlondon organisiert, um asiatische Familien vor rassistischen Banden, die Fenster zertrümmerten und Brandbomben warfen, zu beschützen. Wir streiften durch die Umgebung, um mit den Leuten zu reden, Unterstützung anzubieten und Straftäter zur identifizieren. Wir blieben oft in den Häusern der Familien, auf die es die Rassisten abgesehen hatten, und harrten der Angriffe.
Und was haben Sie im Falle eines solchen Angriffs getan?
Wir sind ihnen entgegen getreten und haben sie verjagt.
Mit Messern oder Schusswaffen?
Nein, das war kein Hollywoodfilm. Aber es kam regelmäßig zu Auseinandersetzungen.
„Dem Multikulturalismus zufolge entscheidet die Herkunft darüber, wie der Staat jemanden zu behandeln hat.“
Warum haben Sie damit aufgehört? Der Rassismus ist doch nicht verschwunden, oder?
Ich habe nie „aufgehört“. Aber mein Interessensspektrum ist viel breiter geworden. Die Erfahrungen mit Rassismus und dem Kampf dagegen führten mich zur Politik. Politik hat mir erlaubt, mich über die Grenze des Antirassismus hinauszubewegen, jenseits dessen, was mittlerweile Identitätspolitik heißt, und mir eine größere Welt der Ideen und Konzepte eröffnet. Ich begann zu verstehen, dass Ungerechtigkeit nicht einfach etwas war, das mir persönlich angetan wurde. Politik erweiterte meinen Horizont für Begriffe wie die menschliche Gemeinschaft und allgemeine Rechte. Doch viele Linke bewegten sich immer mehr in die entgegengesetzte Richtung. Sie betrachteten universelle Werte als veraltet und gefährlich naiv. Peu à peu verabschiedeten sie sich von einer universalistischen Perspektive und hießen stattdessen die Identitätspolitik und die Politik des Multikulturalismus mit offenen Armen willkommen.
Warum betrachten Sie den Multikulturalismus als Problem?
Zunächst einmal müssen wir zwischen der gelebten Vielfalt einerseits und dem Multikulturalismus als politischem Prozess andererseits unterscheiden. In einer weniger isolierten, dafür aber dynamischeren und kosmopolitischeren Gesellschaft zu leben, ist positiv. Der Multikulturalismus als politischer Prozess hingegen steht für etwas ganz anderes. Er bedeutet, dass Menschen in bestimmte ethnische und kulturelle Schubladen gesteckt werden, ihre individuellen Rechte nach diesen Schubladen definiert werden und auch die Politik sich an ihnen orientiert statt an den Bedürfnissen der Menschen.
Dem Multikulturalismus zufolge entscheidet die Herkunft darüber, wie der Staat jemanden zu behandeln hat. Dementsprechend werden Angehörige einer Minderheit als solche zusammengefasst und behandelt, als wären sie eine homogene Gruppe. Der Gleichheitsgedanke, dass jeder ungeachtet rassischer und kultureller Unterschiede gleich behandelt werden soll, wird durch die Vorstellung ersetzt, die Menschen gerade deshalb unterschiedlich zu behandeln seien.
„Aus einer angeblich ‚linken‘ Perspektive hat man als Moslem reaktionär zu sein.“
Die Unterschiede innerhalb der Minderheiten werden ignoriert. Wir tendieren dazu, progressive Stimmen innerhalb der Minderheitsgemeinschaften beiseite zu schieben und uns auf die Reaktionären zu fokussieren, als ob sie die authentischen Vorstellungen ihrer Gemeinschaft verkörperten. Der dänische Parlamentsabgeordnete und Moslem Naser Khader erzählte mal von einer Unterredung mit einem linken Journalisten kurz nach der Kontroverse um die Mohammed-Karikaturen vor über zehn Jahren. Der Journalist behauptete, dass „die Karikaturen alle Moslems beleidigen“. Als Khader antwortete: „Ich bin nicht beleidigt“, erklärte ihm der Journalist, dann sei er eben „kein richtiger Moslem“. Aus dieser angeblich „linken“ Perspektive hat man als Moslem reaktionär zu sein.
Wir haben zudem nur eine eingeschränkte Vorstellung von Vielfalt. Wir verwenden den Begriff vor allem in den Bereichen Kultur, Religion und Ethnie; viele andere Formen der Vielfalt – Klasse z.B., Geschlecht oder Alter – werden oft übersehen.
Aber waren europäische Gesellschaften nicht homogen, bevor die Einwanderung einsetzte?
Eine solche Vorstellung von europäischen Gesellschaften haben wir, weil wir unter einer historischen Amnesie leiden. Mögliche Konflikte mit Moslems bereiten uns Sorge und wir befürchten, dass ihre Werte unvereinbar mit westlichen Werten sind. Aber vor nicht einmal hundert Jahren machte man sich dieselben Sorgen wegen der Katholiken, vor allem in Nordeuropa. Bis ins späte 19. Jahrhundert galt zum Beispiel in Großbritannien eine ganze Reihe von Gesetzen, die Katholiken diskriminierten, weil man glaubte, dass sie sich nicht in eine demokratische Gesellschaft integrieren könnten. Eine ähnliche Stimmung trat nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA auf, als man sich mit der Einwanderung aus Südeuropa konfrontiert sah. Und natürlich stellten nach weitverbreiteter Ansicht die Juden eine derart tödliche Gefahr für die europäische Identität, Werte und Lebensweise dar, dass sie zu Opfern des weltgrößten Genozids wurden.
„Wer Vielfalt befürwortet, muss auch die Freiheit der Meinungsäußerung verteidigen.“
Europa wurde nicht nur von religiösen und kulturellen, sondern auch von politischen Konflikten zerrissen. Vom englischen Bürgerkrieg bis zum spanischen Bürgerkrieg, vom deutschen Bauernkrieg bis zur Pariser Kommune waren die europäischen Gesellschaften tief gespalten. Nicht einmal die heutige Vorstellung, dass Europa rassisch und ethnisch homogen war, entsprach der Sicht der damaligen Menschen. Im 19. Jahrhundert und sogar bis weit ins 20. hinein wurden zum Beispiel die Arbeiterklasse und die arme Landbevölkerung von vielen als andere Rasse betrachtet. Daher trifft die Vorstellung, das Europa bis zur Masseneinwanderung einmal homogen war, nicht zu.
Wie sollten wir mit all den verschiedenen Kulturen in unserer Gesellschaft umgehen?
Wir sollten Vielfalt wertschätzen. Vielfalt ist wichtig, nicht als Selbstzweck, sondern weil sie uns erlaubt, unseren Horizont zu erweitern, unterschiedliche Werte, Glaubenvorstellungen und Lebensweisen gegenüberzustellen und zu vergleichen, sie zu beurteilen und zu entscheiden, welche besser und welche schlechter sein könnten.
Aber führt das nicht zu Spannungen und Konflikten?
Ideologische und kulturelle Konflikte können nützlich sein. Sie ermöglichen uns den politischen Dialog und die Debatte – was paradoxerweise genau dazu beitragen kann, eine universellere Form der Bürgerschaft zu finden. Wenn aber Multikulturalismus die Vielfalt verwaltet, kann das zu Problemen führen. Wo man niemand anderen kränken oder gar seine tiefverwurzelten Überzeugungen kritisieren darf, schiebt man im Namen der Toleranz oder des Respekts sozialem Engagement einen Riegel vor. So untergräbt Multikulturalismus gerade das Gute an der Vielfalt. Wer Vielfalt befürwortet, muss auch die Freiheit der Meinungsäußerung verteidigen und soweit wie möglich noch vergrößern.
Video: Vortrag von Kenan Malik auf Secular Conference London, Oktober 2014
Man hört oft, dass in einer pluralistischen Gesellschaft rassistische und beleidigende Kommentare zensiert gehören. Wie sehen Sie das?
Ich glaube, dass wir gerade in einer pluralistischen Gesellschaft die größtmögliche Meinungsfreiheit brauchen. In einer pluralistischen Gesellschaft führt kein Weg daran vorbei, dass man andere beleidigen darf. Die Grenze der Redefreiheit liegt für mich da, wo direkt zur Gewalt aufgerufen wird.
Warum halten Sie es für nützlich, Anstoß zu erregen?
Jede Art gesellschaftlichen Wandels oder sozialen Fortschritts bringt es mit sich, dass tief empfundene Gefühle verletzt werden. Die Wichtigkeit der Meinungsfreiheit liegt darin, dass man die Vorstellung, dass bestimmte Dinge nicht in Frage gestellt werden dürfen, angreifen kann – und somit auch die Autoritäten. Wenn wir erst einmal das Recht, Anstößiges zu äußern, im Namen der „Toleranz“ oder des „Respekts“ aufgeben, dann beschneiden wir unsere Möglichkeit, den Mächtigen und damit auch der Ungerechtigkeit entgegenzutreten. Daher trifft es die Minderheiten am härtesten, wenn die Redefreiheit eingeschränkt wird.
Warum das?
Weil der Ansatz, dass bestimmte Dinge nicht gesagt werden dürfen, die Mächtigen davor schützt, dass ihre Machtposition in Frage gestellt wird. Wenn man findet, dass bestimmte Dinge nicht geäußert werden dürfen, dann findet man, dass bestimmte Formen der Macht nicht in Frage gestellt werden dürfen. Wenn wir die Redefreiheit einschränken, um vorgeblich gefährdete Gruppen zu schützen, dann schränken wir in Wahrheit die Möglichkeit dieser Gruppen ein, die Mächtigen und ihre Ideen in Frage zu stellen.