29.07.2016

Merkel bei Immigration unter Druck

Kommentar von Sabine Beppler-Spahl

Die Bundeskanzlerin hat sich gestern zu den Attentaten der vergangenen Wochen geäußert. Sie steht jetzt im Kreuzfeuer unangemessener Kritik, weil sie eine Debatte um „Wir schaffen das“ gescheut hat.

Die wahre Macht: Schweigen können“, titelt die Wirtschaftswoche vom 25. Juli. Es ist einer der wenigen lobenden Beiträge über die Kanzlerin nach der sogenannten Horrorwoche in Bayern und Baden-Württemberg. Sie steht unter Druck, nicht nur wegen ihres langen Schweigens im Zuge der Ereignisse, sondern auch wegen ihrer Einwanderungspolitik vom vergangenen Herbst. Die Wirtschaftswoche hat Recht, dass kühles Regieren wichtiger ist als hitzige Empathie. Ist der Kanzlerin nicht hoch anzurechnen, dass sie kein Kapital aus dem Leid anderer schlagen will?

Es ist bezeichnend, dass die kühle Zurückhaltung, die ihr bisher als Sachlichkeit zugutegehalten wurde, ihr nun zum Nachteil zu gereichen scheint. Die Form dieser Kritik an Merkel ist fehlgeleitet, irreführend und potentiell sogar gefährlich. Nicht nur die üblichen Verdächtigen der AfD, sondern auch linke Politiker wie Sahra Wagenknecht üben sich im neuen Merkel-Bashing, und bezeichnen das „Wir schaffen das" der Kanzlerin als leichtfertig. ‚Rechtere‘ Kreise stimmen wieder den Ruf „Merkel muss weg!“ an.

Doch eine Frage: Wieso sollte die Kanzlerin für die vier sinnlosen, fürchterlichen Mordanschläge, die alle von klinisch Verrückten durchgeführt wurden, verantwortlich sein? Die schlimmste Attacke, was die Zahl der Opfer angeht, war der Amoklauf in München. Dann gab es noch die Messerattacken in Würzburg und Reutlingen sowie den Selbstmordanschlag in Ansbach. Von diesen vier Taten wiesen zwei einen islamistischem Hintergrund auf. Obwohl der Immigrationshintergrund aller vier Täter von manchen gerne hervorgehoben wird, war der Münchner Angreifer ein bayerischer Schüler, der zwar aus einer iranischen Familie stammt, jedoch hier aufgewachsen war. Seine Tat begründete er in akzentfreiem Deutsch damit, dass er Deutscher und Mobbingopfer sei. Verbindend war somit eher die psychische Krankheit der Täter als ihre Herkunft.

„Die Attentate waren Auswüchse individueller Geisteskrankheiten“

Auch wenn zwei der Täter sich zu ISIS bekannt haben, wäre es eine gefährliche Überreaktion, ihren Taten nun eine größere Bedeutung zuzusprechen, als ihnen zustehen sollte. Das aber passiert, indem behauptet wird (z.B. seitens des bayerischen Justizministers Winfried Bausback), der Dschihad habe nun Deutschland erreicht. Das klingt, als handele es sich bei den Anschlägen um einen neuen Massenterrorismus. Wäre es nicht sachlicher und richtiger, sie als das zu behandeln, was sie sind, nämlich Auswüchse individueller Geisteskrankheiten?

Natürlich muss der Vorfall von Ansbach noch untersucht werden. Offenbar hat man Glück gehabt, dass das Attentat nicht schlimmer ausgegangen ist. Doch auch hier scheint es sich vor allem um einen verwirrten – wenngleich gefährlichen – Einzeltäter zu handeln. Statt eine neue Form des Terrorismus, die bisher fremde Elemente nach Deutschland bringt, haben wir in der letzten Woche ein wohlbekanntes, trauriges Muster erlebt. Die beiden schlimmsten Attacken (in München und Ansbach) wurden von deprimierten und isolierten Einzeltätern begangen, die ihrem nihilistischen Todesdrang eine größere Bedeutung verleihen wollten, indem sie sich zu einem vermeintlich höheren Ziel bekannten. Beide Täter waren als psychisch krank bekannt und hatten bereits Selbstmordversuche hinter sich. Ihre letzte Tat wollten sie opportunistisch aufwerten: Der eine Täter gab an, sich ISIS zugehörig zu fühlen, der andere dem norwegischen Massenmörder Anders Breivik. Schon der Umstand, dass er den fünften Jahrestag des Utoya-Anschlags für seinen Amoklauf gewählt hatte, zeigt dessen narzisstischen Charakter.

Wenn wir diese vermeintlichen Motive aufgreifen, laufen wir Gefahr, die Terroristen aufzuwerten. Indirekt und ohne es zu wollen, betreiben wir deren schmutziges Geschäft, Schrecken und Hass zu verbreiten und ihnen schnellen (wenn auch negativen) Ruhm zu verschaffen.

Video: Ausschnitt aus dem Auftritt der Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Bundespressekonferenz, 28.07.2016.

Genauso falsch sind daher auch die Angriffe auf Angela Merkel. Die Kanzlerin trägt keine Verantwortung für die Straftaten anderer. Allerdings dient sie wegen ihres Umgang mit der Flüchtlingskrise öfter als Zielscheibe für solche Angriffe. Nicht zum ersten Mal kommt Kritik an ihr wegen der hohen Migration im vergangenen Jahr auf. Dass ihr Diktum „Wir schaffen das" heute im Rückblick so unglaublich wirkt ist, liegt auch darin begründet, dass sie selber nicht mehr daran zu glauben scheint. Hat sie in den letzten Monaten doch alles daran gesetzt, die Zahl der Einwanderer zu reduzieren. Gerade in jüngster Zeit hat die Regierung eine ganze Masse von neuen Einwanderungsvorschriften verabschiedet.

Vor allem aber macht die Krise die Grenzen des Merkelschen Politikstils deutlich. So agiert die Kanzlerin zwar extrem pragmatisch und als hervorragende taktische Managerin, zeigt sich aber schwach, wenn es um die politische Debatte geht. Ihre Politik zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie öffentliche Auseinandersetzungen meidet. Die Immigrationspolitik ist für sie vor allem deshalb zu einer solchen Katastrophe geworden, weil hier das Prinzip des Aussitzens nicht genügt. Zwar konnte sie sich stets auf die Unterstützung großer Teile der Gesellschaft verlassen, die ihre zeitweilige Pro-Immigrations-Rhetorik begrüßt haben. Doch es gibt eben auch einen großen Teil, der von Anfang an skeptisch war.

Indem sie diesem Teil der Bevölkerung weitgehend aus dem Weg gegangen ist (zumindest der offenen Debatte und Auseinandersetzung mit ihm), vergrößerte sie dessen Ärger und dessen Gefühl des Außenvorseins. Weil die harte Debatte über die Flüchtlingskrise auf möglichst niedriger Flamme gehalten werden sollte, konnte ein Vakuum entstehen, das nun von den eher Rechten gefüllt wird. Deswegen fällt es AfD-Politikern wie André Poggenburg oder Alexander Gauland so leicht, Kapital aus der Terrorserie zu schlagen, indem sie eine Beziehung zwischen den Anschlägen und der Immigration herstellen. Dass andere Politiker diese Verbindung auch legen, um sich an die AfD anzupassen, ist umso besorgniserregender. Wer will es da jemandem übelnehmen, wenn er sagt, dass er keine Migration mehr möchte, weil er diese Art von Gewalt (aus verständlichen Gründen) ablehnt?

„Politik heißt, um Mehrheiten zu kämpfen und nicht, das Wahlvolk zu umgehen“

Niemand möchte eine emotionale Kanzlerin. Deshalb hat die Wirtschaftswoche nicht ganz Unrecht. Doch die harten, polarisierenden Debatten, die mit der Einwanderung einhergehen, müssen geführt werden. So war es ein Fehler, nicht darauf hinzuweisen, dass mit den vielen Flüchtlingen auch solche kommen würden, die nicht leicht zu integrieren sind sowie auch einige, die psychische Störungen aufweisen.

Diesem Fehler sind jedoch auch viele Pro-Immigrations-Gruppen gerne verfallen. Auch sie haben oft genug versucht, die Herausforderungen klein zu reden, aus Angst, rechtem Gedankengut Vorschub zu leisten. Das wiederum zeigt, wie weit auch sie sich von der Politik entfernt haben. Politik heißt, um Mehrheiten zu kämpfen und nicht, das Wahlvolk zu umgehen.
Angela Merkel hat oft versucht, Debatten zu vermeiden und die Wähler vor eine Art Sachzwang zu stellen. Das Diktum „Wir schaffen das" kann aber nur gelten, wenn eine solide Mehrheit die Einwanderungspolitik mitträgt. Nur dann ist die gesellschaftliche Stimmung robust genug, um mit Vorfällen wie in der letzten Woche umzugehen. Ohne eine offene Debatte wird das nicht gelingen. Aber genau darauf kommt es schließlich in der Politik an.

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