01.07.2016

Der moderne Terrorist als Einzelkämpfer

Analyse von Frank Furedi

Titelbild

Foto: Ethan (CC BY 2.0 / bearbeitet)

Einzel-Terroristen wie dem Orlando-Attentäter bietet die zeitgenössische Identitätspolitik Anlässe und Vorwände für gewalttätige, persönlich motivierte Verbrechen.

Terroranschläge werfen zwangsläufig die Frage nach dem „Warum“ auf. Wir tun uns oftmals schwer damit, solchen Anschlägen einen Sinn beizumessen. So wirft Omar Mateens Attentat in einem homosexuellen Club in Orlando vor wenigen Wochen immer noch mehr Fragen als Antworten auf. Wo der Sinn fehlt, ist man leider schnell geneigt, einen terroristischen Akt entsprechend den eigenen Vorstellungen und Vorurteilen zu erklären. Eine solche Sinnsuche artet dann schnell in übles Gezänk aus.

Terroristische Gewalttaten zu verstehen, gelingt uns im 21. Jahrhundert immer weniger. Gruppen, die ohne jede Hemmung willkürliche Attentate im großen Stil auf Kneipen, Clubs, Restaurants, Schulen und andere öffentliche Einrichtungen begehen, rücken den Terror bedrohlich nahe. Die Taten einheimischer Terroristen zeigen, dass die gegenwärtige Bedrohung nicht von außen, sondern aus dem Inneren unserer Gesellschaft stammt. Und das Bild des einheimischen Terroristen nimmt jetzt eine relativ neue Form an, nämlich die des „Einzelkämpfers“.

Als Einzelkämpfer bezeichnet man Individuen wie Mateen, die sich keiner bestimmten organisierten Gruppierung unterordnen. Ein Einzelkämpfer organisiert seine Gewalttaten auf eigene Faust, unabhängig von Befehlsstrukturen oder organisierten Netzwerken. Möglich ist zudem, dass der Einzeltäter vorab in keinerlei Kontakt zu der terroristischen Organisation stand, in deren Namen er das Attentat ausführte. Das Phänomen des Einzelkämpfers hat eine lange Geschichte. Einige der berühmtesten politischen Morde, darunter auch die Erschießung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy im Jahre 1963, sind nicht Gruppen, sondern einzelnen Individuen zuzuordnen.

„Abneigung gegenüber Homosexuellen führt nicht zwangsläufig zu einem Attentat auf einen schwulen Club“

Die Beweggründe eines solchen Einzelkämpfer-Terroristen nachzuvollziehen, bereitet erhebliche Probleme. Man kann oft nicht sicher sein, ob es sich bei dem jeweiligen Attentäter nicht einfach um einen bewaffneten Killer handelt, der politische Rhetorik nur zur Rechtfertigung seiner höchstpersönlichen Motive nutzt. Oft versucht man, die Beweggründe eines Attentäters dieser Art im Nachhinein zu ergründen. Man recherchiert in der Vergangenheit des Täters, spricht mit Familienangehörigen, Schulfreunden und Arbeitskollegen. Bestenfalls gelingt es, seine Biographie zu rekonstruieren oder sogar Hinweise zu finden, was bei ihm schiefgelaufen war. Aber das erfolgt alles in der Rückschau.

Im Fall von Mateen kam ans Tageslicht, dass er seine Exfrau misshandelt hatte, bereits mehrfach vom FBI vernommen wurde und eine Vielzahl an Waffen besaß. Von seinem Vater war zu erfahren, dass er mal wütend auf ein sich vor den Augen seines Sohnes küssendes schwules Paar reagierte. Mittlerweile legen verschiedene Aussagen nahe, dass er mit seiner eigenen Sexualität zu kämpfen gehabt soll, möglicherweise selbst heimlich schwul gewesen sein könnte. Auch wenn all diese Informationen die Persönlichkeit des Attentäters etwas erhellen, vermögen sie nicht zu erklären, warum sich Mateen inmitten seines mörderischen Aktes in einem Telefonat zum Islamischen Staat bekannte.

Eine schlichte Ursache-Wirkungs-Annahme erklärt nur selten die spezifischen Handlungen eines Individuums: Zorn mündet nicht von selbst in eine Gräueltat, die Misshandlung der Ehefrau keineswegs automatisch in einen Massenmord. Und so führt auch die Abneigung gegenüber Homosexuellen – entgegen aller Behauptungen im Stile von „Wehret den Anfängen“ – nicht zwangsläufig zu einem Attentat auf einen schwulen Club.

„Einzelne benutzen den radikalen Dschihadismus, um ihren persönlichen Taten eine allgemeinere Bedeutung zu verleihen“

Es bleibt sogar ungeklärt, was Mateens Loyalitätsbekundung zum IS genau zu bedeuten hat. Wir können nur mit Bestimmtheit sagen, dass er ein fertiges und weithin bekanntes Konzept des radikalen Dschihadismus aufgegriffen hat. Dies zeigt, dass Einzelne den radikalen Dschihadismus benutzen, um ihren persönlichen Taten eine allgemeinere religiöse oder politische Bedeutung zu verleihen. Es liegt nahe, dass sie sich dem radikalen Dschihadismus zuwenden, um ihre Frustration und ihren Zorn in etwas Höheres verwandeln, den Kampf um eine Sache.

Einzelnen Terroranschlägen Motive oder Ziele zuzuordnen, bleibt oft subjektiv, besonders, wenn terroristische Gruppierungen sich nicht dazu bekennen. Diese Schwierigkeiten treten verstärkt in Fällen des Einzelkämpfer-Terrorismus auf. Der US-amerikanische Terrorismusexperte Bruce Hoffman differenziert zwischen Terroristen und „irren Attentätern“. Beide verwenden womöglich ein und dieselbe Taktik, sind auf der Suche nach identischen Opfern (z.B. Politiker), verfolgen jedoch unterschiedliche Absichten. Im Gegensatz zur größeren politischen, ideologischen oder religiösen Agenda der Terroristen, die weiter reicht als das unmittelbare Ziel eines Angriffes, ist das Ziel der irren Attentäter eher „in sich selbst gelegen, völlig egozentrisch und zutiefst persönlich“. 1

Viele Einzelkämpfer treiben höchstpersönliche Motive an. Timothy McVeigh, der 1995 den Bombenanschlag auf das Murrah Federal Building in Oklahoma City und damit den Tod von 168 Menschen verantwortete, rechtfertigte seine Tat als politische Handlung. Doch auch er handelte aus persönlichen Beweggründen. David Copeland, nach seiner 13-tägigen Serie von Nagelbombenanschlägen im April 1999 besser bekannt als „der Nagelbomber von London“ – er richtete seinen Hass auf Londons afroamerikanische, südasiatische und homosexuelle Einwohner – schien von einem sehr persönlichen Streben nach Ruhm geleitet.

„Entfremdete Personen fühlen sich weniger als früher an vorherrschende Werte und übliche Verhaltensweisen gebunden“

Auch wenn das Phänomen des „Einzelkämpfer-Terrorismus“ als globales Problem betrachtet werden kann, spielt es vor allem in den USA eine große Rolle. „Der amerikanische Terrorismus“, so Hoffmann, „unterscheidet sich von dem in anderen Ländern dadurch, dass ein großer Teil der Terroranschläge nicht von Mitgliedern einer Terrororganisation, sondern von Einzeltätern verübt wird“. Die unterschiedlichen Motive dieser Täter reichen von Rassismus und Homophobie bis hin zu radikalem Islamismus und dem Wunsch nach Prominenz. Gemein hat diese Palette an Motiven, dass der Betroffene einer vermeintlichen Bedrohung der eigenen Identität und Kultur etwas entgegensetzen will.

Die aufkommende Bedrohung westlicher Gesellschaften durch den Einzelkämpfer-Terrorismus wirft auf ein Licht auf ihre wichtigen kulturellen Entwicklungen. Ebenso wie viele andere, denen der Kontakt zu größeren Gemeinschaften schwer fällt, ist auch der Einzelkämpfer im wahrsten Worte alleine – und zwar aus einem guten Grund. Das Schwächeln der bestehenden Wertesysteme, besonders im Westen, untergräbt die Integrations- und Sozialisationsfähigkeit der Gesellschaft. Viele entfremdete Personen fühlen sich daher weniger als in der Vergangenheit an vorherrschende Werte und damit an übliche Verhaltensweisen gebunden. Dies spitzt sich bei Konflikten über Grundsatzfragen wie Familienleben, Heirat, Sexualität, Geschlecht, Abtreibung, Selbsttötung zu, die das Gefühl kulturellen Unbehagens weiter vertiefen und die Beschäftigung mit der eigenen Identität noch stärker antreiben. Diese Differenzen bei Wertefragen führen dazu, dass viele ihr Handeln nicht mehr vor einem allgemein anerkannten Gemeinschaftsethos rechtfertigen müssen, weil es diesen gar nicht gibt.

Auseinandersetzungen um Werte politisieren Identität. Doch die Kommentatoren von Konflikten über Multikulturalismus, Sexualität oder Lifestyle lassen außer Acht, dass die Politisierung von Identität indirekt den Prozess der Selbstwerdung fördert. Konflikte über Familien, Sexualität und das Führen von intimen Beziehungen haben nun einmal einen höchstpersönlichen Charakter – daher rührt das Motto „Das Persönliche ist politisch“. Die privatisierende Ebene, auf welcher diese Konflikte erfahren werden, bedeutet, dass sie in einigen Fällen eine sehr intensive emotionale Form annehmen können.

„Wenn sich das Persönliche mit dem Politischen verbindet, kann die Suche nach Identität tödlich enden“

Die Personalisierung von Politik kann als Beispiel dessen dienen, was Max Weber als „Stilisierung des Lebens“ bezeichnet. Durch ihr Bekenntnis zum Stil heben sich nach Weber Menschen voneinander ab, betonen ihren Status und setzen ihren Lebensstil in einen moralischen Gegensatz zu dem der anderen. Wie es bei Pierre Bourdieu in seinem meisterlichen soziologischen Essay „Die feinen Unterschiede“ heißt: „Die ästhetische Intoleranz kann durchaus gewalttätig werden“ 2. Und weiter: „Die Abneigung gegenüber verschiedenen Lebensweisen stellt womöglich die größte Barriere zwischen den Klassen dar“. Auseinandersetzungen über die „Lebensart“ dienen der Abgrenzung zwischen Verhalten und Einstellungen, die als legitim angesehen werden und anderen, die als moralisch unwürdig gelten.

Wenn das Persönliche sich mit dem Politischen verbindet, kann die Suche nach Identität tödlich enden. Unter solchen Umständen werden verschiedene Lebensstile und Kulturen nicht als reine Unterschiede aufgefasst, sondern als Bedrohung der eigenen Identität. In Ermangelung gemeinsam geteilter Werte empfinden diejenigen, die sich in ihrer Identität gefährdet sehen, kulturellen Konflikt als Nullsummenspiel. Unfähig zum Kompromiss und sich bedroht fühlend, schlagen sie auf andere ein, um ihr fragiles Selbstwertgefühl zu stärken. Manchmal im Wortsinne, denn ohne gemeinschaftliche Einhegung kann ein solches Verhalten gewalttätige und zerstörerische Formen annehmen.

Bisherige Erfahrungen mit terroristischen Einzelkämpfern legen nahe, dass wir die Beweggründe für Mateens Attentat auf einen homosexuellen Club in Orlando letztlich nie erfahren werden. Wir können aber Erkenntnisse darüber erzielen, warum die Politisierung der kulturellen Identität und das Abbröckeln gesellschaftlicher Konventionen ein Umfeld schaffen, in dem entfremdete Individuen mehr werden als übliche Querulanten. Deshalb müssen wir uns unbedingt dafür einsetzen, das Persönliche aus der Politik zu nehmen, damit Lebensstil- und Meinungsverschiedenheiten nicht in Kriegserklärungen ausarten.

Es wird immer Menschen geben, die darauf aus sind, durch den Mord an anderen in der Öffentlichkeit ein persönliches Statement abzugeben. Am effektivsten vermindert man das Leid, das die Täter bei ihren Mitmenschen auslösen, indem man zusammenhält und zum Ausdruck bringt, dass die Identitätsfragen, die uns voneinander unterscheiden, keine Spaltungen und Konflikte hervorbringen dürfen.

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