09.03.2012

Angela Merkel – Technokratin, keine Tyrannin

Analyse von Sabine Beppler-Spahl

Angela Merkel ist nicht die neue Herrscherin von Europa. Vielmehr verkörpert sie wie keine zweite das technokratische Politikverständnis der europäischen Eliten. Es lässt sich eine Art Symbiose zwischen ihrer Politik der Alternativlosigkeit und dem EU-Bürokratismus beobachten.

Die Euro-Krise scheint uns vor die Wahl zwischen mehr Europa oder mehr Demokratie zu stellen. Das Diktum Angela Merkels vom Oktober letzten Jahres muss so ausgelegt werden. „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“, sagte sie und fügte hinzu, dass niemand glauben solle, ein weiteres halbes Jahrhundert Frieden und Wohlstand seien in Europa selbstverständlich. Will uns Frau Merkel Angst machen? Die Kernaussage dieser drastischen Formulierung jedenfalls ist unüberhörbar: Es gibt keine Alternative zur Rettung des Euros und damit auch zur derzeitigen Politik.

Doch eine Politik der Alternativlosigkeit ist keine Politik - zumal keine demokratische. Demokratie, wir wissen es aus dem Schulunterricht, lebt vom Konflikt und davon, dass konkurrierende Meinungen und Ordnungsentwürfe öffentlich artikuliert werden. Politik wird glaubhafter, wenn sie das Ergebnis einer möglichst breit angelegten Debatte ist, bei der Argumente auf Gegenargumente stoßen und unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten oder Ideen einer kritischen Überprüfung standhalten müssen. Auch radikale Gedanken, die einem allgemeinen Konsens widersprechen oder an Tabus rütteln, haben ihre Berechtigung und sind notwendig für die Meinungsbildung. Mehrfach ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Wähler durchaus bereit sind, Nachteile in Kauf zu nehmen, wenn sie von den getroffenen Entscheidungen überzeugt sind.

Diese Überzeugung fehlt in unserer Zeit der antidemokratischen und alternativlosen Europapolitik. Die Mehrheit der Deutschen mag der Euro-Rettungspolitik der Kanzlerin noch zähneknirschend zustimmen, aber die Spannungen zeigen sich deutlich. Umfragen ergeben, dass die Zahl der Skeptiker unter den Deutschen beachtlich ist. Über ein Drittel der Bürger, so die Meldungen von vor einigen Wochen, würde eine eurokritische Partei wählen, und jeder zweite Bundesbürger glaubt, dass es Deutschland ohne die EU besser ginge. [1] Dennoch hören wir über die Gründe, warum wir die EU und den Euro um jeden Preis retten sollten, herzlich wenig. Die Kanzlerin, die vorgibt, die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen zu wollen, versucht sich gar nicht erst in Erklärungen. Statt Ängste abzubauen, wird aufgewiegelt, um wieder abwiegeln zu können - ohne dass irgendjemandem, der sich auf Angela Merkel verlässt, klar werden dürfte, was es mit dieser Krise wirklich auf sich hat.

Während uns die Kanzlerin rhetorisch auf Alternativlosigkeit einschwor, wurden in Italien und Griechenland technokratische Regierungen eingesetzt, die zeigen, dass mehr Europa offenbar weniger Demokratie bedeuten muss. Auch der Druck, der auf die griechische Regierung im Herbst letzten Jahres ausgeübt wurde, als diese ein Referendum abhalten wollte, zeigt, wie es um Freiheit und Mitbestimmung in Europa steht. [2] Ihre Rechtfertigung erfahren all diese Vorstöße in der Behauptung, die Probleme Europas seien so komplex und weitreichend, dass die Entscheidung über das richtige Vorgehen nicht der Bevölkerung – also denen, die von der Politik am meisten betroffen sind – überlassen werden kann.

Merkels TINA-Politik

Nun wäre es zu einfach, allein die Kanzlerin für diese Trends verantwortlich zu machen. Stellt nicht jeder Politiker seine Politik gerne als alternativlos dar? Als Erfinderin von „TINA“ („There Is No Alternative“) gilt Margaret Thatcher. Besorgnis erregend aber ist, wie leicht es der Kanzlerin heute gemacht wird. Auch wenn es bei der Abstimmung über das zweite Rettungspaket für Griechenland keine Kanzlermehrheit gab, so ist doch die Debatte über die EU-Krise erstaunlich seicht, zurückhaltend und unterwürfig. Nur einige wenige „Dissidenten“ wie Frank Schäffler oder Wolfgang Bosbach und wenig bekannte Bürgerforen stellen sich offen gegen den Kurs der Kanzlerin. Von einer lebhaften, breiten und kontroversen Diskussion über den Euro sind wir weit entfernt. Dies ist umso erstaunlicher, als die Frage der Eurorettung das Leben der Menschen ganz unmittelbar beeinflussen wird (und im Falle Griechenlands bereits tut).

Eine Erklärung für die verhaltene Kritik mag sein, dass wir uns längst an die Politik der Alternativlosigkeit gewöhnt haben. Die Politikwissenschaftlerin und ehemalige SPD-Bundespräsidentschaftskanidatin Gesine Schwan schreibt in einem Beitrag für die FAZ, dass Angela Merkel, seitdem sie Bundeskanzlerin ist, Debatten über kritische und schwierige Themen zu vermeiden suchte. [3] In mancher Hinsicht ist diese Ausweichstrategie zum Markenzeichen ihrer Kanzlerschaft geworden. Ihre 180 Grad Kehrtwende in der Atompolitik ist ein Beispiel hierfür. Obwohl sie sich der Sympathie großer Teile der Bevölkerung sicher sein kann, war die Entscheidung nicht das Ergebnis einer vorausgehenden, breiten gesellschaftlichen Debatte, bei der die Vor- und Nachteile des Ausstiegs aus der Kernenergie gegeneinander abgewogen wurden. Bis heute fehlt eine überzeugende Erklärung dafür, warum die Physikerin Merkel ihre Meinung zu Atomkraft quasi über Nacht geändert haben soll. Ähnlich, so Schwan, verhielt sich die Kanzlerin bei anderen tiefgreifenden, gesellschaftlich relevanten Entscheidungen, etwa bei der Umgestaltung der Bundeswehr.

Die Politik der Alternativlosigkeit setzt voraus, dass auch die Opposition keine konträren Meinungen und Gegenmodelle vertritt. Was wir in der Innenpolitik erleben, spiegelt sich auf der europäischen Ebene wider. Innerhalb der EU scheint es, bis auf wenige Ausnahmen, ebenfalls Konsens zu sein, dass der Euro um jeden Preis gerettet werden muss. Regierungen sind bereit, die technisch-autoritären Maßnahmen der Euro-Rettung zu akzeptieren, selbst wenn damit eine Kultur der Verbote und Bestrafungen befördert oder die Budgethoheit der Länder empfindlich untergraben wird. Deutschland, so heißt es gelegentlich, habe sich mit seinen ordnungspolitischen Forderungen isoliert. Doch die Merkelsche Linie der Euro-Rettung wird noch von (fast) allen Regierungen mitgetragen. Nur gelegentlich zeigen sich kleine Risse im Europa-Konsens, wie z.B. im Dezember, als sich der Britische Premierminister, David Cameron, der Fiskalunion widersetzte. Trotzdem beschränkt sich der Unmut über Merkels Politik im Ausland bisher auf billige Nazi-Vergleiche und unseriöse Karikaturen in Boulevardblättern.

Technokratische Symbiose: Merkel und die EU-Bürokratie

Manchmal wird gesagt, Merkels Durchsetzungskraft sei auf die Stärke Deutschlands als größter Wirtschaftsnation Europas zurückzuführen. Objektiv betrachtet hat Deutschland jedoch wenig Legitimation, andere Länder auf Linie zu bringen. Der wirtschaftliche Erfolg des Landes ist, historisch und international betrachtet, mäßig. Auch wenn die Wachstumsraten der vergangenen zwei Jahre besser als erwartet waren, ist das Land kein Kraftzentrum, das andere Länder vor dem Abschwung bewahren könnte. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung kaum ein Interesse daran haben kann, als europäischer Tyrann aufzutreten. Der Grund für Frau Merkels Durchsetzungsfähigkeit ist nicht ihre oder Deutschlands Brillanz. Vielmehr verträgt sich ihr Politikstil gut mit einer EU-Bürokratie, die Probleme stets mit technisch-administrativen Maßnahmen zu lösen versucht hat.

So ist es zu einer Art Symbiose zwischen der Merkelschen Politik und der EU-Politik gekommen. Die EU wird nicht umsonst seit ihrer Gründung 1992 als ein abgehobenes, bürokratisches Projekt wahrgenommen. Die Versuche, die Institutionen schrittweise zu demokratisieren, ändern daran nichts. Schon die Vertragsunterzeichnung von Maastricht, die die Einführung der Gemeinschaftswährung vorsah, geschah weitgehend abgeschottet von der Öffentlichkeit und vollzog sich erstaunlich leise. Nur selten wurde das Volk zu EU-Angelegenheiten direkt befragt, und Referenden, die nicht das gewünschte Ergebnis brachten, wurden ignoriert oder mussten wiederholt werden (Frankreich und Niederlande 2005, Irland 2008). Politikvermeidung wurde zu einer Art Markenzeichen der EU, ähnlich wie bei Frau Merkel. Statt sich Herausforderungen offen zu stellen oder dem Druck, Entscheidungen rechtfertigen zu müssen, wurden Absprachen hinter verschlossenen Türen getroffen. Öffentliche Debatten, vor allem über kritische Fragen, wurden vermieden. Jetzt, da in der Krise die fehlende politische Einigung Europas deutlich zutage tritt, wird defensiv an dieser Linie festgehalten. Die deutsche Kanzlerin, mit ihrem technischen Politikverständnis, passt gut in dieses Gefüge aus Flickschusterei.

Alternativen gibt es immer, und es ist an der Zeit, die ausgetretenen Pfade zu verlassen. Der Euro hat in den vergangenen Jahren durch den Abbau von Handelsbeschränkungen, die Öffnung der Arbeitsmärkte und die Bereitstellung billiger Kredite vielen Ländern Vorteile verschafft. Nun aber hat sich gezeigt, dass die ungleiche Wettbewerbssituation innerhalb der Eurozone und die niedrigen Zinssätze der Einheitswährung eine gefährliche Blase haben entstehen lassen. Es geht nicht allein darum, Fehler der Vergangenheit aufzuarbeiten, sondern auch darum, endlich den Ring frei zu geben für klärende Debatten. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre, Europa nicht immer mit der EU und dem Euro gleich zu setzen. Die bisherige Europapolitik hat uns von dem Projekt eines wirklich geeinten Kontinents weiter entfernt. Ihre Vorstellung von Einheit war von rein technischer – und nicht politischer – Natur. Nun ist die Frage, ob wir den Weg der Technokraten weiter beschreiten wollen oder uns an das Primat der Demokratie erinnern möchten.



Bei dem Beitrag handelt es sich um die gekürzte Fassung einer Rede, die NovoArgumente-Redakteurin Sabine Beppler-Spahl am 23.02.2012 im Rahmen einer NovoDebatte in Berlin unter dem Titel „Europe without Europeans?“ in englischer Sprache hielt.

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