31.10.2016

Kann die Menschheit ohne Grenzen leben?

Essay von Frank Furedi

Die zeitgemäße Kritik am Grenzendenken ist nicht aufgeklärt. Demokratie, Kindererziehung, Privatsphäre und Souveränität beruhen auf Grenzen.

„Wann erreichen wir die Grenze?“ fragte mich meine ältere Schwester an einer nasskalten Novembernacht im Jahr 1956. Die Familie Furedi war auf der Flucht vor dem stalinistischen Regime Ungarns und wollte dringend die Grenze Richtung Österreich überqueren. Die Grenze zum Westen erschien uns in diesem Augenblick wie eine magische Tür zu einer wundervollen Zukunft. Historisch betrachtet konnten wir uns glücklich schätzen; die Erfahrungen vieler Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa zeigen, dass Grenzen häufig eher unüberwindbaren Mauern gleichen als magischen Türen.

Europa, und so auch ein großer Teil der restlichen Welt, ist von Grenzen besessen geworden. Die Debatten sind durch eine hohe Polarisierung und oftmals von Halbwissen geprägt. Einige begreifen Grenzen schlicht als Affront gegen den Menschen, andere sind der Überzeugung, sie wären die Grundlage ihrer Sicherheit. Man sollte vielleicht einen Schritt von der hitzigen Debatte zurücktreten und sich mit der Frage befassen: Kann die Menschheit ohne Grenzen leben?

Eine widersprüchliche Erfahrung

Wie Menschen Grenzen erfahren, ist widersprüchlich. Menschen ziehen kontinuierlich Grenzlinien. Ebenso haben Menschen seit jeher versucht, die Grenzen zu überwinden, die ihre Vorfahren gezogen haben. Nicht selten werden uns Grenzen als Relikt vergangener Zeiten präsentiert. So behaupten Fürsprecher der Globalisierung seit einigen Jahrzehnten beharrlich, dass eine globalisiertere Welt mit Bewegungsfreiheit für Güter, Leistungen und Menschen Grenzen obsolet machen würde. Und doch deutet die bisherige Erfahrung mit der Globalisierung darauf hin, dass, trotz der gewonnenen Mobilität, Grenzen in ihren geographischen, symbolischen und virtuellen Formen hervorstechende Merkmale unseres Lebens bleiben werden.

Grenzen werden in Europa und auch innerhalb vieler nationaler Gemeinschaften äußerst unterschiedlich erlebt. Wohlhabende, sichere und gut situierte Reisende nehmen Grenzkontrollen – wie etwa die US-amerikanischen Einwanderungsprozeduren – als lästiges und unnötiges Hindernis wahr. Andere hingegen und vor allem jene, die weniger reisen und eher heimatverbunden sind, verstehen Grenzen als etwas für ihre psychologische und kulturelle Sicherheit Essentielles. Die Lockerung von Grenzkontrollen zugunsten der Einwanderung wird häufig als mit dem eigenen Wohlbefinden unvereinbar verstanden. Schon immer koexistierte die Sehnsucht nach Bewegungsfreiheit mit dem Bedürfnis, seine eigene Unversehrtheit durch sichere Grenzen garantiert zu wissen. Seit jeher sind Menschen in die Welt ausgezogen und nicht selten haben diese weitgereisten Menschen im Nachgang ihre Energie auf das Ziehen von Grenzen konzentriert.

„Das Ziehen von Grenzen ist eine Voraussetzung für das menschliche Erkenntnisvermögen.“

Wir sprechen hierbei nicht nur von geographischen Grenzen. Das Ziehen einer Grenze ist sowohl ein psychologisches wie auch ein kulturelles Phänomen. Die Identität und der Zugehörigkeitssinn der Menschen setzen ein Gespür für Grenzen voraus. Das Ziehen von Grenzen ist eine Voraussetzung für das menschliche Erkenntnisvermögen. So internalisieren Individuen beispielsweise durch das Medium der Kultur die Trennlinie zwischen dem Heiligen und dem Profanen, dem Guten und dem Bösen, dem Erwachsenen und dem Kind. Diese Unterscheidungen mögen willkürlich erscheinen, aber sie stellen die kulturellen Ressourcen bereit, durch die die Menschen ihren Alltag verstehen.

Der bemerkenswerte deutsche Soziologe Georg Simmel erinnerte uns im Jahr 1909 eloquent an den menschlichen Impuls, Grenzen zu ziehen: „Nur dem Menschen ist es, der Natur gegenüber, gegeben, zu binden und zu lösen, und zwar in der eigentümlichen Weise, dass eines immer die Voraussetzung des anderen ist.

In seinem Essay „Brücke und Tür“ hob Simmel die überraschend intime Beziehung zwischen Trennung und Verbindung hervor. „Und umgekehrt: als verbunden empfinden wir nur, was wir erst irgendwie gegeneinander isoliert haben, die Dinge müssen erst auseinander sein, um miteinander zu sein.“ Dieser Imperativ, zu verbinden und zu trennen, übersteigt das Reich der physischen Grenzen. Des Weiteren argumentiert er: „Im unmittelbaren wie im symbolischen, im körperlichen wie im geistigen Sinne sind wir in jedem Augenblicke solche, die Verbundenes trennen oder die Getrenntes verbinden.“

„Die Tendenz, Grenzen in ein schlechtes Licht zu rücken, ist in der zeitgenössischen Popkultur weit verbreitet.“

Grenzen sind also nicht nur physische und geographische Wirklichkeiten. Vielmehr wohnt ihnen eine starke symbolische Bedeutung inne, anhand derer Gemeinschaften einen Einblick in sich selbst und die Bedeutung ihrer Existenz erhalten. Durch die Beschäftigung mit symbolischen Grenzen wird das Empfinden einer gesellschaftlichen Wirklichkeit als solche oftmals gebildet und internalisiert.

Die Entgrenzung der Gesellschaft

Meiner Ansicht nach haben die zeitgenössischen Gesellschaften und insbesondere deren kulturelle und politische Eliten, Schwierigkeiten damit, Bedeutung aus symbolischen Grenzen zu schöpfen. Die wissenschaftliche Literatur als auch der Feuilleton stellen nun implizit den moralischen Status und sogar die Legitimität von Grenzen in Frage. Intellektuelle heben in regelmäßigen Abständen die willkürliche und fließende Natur von Grenzen hervor; zahlreiche Sozialwissenschaftler weisen auf den porösen Zustand moderner Grenzen hin. Diese Denker stellen Grenzen als unbestimmte und künstliche Konstruktionen dar, wobei sie häufig von postmodernen Theorien beeinflusst wurden, insbesondere von jenen des französischen Philosophen Gilles Deleuze. Die sogenannte Künstlichkeit der Grenzen zwischen Ost und West, Zivilisation und Barbarei oder Europa und Asien werden als Beweis für die weitergehende Bedeutungslosigkeit aller physischen Grenzen angeführt.

Die Tendenz, Grenzen oder gar irgendeine deutliche Unterscheidung in ein schlechtes Licht zu rücken, ist in der zeitgenössischen Popkultur weit verbreitet. „Post-Border“ zu sein, Grenzen hinter sich gelassen zu haben, gehört nun zum guten Ton. Googelt man die Wörter „without borders“, findet man über die Ärzte ohne Grenzen hinaus eine befremdlich hohe Zahl von Organisationen, die für sich beanspruchen, „without borders“ zu sein. Ingenieure, Musiker, Chemiker, Veterinäre, Geschäftsführungen, Bibliothekare, Bauunternehmer, Klempner, Anwälte, Astronomen, Gestalter, Journalisten, Rabbis, Kräuterkenner, Akkupunkteure und Clowns sind nur einige der Gruppen, die sich die Primärtugend der Grenzenlosigkeit auf die Fahnen geschrieben haben.

Manche verstehen den Enthusiasmus für das Dasein ohne Grenzen als Ausdruck der Risikobereitschaft, des Pioniergeists und des Verlangens, das Unbekannte zu ergründen. Und tatsächlich wäre es überaus inspirierend, stellten diese Grenzüberschreitungen wirklich einen Versuch dar, das aufklärerische und Kant‘sche Ideal des Kosmopolitismus und des Weltenbürgers zu verwirklichen. Unglücklicherweise ist der treibende Faktor hinter dieser kulturellen Reaktion gegen Grenzen, auch wenn es andere, widersprüchliche Impulse gibt, die Angst davor, Verantwortung für das Ziehen symbolischer Grenzen und klarer Linien zu übernehmen.

„Die Krise der Grenzziehung stellt ein großes Problem für Eltern dar.“

Das Zurückweisen von Grenzen verläuft parallel zu dem Unmut darüber, moralische Unterscheidungen treffen zu müssen und wird von einem Widerwillen gestützt, ernsthafte Werturteile abzugeben. Eines der ernsthaftesten Probleme des Westens besteht heute darin, für sich selbst einzustehen. Diese Haltung schlägt sich nun sogar in der Art und Weise wieder, wie sich Nationalstaaten begreifen und wie sie sich verhalten.

Diese Krise der Grenzziehung stellt unter anderem ein großes Problem für Eltern dar. Mütter und Väter sind sich bewusst, dass Kinder nur angemessen sozialisiert werden können, wenn sie lernen, Grenzen zu akzeptieren, Regeln zu respektieren und wenn sich schrittweise angewöhnen, sich selbst zu beherrschen. Grenzen zu überschreiten und auszutesten ist sicher ein zentraler Bestandteil der kindlichen Entwicklung. Ebenso kann die Missachtung der elterlichen Regeln ein kreativer Ausdruck eigener Persönlichkeit sein.

Andere Formen des Trotzes können jedoch ernsthafte Gefahren in sich bergen. Es ist für Eltern nicht immer einfach zu wissen, wann man standhalten sollte und wann über schlechtes Benehmen hinweggesehen werden kann. Dabei ist es keine große Hilfe, dass im 21. Jahrhundert Disziplin als etwas Altmodisches angesehen wird. Darüber hinaus befürchten viele Eltern, dass eine standhafte Haltung ihre Kinder gegen sie aufbringt. Westliche Eltern, die deshalb vor Disziplinarmaßnahmen zurückschrecken, werden schließlich auf Bestechung zurückgreifen oder schlicht nachgeben, nur um eine standhafte Haltung zu vermeiden.

Das Problem mit der mangelnden Konsequenz hängt mit der zögerlichen Haltung der Gesellschaft zusammen, wenn es darum geht, die symbolische Grenze aufrechtzuerhalten, die Erwachsene von Kindern trennt. Wie ich in meinem Buch „Paranoid Parenting“ aufgezeigt habe, haben westliche Gesellschaften Probleme, die Frage zu beantworten, wo die Trennlinie zwischen dem Erwachsensein und der Kindheit liegt. In einigen Fällen werden Kinder in die Rolle kleiner Erwachsener gedrängt und man erwartet von ihnen, informierte Entscheidungen zu treffen. Manche Fürsprecher einer „Demokratisierung“ der Familie halten Kinder für fähig, die Verantwortung auf sich zu nehmen, die mit den Rechten Erwachsener einhergehen. Dieser Gedanke wurde in Form der Doktrin der Kinderrechte kodifiziert.

„Eltern, Lehrer und andere mit Kindern betraute Erwachsene verwischen die Generationsunterschiede.“

Formal halten westliche Gesellschaften eine Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen natürlich ein. Sie haben ein Schutzalter und ein Alter, in dem junge Menschen Erwachsenenrechte erhalten. In der Praxis, im Bereich des informellen gesellschaftlichen und kulturellen Lebens, ist eine solche Grenze jedoch verschwommen.

Es liegt nicht einfach nur an der verworrenen Kindererziehung, dass man nicht mehr weiß, wo man die Grenze zwischen Kindheit und Erwachsenenalter ziehen soll. Vielmehr weist dies auf eine grundlegende Verwirrung über die Bedeutung des Erwachsenendaseins hin, die dazu führt, dass man das Ideal der Autorität eines Erwachsenen nur noch zögerlich akzeptiert oder diese Autorität ausübt. Die Unterschiede zwischen den Generationen zu ignorieren und Kinder so ähnlich zu behandeln wie Erwachsene, gilt heute als aufgeklärtere Herangehensweise an das Leben. Zumindest als aufgeklärter als auf altmodischen Grenzen zwischen den Generationen zu beharren.

Seit einiger Zeit verwischen Eltern, Lehrer und andere mit Kindern betraute Erwachsene die Generationsunterschiede und versuchen eher, Freunde zu sein statt moralische Führer und Mentoren. Diese unbewusste Infantilisierung, bei der sich Erwachsene auf die Ebene von Kindern und jungen Menschen herabbegeben, zeigt, dass klassische Grenzen zwischen den Generationen heutzutage wenig bedeuten. Das Unbehagen mit solchen Grenzen führte dazu, dass das Erwachsenwerden selbst als negativ, ja beängstigend angesehen wird. Konsequenterweise verschiebt sich die Adoleszenz kontinuierlich bis in die späten Zwanziger hinein und darüber hinaus, da sich junge Menschen zunehmend dagegen wehren, die Grenze zu dem düsteren Reich des Erwachsendaseins zu überschreiten.

Die Ambivalenz westlicher Gesellschaften gegenüber symbolischen Grenzen lässt sich ebenfalls sehr eindringlich anhand der Korrosion der Grenze erkennen, welche die Privatsphäre von der öffentlichen Sphäre trennt. Seit den Anfängen der Moderne war das Private durch eine sowohl symbolische wie auch physische Grenze vom Öffentlichen separiert. Der symbolische Ort der Privatsphäre hat ein physisch-räumliches Fundament: Ein Haus, eine Wohnung oder einfach nur ein Raum. Dieser Ort, der metaphorisch als „Zuhause“ bezeichnet wird, wurde bis vor kurzem noch als physisch und symbolisch von der öffentlichen Sphäre getrennt angesehen. Heute wird jedoch regelmäßig die Forderung laut, die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu erodieren. Sie wird noch expliziter erhoben als die Forderung, die Trennung zwischen Kind und Erwachsenem aufzulösen.

„Der Kulturfeminismus hat eine energische Kritik an der Privatsphäre hervorgebracht.“

Auch wenn das Konzept der Privatsphäre nur selten in aller Direktheit politisch oder moralisch verurteilt wird, so ist es doch ständigen Angriffen aus unterschiedlichen Richtungen ausgesetzt. Die rhetorische Affirmation, die das Recht auf Privatsphäre seitens der Gesellschaft erfährt, verläuft parallel zu der praktischen Erosion des eigentlichen Privatlebens. Die Grenze zum Privaten soll durchlässiger werden, so das Hauptargument, da diese Grenze gewalttätige Ehemänner, Väter und andere schändliche Personen vor dem öffentlichen Blick schütze. Anfeindungen gegenüber der Privatsphäre bauen auf der neuen Auffassung des Privaten auf, die häusliches Familienleben und intime Angelegenheiten zum einen und Missbrauch, Ausbeutung und Gewalt zum anderen als zwei Seiten derselben Medaille porträtiert. Politische Entscheidungsträger und Moralisten fordern vehement mehr öffentliche Einblicke in das private Leben. Der Kulturfeminismus im Speziellen hat eine energische Kritik an der Privatsphäre hervorgebracht.

Das Private wird ständig als „Deckmantel“ oder „Vortäuschung“ bezeichnet, das unaussprechliche Gräuel in den Häusern der Menschen verdecke. Es wird davon ausgegangen, dass Menschen, sind sie im Privaten mit sich alleine gelassen und weit entfernt von der öffentlichen Betrachtung, destruktiven Emotionen freien Lauf lassen. Besonders Männer stehen unter Verdacht, das Privileg der Privatsphäre zu nutzen, um Frauen und Kinder zu terrorisieren. Diese wenig schmeichelhafte Auffassung intimer Beziehungen hat die Vorstellung befördert, nahezu alle Menschen seien unmittelbar im Begriff, Opfer der Gewalt zu werden. Aus dieser Sicht hat das Private nahezu keine wünschenswerten Eigenschaften.

Die Kritiker der Privatsphäre lassen vollkommen außer Acht, dass die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre und das Erstarken der Grenze zwischen ihnen für die Entstehung des modernen Individuums von essentieller Bedeutung waren. Die Sehnsucht des Menschen nach Autonomie und Identität kann nicht ausschließlich im öffentlichen Raum gestillt werden. Erst die Privatsphäre bietet einen potentiellen Raum für das Nachdenken und für die Persönlichkeitsentwicklung. Sollen intime Beziehungen nicht unter der Last der öffentlichen Betrachtung zerbrechen, so benötigen sie das Private. Welche Probleme auch in der Privatsphäre existieren mögen, ohne sie kann es keine moralische Autonomie geben.

„Individuelle Autonomie die Selbstbestimmung werden in durch Grenzen geschützten Räumen kultiviert.“

Die individuelle Autonomie und die Selbstbestimmung wie auch die Souveränität werden in durch Grenzen geschützten Räumen kultiviert. Die jeweilige Grenze kann von physischer wie symbolischer Natur sein, geschützt durch das Gesetz oder auch nur durch die Tradition. Entscheidend ist, dass die Privatsphäre den Raum und die Gelegenheit zur Kultivierung einer Identität bereitstellen, sei es einer individuellen oder einer kollektiven Identität.

Die Kritiker von Grenzen verstehen Grenzen als soziale Konstrukte und beharren auf ihrem künstlichen und willkürlichen Wesen. Es kann schwer scheinen, dem zu widersprechen. Der willkürliche Charakter vieler Nationen und Gebiete wird deutlich, wirft man nur einen Blick auf die Weltkarte. Viele Grenzen auf dem afrikanischen Kontinent sind durch gerade Linien markiert, die Zeugen für den Mangel an Vorstellungskraft alter Kolonialkräfte sind. Keine Grenze ist davor gefeit, in Frage gestellt zu werden. Man nehme nur die Grenze zwischen Kind und Erwachsenem, die andauernd durch Jugendliche verletzt wird, die schneller heranwachsen als andere. So auch die Grenzen zwischen Nationen, die kontinuierlich herausgefordert werden – sei es durch Politiker, Armeen, Internet-Provider, Unternehmen, Schmuggler und natürlich Migranten.

Und doch sind Grenzen nicht einfach künstliche gesellschaftliche Konstruktionen. Wie Simmel bereits ausführte, sind sie physischer und symbolischer Ausdruck sozialer Bedürfnisse. Wir können nicht von allen erwarten, eine bestimmte Grenze zu mögen, aber dieses Medium der Gliederung, dieses Werkzeug der Teilung und somit auch der potenziellen Verbindung drückt die Bedürfnisse von Menschen und Gesellschaften aus. Wie Simmel beobachtete: „Nicht der Staat, nicht die Stücke des Eigentums, nicht der Stadtteil und auch nicht der Bezirk schränken uns ein, sondern Bewohner und Besitzer üben reziproken Einfluss aus.“ Es sind wechselseitige menschliche Interaktionen, die den Grenzen Bedeutung verleihen. Ob aus diesen Grenzen dann unüberbrückbare Mauern oder geöffnete Türen werden, hängt von den Werten und Haltungen ab, die in einer bestimmten Gesellschaft vorherrschen und von dem, was wir zu einer bestimmen Zeit denken und fühlen.

Verteidigung von Grenzen

Wie man über Grenzen auch denken mag, so sollte man sich vor Augen führen, dass die Menschheit schon immer Grenzen gezogen hat. Symbolische Grenzen verkörpern Werte, die uns ein moralisches Gleichgewicht empfinden lassen und uns eine Orientierung für das Leben bieten. Die menschliche Vorstellungskraft verleitet uns nicht selten dazu, über Grenzen hinwegzugleiten, um das Unbekannte zu erforschen. Aber selbst solchen Flügen der Vorstellungskraft liegt ein Empfinden für Schranken und Grenzen zugrunde, die man überqueren möchte. Als die Familie Furedi im November 1956 die ungarische Grenze zu Österreich überquerte, gab es für uns keinen Zweifel, dass die Welt diese Grenze, die wir überschritten und die zwei sehr verschiedene Lebensweisen voneinander trennte, bewahren musste.

„Ohne Grenzen wird der Bürger zum Untertan.“

Grenzen sind für das menschliche Gedeihen unabdingbar. Sie ausschließlich aufgrund ihres scheinbar beliebigen Charakters zu negieren, ist nichts weiter als eine Ausflucht. Die Entfremdung westlicher Gesellschaften von Grenzen ist kein progressiver Schritt auf dem Weg nach vorne. Vielmehr stellt sie einen Ausdruck einer Wertekrise dar, in der keine Stellung mehr bezogen wird. Die westlichen Gesellschaften haben Gefallen daran gefunden, sich auf die ausweichende Taktik zu verlassen, keine Urteile mehr zu fällen. Nun muss der Westen erneut lernen, Unterscheidungen vorzunehmen. Er muss sein Zögern beim Fällen von Werturteilen überwinden und seine Angst davor ablegen, Stellung zu beziehen.

Zu diesem Zweck muss man sich vor allem vom Gedanken verabschieden, Grenzen seien künstliche Gebilde, unnütze Dinge, die nur dazu taugen, andere auszuschließen. Grenzen sind für die Aufrechterhaltung von nationaler Souveränität von grundlegender Bedeutung und bislang hat die Menschheit kein anderes Fundament für die Institutionalisierung demokratischer Rechenschaftspflichten entdeckt. Ohne Grenzen wird der Bürger zum Untertan. Er ist dann einer Macht ausgeliefert, die er nicht dazu bewegen kann, Rechenschaft für ihr Handeln abzulegen.

Dass dem Gedanken der Souveränität das gleiche Schicksal zuteilwurde wie dem der Autonomie und der Privatsphäre, ist nicht sonderlich überraschend. Schließlich sind dies miteinander verbundene Werte der Aufklärung, die für die Fähigkeit des Menschen, Urteile über das eigene Leben, über das eigene Verhalten und die Zukunft zu treffen, erforderlich sind. Die Denker und Kommentatoren, die die Menschen, die am Gedanken der Grenze so verzweifelt festhalten, für moralisch unterlegen halten, sollten ihre Meinung noch einmal überdenken. Vielmehr ist es ihr eigenes Zögern, die Stellung zu halten und Grenzen ernst zu nehmen, das eine Absage an die fundamentalen Werte der Moderne, nämlich die Autonomie, die Souveränität und die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre, darstellt.

„Es ist nichts wagemutig daran, Grenzen nicht ernst zu nehmen.“

Die aktuelle Debatte über Migration und die Frage darüber, wenn überhaupt, welche Bedeutung europäischen Grenzen im 21. Jahrhundert zukommt, ist nicht bloß ein Produkt der Krisen in Syrien, Libyen und Afghanistan. Sie ist, viel fundamentaler, in der bereits vorherrschenden Verwirrung über die Bedeutung des Nationalstaates in Zeiten der Europäischen Union begründet. Die Tatsache, dass westeuropäische Grenzen ihre Bedeutung verlieren, hängt wesentlich mit der zunehmenden Enttäuschung darüber zusammen, was es heißt, deutsch, niederländisch oder britisch zu sein. Die moderne Einwanderungsfrage ist ebenso untrennbar mit der Korrosion des Selbstbewusstseins westeuropäischer Nationen verbunden wie mit dem Chaos in Nahost und Nordafrika.

Das Bedürfnis, Grenzen zu transzendieren, ist häufig ein kühnes und nobles. Im aktuellen historischen Zusammenhang ist allerdings nichts wagemutig daran, Grenzen nicht ernst zu nehmen. Im Gegenteil ist es ein Ausdruck der Weigerung, angesichts der Ungewissheit Verantwortung zu übernehmen.

Die Debatte über Grenzen in Europa wird von zwei widersprüchlichen und doch äußerst menschlichen Leidenschaften angetrieben. Das Streben des Menschen nach Freiheit und Mobilität stößt auf ein existentielles Bedürfnis nach einem Empfinden von Sicherheit. Weder das eine noch das andere darf ignoriert werden, was bedeutet, dass Europa einige sehr schwierige Entscheidungen zu treffen hat. Die Lösung dieser aktuellen Krise ist irgendwo in der Aussöhnung des Bedürfnisses nach Bewegungsfreiheit mit dem existentiellen Wunsch nach räumlicher und symbolischer Sicherheit zu finden. Und im Schutz und nicht in der Zerstörung des aufklärerischen Ideals der Grenzen zwischen den Dingen.

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