26.08.2016

Missverständnisse über offene Grenzen

Analyse von Kalle Kappner

Titelbild

Foto: Metropolico.org via Flickr (CC BY-SA 2.0 / bearbeitet)

Niederlassungsfreiheit für alle kann man in Deutschland einführen, ohne Grenzkontrollen abzuschaffen und ohne jeden Einwanderer komplett in die Sozialsysteme zu integrieren.

Das Jahr 2015 war für die deutsche migrationspolitische Debatte ein Wendepunkt. Wurden Fragen des Einwanderungsrechts in den Jahren zuvor eher abstrakt, oder mit hauptsächlichem Bezug auf die EU-Erweiterung diskutiert, ist seit letztem Jahr von einer „Krise“ die Rede. Die Erfahrung, dass auch Deutschland sich von dem seit Jahren bestehenden Flüchtlingsdrama in Afrika und Asien nicht abkapseln kann, hat die Debatte neu befeuert.

Weltweit sind nach UN-Schätzungen über 65 Millionen Menschen auf der Flucht – ein Fünfundsechzigstel davon wurde 2015 in Deutschland registriert, wiederum etwa 50 Prozent der registrierten Flüchtlinge – in absoluten Zahlen: 477.000 Menschen – haben einen Asylantrag gestellt. 2016 ging es bisher in ähnlichem Maße weiter. Wohl auch angesichts des mangelhaften Managements der Bundesregierung hat sich der Begriff der „Flüchtlingskrise“ etabliert. Diese „Krise“ ist nicht fiskalischer Natur – wenngleich 18 bis 30 Milliarden Euro zusätzliche jährliche Ausgaben für die deutsche Bevölkerung eine nennenswerte Belastung darstellen. Sie ist auch keine Krise der Verwaltung, des Rechtsstaats oder der inneren Sicherheit. Sie ist vor allem eine emotionale Krise – in ihr kommt das Unvermögen zum Ausdruck, Deutschlands Teilhabe an weltweiten Notständen richtig einzuordnen.

Die emotionale Krise hat quer durch das politische Spektrum Mythen entstehen lassen. So besteht in manchen Kreisen die Ansicht, Bundeskanzlerin Merkel hätte Migranten mit Worten und Smartphone-Selfies „eingeladen“, woraufhin sich diese in Scharen aufgemacht hätten – dass Deutschland bereits zuvor Ziel von Asylsuchenden war und es in Abwesenheit der spärlichen Äußerungen der Kanzlerin ohnehin geblieben wäre, passt da nicht ins Bild. Ähnlich hartnäckig hält sich der Mythos, die Große Koalition betreibe eine besonders humane Flüchtlingspolitik und Angela Merkel sei gar eine „Heldin“ – eine Schlussfolgerung, zu der man nur kommen kann, wenn man sich von emotionalem Politmarketing leiten lässt und etwa den Abschottungsdeal mit der Türkei ignoriert.

„Offene Grenzen bedeuten im wesentlichen Niederlassungsfreiheit ohne staatliche Diskriminierung.“

Der hartnäckigste Mythos aber ist jener, dass Deutschland derzeit offene Grenzen hätte. Eine kleine Auswahl:

  • Der ewige Äußerer vermeintlich unterdrückter Meinungen, Ex-Finanzsenator Thilo Sarrazin attestiert der Bundesregierung, dass die Politik der offenen Grenzen ein Irrweg sei. Zwei Drittel der Deutschen sehen das ähnlich.
  • Die Alternative für Deutschland  (AfD) sieht in Deutschlands offenen Grenzen die Ursache für die Amokläufe im Sommer 2016 und den Brexit – die FDP stimmt zumindest letzterem zu. In der Linkspartei ist man sich zwar einig, dass Deutschland derzeit keine offenen Grenzen habe, doch ob man diese angesichts der Vorkommnisse im letzten Jahr noch anstrebt, weiß man auch nicht mehr.
  • Auch an seriöserer Stelle, etwa beim Verfassungsblog oder seitens der Sicherheitsbehörden stellt man fest, Deutschland habe derzeit offene Grenzen, was mit der Verfassung bzw. der Bewahrung innerer Sicherheit schwerlich vereinbar sei.

Doch was bedeuten offene Grenzen eigentlich? Offene Grenzen bedeuten im wesentlichen Niederlassungsfreiheit ohne staatliche Diskriminierung: das Recht, sich den Lebens- und Arbeitsmittelpunkt selbst auszusuchen. Offene Grenzen bedeuten, dass ein Mensch unabhängig von seinem Geburtsort und mit Geburt ausgestelltem Pass leben, Eigentum erwerben und arbeiten darf, wo er möchte. Grenzen können dabei weiterhin wichtige Funktionen ausüben, etwa um Verwaltungseinheiten abzugrenzen, doch sie sollten kein Hindernis für die Wahl des Lebensmittelpunkts darstellen.

Hat Deutschland demnach offene Grenzen? Für die Bürger anderer Schengen-Länder sicherlich. Diese genießen Visafreiheit und werden deutschen Bürgern hinsichtlich der Suche nach einem Arbeits- und Wohnort weitgehend gleichgestellt. Ist die Grenze auch für Syrer, Afghanen, Iraker oder Menschen aus Nordafrika offen, also für jene Menschen, die derzeit Stoff der Debatte sind? Nein. Nur einer verschwindend geringen Minderheit der Menschen aus diesen Ländern ist es möglich, über legale Einwanderungsprogramme nach Deutschland zu gelangen, hier zu leben und zu arbeiten. Sie können nur in den wenigsten Fällen bequem ein Visum beantragen, per Flug einreisen und hier arbeiten und leben.

„Die überwiegende Mehrheit der Menschen findet in Deutschland keine offenen Grenzen vor.“

Doch die überwiegende Mehrheit der Menschen aus den genannten Ländern findet in Deutschland keine offenen Grenzen vor, sondern hat einen Asylantrag zu stellen. Während dieser geprüft wird, ist der Erwerb eines selbstständigen Lebensunterhalts untersagt oder stark reguliert. Die Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt, der Alltag wird oft jahrelang in Lagern verbracht. Die Chance, als Flüchtling anerkannt zu werden hängt von vielem ab – der Nationalität, dem individuellen Werdegang, der Kooperation des Antragstellers – sie ist aber weder sicher, noch durch den Antragsteller entscheidend beeinflussbar.

Die Tatsache, dass prinzipiell jeder Mensch das Recht hat, einen Asylantrag in Deutschland zu stellen, bedeutet nicht, dass Deutschlands Grenzen für jeden Menschen offen wären. Wären sie das, gäbe es keine abgelehnten Asylanträge, keine Deportationen, keine Balkan- und Mittelmeerrouten und keine Debatte, die Flüchtlinge als politische Verfügungsmaße behandelt. Das Asylrecht ist ein Recht auf temporären Schutz in Notlagen. Mit offenen Grenzen hat es nichts zu tun.

Wie kommt es, dass die Ansicht, Deutschlands Grenzen seien offen, dennoch so verbreitet ist? Ein Grund mag darin liegen, dass die Abwesenheit von Kontrollen am Grenzübergang mit offenen Grenzen verwechselt wird. Im Verlauf des letzten Jahres wurde viel über die Notwendigkeit von Grenzkontrollen diskutiert. Doch für einen Migranten hat es wenig Bedeutung, ob er beim Grenzantritt kontrolliert wird, oder ein paar Wochen später in einem Flüchtlingslager, wenn seine Niederlassungs- und Arbeitsfreiheit in beiden Fällen eingeschränkt wird.

Weder sind Grenzen offen, wenn sie nicht unmittelbar kontrolliert werden, noch bedingen offene Grenzen die Abwesenheit von Grenzkontrollen. Tatsächlich wird kein Verfechter offener Grenzen ein Problem damit haben, Terroristen, Kriminelle oder Übermittler von Seuchen an der Grenze abzuweisen oder ihre Niederlassungsfreiheit einzuschränken. Einige Verfechter offener Grenzen würden sogar so weit gehen, an dieser Stelle die Ablehnung von Individuen rein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit (etwa ihrer Nationalität) zuzulassen – wenn dafür sehr triftige Gründe bestehen.

„Menschen könnten dauerhaft in Deutschland leben, ohne uneingeschränkt am Sozialsystem teilzuhaben.“

Ein Einwand könnte lauten, dass ohne Grenzkontrollen die illegale Einwanderung jederzeit möglich wäre, was in letzter Konsequenz offenen Grenzen gleichkäme. Doch das ist ein Fehlschluss. Das Leben als illegaler Einwanderer in Deutschland ist nicht das Leben, das einem Menschen mit dem Recht auf Niederlassungsfreiheit zukommt. Es bedeutet unter anderem, das Rechtssystem kaum in Anspruch nehmen zu können und auf den Schattenarbeitsmarkt beschränkt zu sein.

Hätte Deutschland tatsächlich offene Grenzen, so wäre jeder Mensch, unabhängig vom Ort seiner Geburt in der Lage, ein Visum für die legale Einreise nach Deutschland zu erhalten, hier eine Arbeit zu suchen und sein Leben auf deutschem Territorium zu gestalten. Er wäre nicht von der Prüfung durch Asylbehörden abhängig oder dazu verpflichtet, bestimmte Qualifikationen oder einen Arbeitsvertrag vorzuweisen.

Ob er ein Staatsbürger werden könnte, das Wahlrecht erhält, am Sozialstaat partizipiert – all dies berührt nicht die Frage, ob er Niederlassungsfreiheit genießt. Schon heute können sich viele Menschen dauerhaft in Deutschland aufhalten, ohne die Staatsbürgerschaft zu halten. Schon heute können sich viele Menschen in Deutschland aufhalten, ohne an Wahlen teilzunehmen. Dass Menschen dauerhaft in Deutschland leben könnten, ohne uneingeschränkt am Sozialsystem teilzuhaben, erfordert nicht viel Vorstellungskraft.

Wie immer man auch die Realisierbarkeit von offenen Grenzen in der heutigen Welt einschätzen mag – darüber lässt sich trefflich streiten -, es erfordert ein gehöriges Maß an Blindheit, Verdrängung oder Unehrlichkeit, im Status Quo auch nur annähernd offene Grenzen zu sehen.

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