12.05.2022
Kampf um Twitter
Von Thilo Spahl
Wenn Elon Musk auf Twitter mehr Meinungsfreiheit durchsetzen will, wird das schwer. Einen Versuch ist es wert.
Nach der Bekanntgabe der Übernahme von Twitter durch Elon Musk, schrieb dieser: „Ich hoffe, dass selbst meine schlimmsten Kritiker auf Twitter bleiben, denn das ist es, was Redefreiheit bedeutet". Die Einladung wurde nicht sehr freundlich aufgenommen. Das Geschrei war groß. Denn angeblich ist der Versuch, weniger zu löschen, zu sperren, zu warnen und zu shadowbannen in „Wirklichkeit“ ein Angriff auf die Meinungsfreiheit.
Die „Logik“ ist folgende: Wenn andere frei reden dürfen, dann können wir es nicht mehr. Denn dann ist es für uns viel zu gefährlich auf Twitter, weil wir dort Verletzungen ausgesetzt sein könnten. Wir müssen in Angst leben, weil jederzeit jemand etwas Böses zu uns sagen könnte. Bildlich: Einige StudentInnen sitzen im Café und unterhalten sich. Plötzlich kommen drei Rocker herein und setzen sich an den Tisch. Das kann doch wirklich jeder verstehen, dass sie sich nun nicht mehr so frei und ungezwungen unterhalten können wie zuvor.
Aber Twitter ist kein Café. Auf Twitter kann man die eine Hälfte des Tisches mit einem Klick so effektiv abtrennen, dass sie sich sofort in einem anderen Universum befindet. Wer auf Twitter Angst vor verbalen(!) Verletzungen hat, kann diesen mühelos entgehen. Er liest sie einfach nicht. Und wenn man versehentlich einmal etwas Schlimmes zu sehen bekommt, dann blockt man den Verfasser, und Twitter sorgt dafür, dass es nicht mehr vorkommt. Twitter sorgt dafür, dass diese Person aus meinem Leben verschwindet.
Zensur und die Wahrheit des Narrativs
Die umfangreiche Etablierung staatlich erwünschter oder angeordneter und privat exekutierter Zensurmaßnahmen in den sozialen Medien sorgt nicht dafür, dass die Welt besser wird. Das Anprangern, Sperren und Löschen dient nur dazu, dass sich ein paar Leute gegenseitig ihrer moralischen Überlegenheit im gemeinsamen „Kampf gegen X“ versichern und ihre Macht genießen können.
Für diese allzu leicht erringbaren Siege zahlen indes auch die Diskurswächter, zu denen viele etablierte Medien zählen, einen Preis. Sie müssen sich eine Selbstzensur auferlegen. Sie müssen sich geradezu sklavisch an das jeweils geltende Narrativ halten, um sich bloß nicht dem Vorwurf auszusetzen, von „Schwurblern“ unterwandert zu sein. Kritischen Fragen, Fakten, die nicht zur großen Erzählung passen, provokanten Meinungen oder den Diskurs experimentell erweiternden Spekulationen darf keine „Bühne geboten“ werden. Je mehr man den „Schmutz“ da draußen im Internet als Gefahr stilisiert, desto größer der Hygienefimmel in den Redaktionen.
Hinzu kommt, dass sie trotz der vielfältigen Kollateralschaden ihr vorgebliches Ziel, die Unterdrückung des Bösen, nicht erreichen können. Das wichtigste Argument gegen Zensur ist altbekannt: Das Zensieren schlechter Ideen lässt diese nicht verschwinden, sondern verleiht ihnen einen Glanz, den sie oft nicht verdienen. So dient die Zensur paradoxerweise dazu, Verfechter absurder Ideen darin zu bestärken, dass sie recht haben müssen – sonst bräuchte man sie ja nicht zu zensieren.
So ist eine gefährliche Mischung entstanden. Die gesunde Meinungsvielfalt einer funktionierenden Öffentlichkeit droht, im Kampf zwischen linientreuen, zensurgeilen Diskurswächtern auf der einen und ein paar Spinnern und Hasspredigern auf der anderen Seite zerrieben zu werden. Man kann es allerdings auch positiv sehen. Wir beobachten eine Öffnung des Denkens: Immer mehr Menschen machen sich – erfreulicherweise – außerhalb des ideologisch vermauerten, zensorischen Mainstreams auf die Suche. Sie können in den sozialen Medien auf interessante Fakten, brillante Analysen und anregende Debatten stoßen. Wir beobachten aber auch eine Vernagelung des Denkens: bei denen, die Angst haben, den Mainstream zu verlassen. Und bei jenen, die bei abstrusen Erzählungen und hässlichen ideologischen Gebilden Zuflucht finden, deren Verfechter nicht zuletzt daraus Legitimation ziehen, dass sie zu Recht behaupten können, unterdrückt zu werden.
„Ein unzensiertes Internet ist den Hygienebürgern ein Graus. Überall lauern Behauptungen, die schwächere Menschen als man selbst, zum Bösen verführen könnten."
Bei einigen weltanschaulich eher einfach gestrickten Menschen führt der Kulturkampf tatsächlich zu veritabler Angst vor „gefährlichen“ Meinungen. Ein unzensiertes Internet ist den Hygienebürgern ein Graus. Überall lauern Behauptungen, die schwächere Menschen als man selbst, zum Bösen verführen könnten. Deshalb ist diesen Damen und Herren das Warnen so wichtig. Im Gedankengut eines jeden Internetschreiberlings, der nicht korrekt gendert, sich auf seinem Twitteraccount mit unbemaskten Porträtbild und ohne EU- oder Regenbogenfahne präsentiert und womöglich sogar die Nennung seiner Pronomen mutwillig unterlässt, muss letztlich mit Rassismus, Sexismus, Nationalismus etc. pp gerechnet werden. Darf man so einem folgen? Oder sollte man ihn am besten sicherheitshalber gleich blocken? Nun ja, natürlich muss man ihm nicht folgen. Und jederzeit kann man jeden, dessen Äußerungen man als Zumutung, als Beleidigung, als Bedrohung oder als lästigen Blödsinn empfindet, blocken.
Aber! Wie gesagt: Nicht jeder ist so gefestigt in seinen Ansichten wie man selbst. Die Menschen sind schwach und können verführt werden. Deshalb braucht es ein System von Mechanismen, vom Shadowbanning bis zur persönlichen Diffamierung Andersdenkender, die unabdingbar sind, um den Prozess der Meinungsbildung im Internet zu „moderieren“. Und deshalb ist Elon Musk der Feind. Da hilft dann auch die Rettung der Welt per Elektroauto nicht mehr.
Warum ist dem so? Sehen wir einmal von Europa ab, das zum großen Teil ohnehin keine starke Tradition der Meinungsfreiheit hat, und blicken wir auf die Führungsnation der freien Welt, in deren Verfassung das 1791 verabschiedete First Amendment den Wert der freien Rede zum Ausdruck bringt, der in den USA lange kulturprägend war. Warum werden Verfechter der freien Rede wie Elon Musk heute in den USA so vehement angegriffen?
Der Donald-Effekt
Der britische Journalist Tom Slater schreibt: „Es ist bemerkenswert, dass diese philosophische Abkehr von der Meinungsfreiheit, die in der akademischen Welt schon seit einiger Zeit zu beobachten war, 2016 plötzlich zum Mainstream wurde – nachdem ein gewisser Jemand Präsident wurde und die Eliten der Küstenregionen nach Antworten darauf suchten, warum sich die Wähler, die sie zuvor entweder ignoriert oder als Rassisten verleumdet hatten, plötzlich gegen sie gestellt hatten.“
Bekanntlich wurde dieser gewisse Jemand in der Folge zu einem der eifrigsten Twitterer, bis das private Unternehmen es am 8. Januar 2021 für angebracht hielt, seinen Account zu löschen und so mit folgenden Worten zum Ausdruck zu bringen, dass heute sogar die freie Meinungsäußerung des im Amt befindlichen „Leader of the Free World“ als nicht akzeptable Bedrohung eingestuft werden kann: „Nach eingehender Prüfung der jüngsten Tweets des @realDonaldTrump-Accounts und des Kontextes, in dem sie stehen – insbesondere wie sie auf und außerhalb von Twitter aufgenommen und interpretiert werden – haben wir den Account aufgrund des Risikos einer weiteren Aufstachelung zur Gewalt dauerhaft gesperrt.“
So wie es hier formuliert wurde, sehen viele das „Recht“ auf freie Meinungsäußerung. Es ist nur dann zu gewähren, wenn die, die darüber entscheiden, die mutmaßliche Interpretation des Gesagten (oder auch noch nicht Gesagten) durch Dritte für unproblematisch halten.
Interessant ist in diesem Zusammenhang der Wortlaut der beiden Tweets von Donald Trump, die zur Löschung des Accounts geführt haben, und die Textexegese von Twitter.
Der erste Tweet lautete: „Die 75.000.000 großen amerikanischen Patrioten, die für mich, AMERICA FIRST und MAKE AMERICA GREAT AGAIN gestimmt haben, werden auch in Zukunft eine RIESENSTIMME haben. Sie werden nicht respektlos oder unfair behandelt werden, in keiner Weise, Form oder Gestalt!!!"
Der zweite, kurz darauf gepostete, lautete: „An alle, die gefragt haben: Ich werde nicht zur Amtseinführung am 20. Januar gehen."
Diese Äußerungen als Aufruf zur Gewalt zu werten, bedarf offensichtlich einer erheblichen Interpretationsleistung, die bei Interesse hier nachvollzogen (oder auch nicht nachvollzogen) werden kann.
Dass Trump inzwischen seine eigene Plattform, Truth Social, gegründet hat, kommentiert Elon Musk zutreffend: „Truth Social (terrible name) exists because Twitter censored free speech.”
Am 27. April schreibt Musk: „Damit Twitter das Vertrauen der Öffentlichkeit verdient, muss es politisch neutral sein, was bedeutet, dass es die extreme Rechte und die extreme Linke gleichermaßen verärgert.“
Er sagt recht klar, dass sich Eingriffe durch Plattformbetreiber auf illegale Inhalte beschränken sollten: „Unter ‚freier Meinungsäußerung' verstehe ich einfach das, was dem Gesetz entspricht. Ich bin gegen eine Zensur, die weit über das Gesetz hinausgeht. Wenn die Menschen weniger Redefreiheit wollen, werden sie den Staat bitten, entsprechende Gesetze zu erlassen. Wenn man also über das Gesetz hinausgeht, ist das gegen den Willen des Volkes.“
Die mangelnde Bildung des Elon Musk
Die Journalistin Charlotte Alter erklärt uns in Time die für sie unverständliche, seltsame „Besessenheit“ von Elon Musk (und seinesgleichen) mit dem Thema Meinungsfreiheit: „Tech-Titanen haben oft ein anderes Verständnis von Sprache als der Rest der Welt, weil die meisten von ihnen als Ingenieure und nicht als Schriftsteller oder Leser ausgebildet wurden. Und eine fehlende geisteswissenschaftliche Ausbildung kann dazu führen, dass sie die sozialen und politischen Nuancen der Sprache weniger gut verstehen.“
Mit anderen Worten: Von jemandem, der nicht mindestens 6 Semester Political Correctness studiert hat, kann man nicht erwarten, dass er versteht, was echte Meinungsfreiheit bedeutet. Frau Alter verrät es uns. Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass man alles sagen darf, was nicht gesetzlich verboten ist. Es bedeutet, dass man alles sagen darf, was dem „liberal consensus on acceptable speech“ entspricht. Sinngemäß ins Deutsche übersetzt: alles, was Jan Böhmermann gut findet.
„lVon jemandem, der nicht mindestens 6 Semester Political Correctness studiert hat, kann man nicht erwarten, dass er versteht, was echte Meinungsfreiheit bedeutet."
Herr Böhmermann hat festgestellt, dass Herr Musk ein „reicher Wichser“ ist, und wünscht sich den „Aufbau einer paneuropäischen öffentlich-rechtlichen Körperschaft zur Substituierung der kritischen Kernfunktionalität von Twitter, damit Bürger*innen, Behörden, Institutionen, Unternehmen und Medien über einen freien öffentlichen Ort des digitalen Austauschs verfügen.“ Er wünscht sich also ein Behördentwitter, reguliert von einer Twitterbehörde.
Das klingt nach einer guten Idee. Natürlich könnten alle, die befürchten, dass Twitter für sie zu gefährlich wird, auf eine andere Plattform wechseln. Auf den von Herrn Böhmermann herbeigesehnten Behördentwitter oder auf das moderat gehypte Mastodon. Doch da würde es woken Twitternden schnell langweilig – aus Mangel an Leuten, die man als Rassisten, Sexisten und Schwurbler outen kann. Denn was macht der politisch korrekte Twitteraktivist am liebsten? Er fahndet nach Accounts mit fünfeinhalb Followern, auf denen er Gemeinheiten finden kann, die er dann, um die Welt davor zu warnen, an Zehntausende weiterverbreitet.
Die Angst der CEOs vor den Mitarbeitern
Die Frage ist, was Herr Musk bei Twitter erreichen kann. Dort herrscht offenbar unter den Mitarbeitern eine Kultur, in der Zensur als probates Mittel im Kulturkampf gegen den politischen Gegner betrachtet wird und in der jeder als politischer Gegner betrachtet wird, der in Sachen Wokeness nicht auf Linie ist. Ähnlich sieht es in den meisten Tech-Unternehmen aus. Der Investor David Sacks spricht von einer Epidemie der Rückgratlosigkeit in den Chefetagen der USA. Das obere Management, sagt er, werde in den Tech-Unternehmen regelmäßig von Beschäftigten herumgeschubst und erpresst. Was kann man dagegen tun? Sacks fragt sich im Gespräch mit Will Cain, wozu bei Twitter 8000 Leute beschäftigt sind. Kein Mensch weiß, was die dort alle tun. Er prognostiziert, dass 2000 bis 3000 locker reichen werden. Musk kann also seine Prinzipien durchsetzen, wie er es gewohnt ist, und wem es nicht passt, der kann gehen. Musk hat Twitter nicht gekauft, weil er irgendwo Geld versenken will, sondern weil er eine Vorstellung davon hat, welche Rolle Twitter als neutraler Marktplatz der Ideen spielen kann.
Er wird dafür einen Wert durchsetzen müssen, der wie kein anderer von der Managerkaste beschworen, aber fast gar nicht gelebt wird: Diversität. Twitter ist heute ein Paradebeispiel für fehlende Diversität. Die Belegschaft ist in Hinblick auf ihre Weltanschauung extrem homogen. Das kann man gut an den privaten Parteispenden sehen. Spenden von Twittermitarbeitern gehen zu 98,7 Prozent an die Demokraten. Noch einseitiger war nur Netflix. Und in den allermeisten Tech-Unternehmen sieht es ähnlich aus.
Abb. 1, Quelle: Vox.com (Zahlen von 2018)
Doch der Widerstand kommt nicht nur aus der eigenen Belegschaft. Zuletzt haben 26 NGOs einen Brief an große Unternehmen geschrieben, um sie aufzufordern, Druck auf Twitter auszuüben, um Musks „Free Speech“-Ambitionen zu unterdrücken.
In dem Brief wird gewarnt: „Musk beabsichtigt, diese Sicherheitsvorkehrungen auszuhebeln und Extremisten, die Desinformation, Hass und Belästigung verbreiten, ein Sprachrohr zu geben. Unter dem Deckmantel der ‚Redefreiheit' wird seine Vision marginalisierte Gemeinschaften zum Schweigen bringen und gefährden und das fragile Gefüge der Demokratie zerreißen.“ Die Adressaten werden aufgefordert, sich zu verpflichten, nur noch Werbung auf Twitter zu schalten, wenn alle Zensurmaßnahmen (im Brief bezeichnet als „grundlegende Normen für das Vertrauen in die Gemeinschaft und die Sicherheit“) bestehen bleiben.
Musk selbst antwortete auf den Brief, indem er fragte, wer die Aktion finanziere. Es sind, wie die Daily Mail berichtet, u.a. die Open Society Foundation von George Soros, NGOs, die von ehemaligen Mitarbeitern der Clinton- und Obama-Regierung gegründet wurden, wohlhabende Demokraten-Spender und ihre Familienstiftungen, Gewerkschaften sowie Regierungen europäischer Staaten.
Offenbar haben eine ganze Menge Leute Angst, dass Elon Musk es ernst meint mit der Meinungsfreiheit. Wollen wir hoffen, dass sie ihn richtig einschätzen.