28.02.2018

Innovationsfreude als Bluff

Von Alexander Horn

Titelbild

Foto: ICAPlants via WikiCommons / CC BY-SA 3.0

In der Forschung will Deutschland spitze sein. Solange Innovation aber in erster Linie als gesellschaftliches Risiko verstanden wird, sind wir weit von einer Vorreiterrolle entfernt.

Seit vielen Jahren propagiert der Verband der Chemischen Industrie (VCI) gemeinsam mit anderen europäischen Industrieverbänden und unterstützt vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ein „Innovationsprinzip“. Mit dieser Initiative zielen die Verbände in erster Linie auf die Regulierungspraxis in der EU. Dort sollen bei neuen Gesetzen in der „politischen Abwägung nicht nur die Risiken, sondern auch die Chancen durch Innovationen gesehen werden“, um dadurch die „Innovationsfähigkeit der Wirtschaft“ zu stärken.

Anfang 2016 nutzte der damalige Präsident des VCI, Marijin Dekkers, die Einladung Sigmar Gabriels zur Konferenz „Zukunftsperspektive Industrie 2030“, um diesen Wunsch näher zu erläutern. Dort erklärte er, dass die in Deutschland und Europa gängige Gesetzgebungspraxis auch Ausdruck einer risikoaversen Kultur sei, die durch das Vorsorgeprinzip Schlagseite habe. Um diese auszugleichen, sei eine Ergänzung durch einen „Ansatz zum Umgang mit Chancen“ notwendig. So soll das Innovationsprinzip nur ein kleiner Baustein eines dringend erforderlichen Kulturwandels hin zu einer „offenen Kultur für Innovationen“ sein.

Auf den ersten Blick scheint Dekkers mit seinen kritischen Anmerkungen in der Politik offene Türen einzurennen. So fordert auch die SPD in ihrem aktuellen Regierungsprogramm „mehr Bereitschaft für Innovationen“. Aus Angst, im internationalen Wettbewerb ins Hintertreffen zu geraten, hat die damalige Große Koalition bereits 2006 die mit hohen Fördergeldern dotierte High-Tech-Strategie ins Leben gerufen. Daraus hervorgegangen ist die Industrie 4.0-Initiative. Der Name ist Programm: Durch die Verschmelzung von industrieller Fertigung und Informationstechnologie will Deutschland zum Vorreiter der Vierten Industriellen Revolution werden.

„In Deutschland herrscht eine tief verwurzelte Abneigung gegenüber umwälzenden Erneuerungen.“

Zwischenzeitlich wurde das Ziel erreicht, die Forschungs- und Entwicklungsausgaben von Staat und Wirtschaft auf drei Prozent des BIP zu steigern. Noch vor der Bundestagswahl im letzten Jahr legten SPD und Union die Latte auf 3,5 Prozent hoch. Um dies zu erreichen, wollten CDU/CSU laut ihrem Regierungsprogramm in die lange, von großen Teilen der Industrie geforderte steuerliche Forschungsförderung einsteigen, während die SPD vor allem dem Mittelstand finanziell stärker unter die Arme greifen möchte, da dieser bei Forschungs- und Entwicklungsausgaben schwächelt. Zwar hat der ausgehandelte Koalitionsvertrag etwas andere Prioritäten gesetzt, aber auch so sind viele Fördermilliarden in Aussicht gestellt.

Innovationsmangel

Die hier zum Ausdruck gebrachte, schier überschäumende Innovationseuphorie, die noch dazu dem Glauben verfallen scheint, dass mehr Innovationen einfach mit mehr Fördergeldern zu kaufen wären, ist jedoch nur eine Kulisse. Sie verbirgt nicht nur einen dramatischen Rückgang von bedeutenden Innovationen, die in der Lage wären, den materiellen Wohlstand zu steigern. Hinzu kommt die von Dekkers angesprochene und inzwischen tief verwurzelte Abneigung gegenüber umwälzenden Neuerungen. Diese zuweilen sogar in offene Innovationsfeindlichkeit umschlagende Haltung wird obendrein von den meinungsführenden Schichten kontinuierlich gefördert.

In den Wirtschaftswissenschaften wurde der Innovationsbegriff maßgeblich durch den Ökonomen Joseph Schumpeter zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt. Schumpeter stellte einen kausalen Zusammenhang zwischen Produkt- und Prozessinnovationen und den daraus resultierenden Produktivitätssteigerungen her. Die Produktivitätssteigerungen bewirken, dass immer weniger menschliche Arbeit zur Herstellung einer Ware oder Dienstleitung benötigt wird. Diese wird dadurch günstiger und der allgemeine Wohlstand steigt. Die bessere Produktionsweise setzt sich durch und führt zu einer schöpferischen Zerstörung der nicht innovativen Unternehmen und mitunter ganzer Wirtschaftsbereiche. Aufgrund dieses Zusammenhangs ist zu erwarten, dass eine innovative Wirtschaft mehr oder weniger starke Fortschritte bei der Erhöhung der Arbeitsproduktivität macht.

Das ist in Deutschland jedoch nicht der Fall. Der jährliche Anstieg der Arbeitsproduktivität ist, wie auch in anderen entwickelten Volkswirtschaften, seit Jahrzehnten kontinuierlich rückläufig. Wie tiefgreifend das Problem tatsächlich ist, zeigt der Sachverständigenrat mit einer Analyse der westlichen Industrieländer. Alle untersuchten Länder verzeichneten nicht nur in den letzten knapp 20 Jahren erhebliche Rückgänge beim Anstieg der Arbeitsproduktivität, sondern schon seit Anfang der 1970er-Jahre. Damals lag die jährliche Steigerung in Frankreich, Spanien und Italien noch über der hohen deutschen Rate von fünf Prozent. Bis 2014 sackte sie in den USA, Japan, Deutschland, Frankreich und Großbritannien bei weiter rückläufiger Tendenz auf unter ein Prozent ab.1

„Wohlstandsgewinne aus Arbeit sind in den sozial schwächeren Schichten fast nur durch Überstunden oder Zweitjobs möglich“

Man kann diese Entwicklung unproblematisch finden. Der Sachverständigenrat verweist beruhigend darauf, dass Deutschland keinen „Sonderfall“ darstelle, denn „für nahezu alle großen Industrieländer war spätestens seit Anfang der 2000er-Jahre ein Rückgang beim Anstieg der Arbeitsproduktivität zu beobachten“. 2 Die Innovationsschwäche wird aber nicht dadurch besser, dass andere entwickelte Länder nicht innovativer sind und sich mit den gegenwärtig recht wettbewerbsfähig in Deutschland produzierten Gütern noch mancher Euro auf den Weltmärkten verdienen lässt.

Die Schwäche wird auch dadurch überdeckt, dass die Produktivitätsentwicklung zumindest in den Schwellen- und Entwicklungsländern einige Dynamik aufweist. Dies führt hierzulande zu einem Angebot günstiger importierter Waren und zu entsprechend niedrigeren Preisen. Besonders profitieren davon die Höherqualifizierten, deren Jobs nicht mit der Produktion in Niedriglohnländern in Wettbewerb stehen. Daher können sie trotz der geringen inländischen Arbeitsproduktivitätssteigerungen in der Regel noch steigende Reallöhne und -gehälter erzielen, also echte Wohlstandszuwächse.

Anders sieht es bei geringer qualifizierten Arbeitnehmern aus, die zwar ebenfalls von den niedrigen Preisen profitieren, aber andererseits direkter dem Wettbewerb mit den Niedriglohnregionen der Schwellen- und Entwicklungsländer und damit einem Lohndruck ausgesetzt sind. Diese sozialen Schichten spüren die Innovationsschwäche materiell am deutlichsten und mussten seit Anfang der 1990er-Jahre im Schnitt Reallohnverluste hinnehmen. Aufgrund der eben nicht von Innovationsdynamik geprägten Natur der Arbeitsmarktentwicklung können sich die Arbeitnehmer zudem kaum in höher qualifizierte Positionen hineinarbeiten. Wohlstandsgewinne aus Arbeit werden in den sozial schwächeren Schichten daher meist nur noch erreicht, indem sie überhaupt an Arbeit kommen, Überstunden leisten oder Zweitjobs annehmen.

Innovation wird limitiert

Die derartige materielle Abfederung der Mittelschicht hat einen schleichenden Paradigmenwechsel begünstigt. Da sie sich trotz des kontinuierlichen Rückgangs der Innovationsfähigkeit materiell immer besser stellt, kann sie Wohlstand auf einer breiteren Grundlage definieren. Die aus der rückläufigen Produktivitätssteigerung resultierende Wohlstandsstagnation trifft vor allem die sozial Schwächeren und wird daher eher achselzuckend hingenommen oder gar mit dem Verweis auf die aus niedrigem Wirtschaftswachstum resultierende nachhaltige Ressourceneinsparung begrüßt. Folgerichtig hat die Große Koalition bei ihrer Aktualisierung der High-Tech-Strategie 2014 bereits beteuert, sie setze auf einen „erweiterten Innovationsbegriff, der nicht nur technologische, sondern auch soziale Innovation umfasst“ und „die Gesellschaft als zentralen Akteur“ einsetze.3 Diese Erweiterung bedeutet jedoch die faktische Loslösung von der ursprünglichen Bedeutung von Innovation. Im Eckpunktepapier zur Forschungs- und Innovationsstrategie des CDU-geführten Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) vom Juli 2017 wird diese Abkehr noch deutlicher. Das Ministerium will „Forschung und Innovation zielgerichtet auf gesellschaftlichen Nutzen ausrichten: sicher, gesund und nachhaltig“.4

Dieser Paradigmenwechsel ist auch auf der Ebene der EU erkennbar. Die Lissabon Strategie aus dem Jahr 2000 zielte noch auf wirtschaftliches Wachstum ab, um die EU zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Das zehn Jahre später formulierte Wirtschaftsprogramm Europa 2020 knüpfte Bedingungen an die wirtschaftliche Entwicklung, denn es gehe nun um „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“.

Wachstum, Innovation und Forschung sollen offenbar nicht mehr darauf ausgerichtet sein, den materiellen Wohlstand zu steigern, sondern in erster Linie eher weiche Ziele wie Nachhaltigkeit, Sicherheit, Inklusion, Glück oder soziale Gerechtigkeit gewährleisten. Dadurch stehen Innovationen inzwischen unter diversen Vorbehalten, die diesen einen veränderten und vor allem limitierenden Rahmen setzen.

„Innovationen, die es verdienen, so bezeichnet zu werden, sind notwendigerweise disruptiv.“

Dies führt dazu, dass Entwicklungen als innovativ angesehen werden, die nichts mit der ursprünglichen Bedeutung des Wortes zu tun haben oder sogar das Gegenteil von Innovation sind. Wegweisend ist in dieser Hinsicht auch ein Zehn-Punkte-Plan des SPD-geführten Wirtschaftsministeriums für „inklusives Wachstum“ mit Blick auf den digitalen Wandel. Das Ministerium fordert hier explizit „Transformation statt Disruption“. Disruption, also den Einsatz revolutionärer Technologien, die für bestehende Geschäftsmodelle und ganze Branchen das Aus bedeuten könnten, wird abgelehnt. Innovationen, die es verdienen, so bezeichnet zu werden, sind jedoch notwendigerweise disruptiv, denn sie ersetzen oder verbessern bisherige Produkte oder Prozesse und bieten den Anwendern so deutliche Vorteile, dass sich diese Innovationen durchsetzen und anderes verdrängen. Ist dies nicht der Fall, handelt es sich nicht um eine Innovation im klassischen Sinn. Die ängstliche Ablehnung von Disruption kommt daher dem Verzicht auf die wohlstandsteigernde Kraft von echten Produktivitätssprüngen gleich.

CSR als Innovationsfeind

Dem gewandelten Innovationsbegriff liegt eine innovationsfeindliche Haltung zugrunde. Diese zeigt sich auch an den Erwartungen an die Unternehmen. Deren nützliche Funktion bei der Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstands steht heute nicht mehr im Zentrum. Stattdessen sollen sich die Unternehmen als moralische Institutionen beweisen. Es gilt heute als selbstverständlich, dass Unternehmen neben wirtschaftlichen Interessen auch soziale und ökologische Ziele verfolgen und somit ihrer sozialen Verantwortung, neudeutsch Corporate Social Responsibility (CSR), nachkommen.

Das Paradigma des Adam Smith, wonach die Unternehmer in einer marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft mit ihrem Interesse an größtmöglichem Gewinn eine objektiv im Interesse der gesamten Gesellschaft liegende Aufgabe wahrnehmen, gilt durch die Moralisierung der Unternehmen nicht mehr. Diese Moralisierung führt auch dazu, dass das von Smith als legitim und funktional im Sinne der Marktwirtschaft angesehene Gewinnstreben heute vielfach als schädlich betrachtet wird. Gewinnstreben wird daher sehr negativ konnotiert und als Gier ausgelegt. Diese Gier wird gerne dafür verantwortlich gemacht, dass Unternehmen vermeintlich zu hohe Risiken eingehen.

So entstehen vielfältige neue Angriffsflächen, an denen in die Autonomie der Unternehmen eingegriffen wird. Im Bestreben, die „gesellschaftliche Verantwortung“ der Unternehmen notfalls zu erzwingen, legt der Gesetzgeber etwa Vergütungsregeln für Top-Manager fest, definiert Quoten für den Frauenanteil in den Chefetagen und macht den Unternehmen Vorschriften, wie eine diskriminierungsfreie Jobvergabe zu erfolgen hat. Indem die Unternehmen tun, was sich zu gehören scheint, und sich selbst zu Vorreitern sozialer Verantwortung erklären, liefern sie sich auch dem Druck derer aus, die für sich beanspruchen, definieren zu können, was im Einzelfall unter sozialer Verantwortung zu verstehen ist. Dadurch sind Kampagnenorganisationen gegenüber den eben doch profitgetriebenen Unternehmen in einer überlegenen moralischen Position und agieren in vielen Fragen inzwischen als heimliche Unternehmenslenker.

„Viele Unternehmen kooperieren mit ihren ärgsten Kritikern, was die problematischen Trends weiter vorantreibt.“

Die Überfrachtung der Unternehmen mit sozialer Verantwortung reicht viel weiter als die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben. Dies hat dazu beigetragen, dass sie in einem politischen Umfeld, in dem Stabilität und Risikovermeidung die wichtigsten Ziele sind, als wahrhafte Risikoschleudern wahrgenommen werden. In der öffentlichen Diskussion erscheinen sie kaum mehr als Wohlstandsproduzenten, sondern aufgrund ihres existenziellen Gewinnstrebens als Produzenten von Umwelt- und Gesundheits- oder auch sozialen Risiken. Den Unternehmen bleibt wenig anderes übrig, als sich diesen regulatorischen und kulturellen Trends anzupassen. CSR ist inzwischen ein zentraler Aspekt der Unternehmenskommunikation geworden. Viele Unternehmen kooperieren mit ihren ärgsten Kritikern, um Reputationsrisiken zu minimieren, was die problematischen Trends weiter vorantreibt.

Mit seinem Hinweis auf „kulturelle Prägungen“ in Deutschland und Europa, die einer innovationsfreundlichen gesellschaftlichen Stimmung entgegenstehen, impliziert Dekkers, dass wir die Aversion gegenüber großen, innovationsgetriebenen Veränderungen gar nicht mehr bewusst wahrnehmen, da wir sie längst verinnerlicht haben. Tatsächlich nimmt das Vertrauen, dass wir Veränderungen meistern, Risiken beherrschen und Hürden überwinden können, seit Jahrzehnten stetig ab. Entsprechend gering ist die Neigung, vermeintlich stabile Verhältnisse gegen die Ungewissheit technologiegetriebener Veränderungen zu tauschen. Diese Grundstimmung beeinflusst unser tägliches Handeln, aber auch unser politisches Denken. Wir glauben nicht mehr wie die Humanisten der Aufklärung an das kreative Potenzial der Menschheit. Stattdessen dominiert ein Risiko- und Grenzendenken, bei dem Vorsorgeprinzip und Nachhaltigkeit ins Zentrum gerückt sind.

Da diese politische Kultur und das Denken und Handeln der relevanten Akteure in Politik, Staat, Wirtschaft und Medien darauf ausgerichtet sind, Risiken und disruptive Veränderungen möglichst zu vermeiden, ist es kein Wunder, dass den Unternehmen die Lust am Forschen, Entwickeln und Innovieren einigermaßen vergangen ist. So wird die steigende staatliche Förderung von Forschung und Innovation wohl den F&E-Anteil am BIP weiter nach oben treiben. Dies ist jedoch nur Augenwischerei, denn dies läuft darauf hinaus, eine Kennzahl hinzubiegen, ohne das zugrundeliegende Problem zu lösen. Dringend erforderlich wäre eine Kehrtwende. Eine Kulturwende hin zu einer Risikokultur, die disruptive Innovationen begrüßt und nicht behindert. Die öffentliche Auseinandersetzung um das Innovationsprinzip könnte dazu einen Beitrag leisten.

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