16.08.2017

Soziale Gerechtigkeit ersetzt sozialen Wandel

Essay von Alexander Horn

Titelbild

Foto: 3dman_eu via Pixabay / CC0

Soziale Gerechtigkeit ist ein beliebtes Wahlkampfthema und verspricht Gleichheit. Dabei steht sie dem Ziel entgegen, für alle mehr Wohlstand zu schaffen

Es hätte nicht der Ernennung von Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten bedurft, um die soziale Gerechtigkeit im anstehenden Wahlkampf und darüber hinaus zu einem dominierenden Thema zu machen. Seit die Union das Thema vor einigen Jahren für sich entdeckt hat, liefern sich die Regierungsparteien einen Wettstreit um die Deutungshoheit in Gerechtigkeitsfragen. Da soziale Gerechtigkeit ein äußerst flexibel interpretierbares Konzept ist, wird sie nach diversen Reformen der laufenden Legislaturperiode auch zukünftigen Regierungen beinahe beliebige Betätigungsfelder eröffnen.

Auch Grüne und Linke besetzen das Thema, so dass Union und SPD von dieser Seite unter permanentem Druck stehen. Entscheidend für die Beliebtheit des Themas in den etablierten Parteien ist Folgendes: Die Idee der „sozialen Gerechtigkeit“ hilft der vorherrschenden, auf bloßes Verwalten der bestehenden Verhältnisse ausgerichteten Politik, die Erwartungshaltungen hinsichtlich einer deutlichen Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen für breite Gesellschaftsschichten klein zu halten. Dabei nützen viele Maßnahmen, die unter dem Label soziale Gerechtigkeit verkauft werden, überhaupt nicht den Armen, sondern eher der Mittelschicht. Auch könnte sich das, was wir heute als soziale Gerechtigkeit bezeichnen, als Wachstumshemmer bei der Generierung neuen Wohlstands erweisen. Aber der Reihe nach.

„Kritik gegenüber ‚ungezügeltem‘ Wirtschaftswachstum gehört zu den Themen, die von Meinungsführern in Politik und Wirtschaft selbst angetrieben werden.“

Soziale Gerechtigkeit gegen die gesellschaftliche Spaltung?

Große Relevanz erhält die soziale Gerechtigkeit durch die verbreitete Einschätzung, dass es in den entwickelten Volkswirtschaften zu einer Entkoppelung von wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung gekommen sei. Trotz vielleicht sogar realer Verbesserungen für die Ärmeren würden sich die sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich zu Lasten der Armen dennoch vergrößern. Die Vermutung dieser Entkoppelung ist ein starkes Motiv der Befürworter von mehr sozialer Gerechtigkeit. Aber auch ohne diese These zu teilen, befürworten viele das Bestreben einen größeren, sozialen Ausgleich zu schaffen, und sei es auch nur zwischen verschiedenen sozialen Gruppen wie etwa zwischen Jung und Alt.

In der Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit drückt sich auch die in Wirtschaft und Politik vorhandene Besorgnis aus, dass gefühlte oder tatsächlich zunehmende soziale Unterschiede den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden könnten. Das unerwartete Ergebnis der US-Wahlen und der Brexit gelten als Beleg für die fortgeschrittene, soziale Spaltung. In Deutschland drückt sich die von den gesellschaftlichen Eliten ausgehende Angst vor sozialer Spaltung vor allem in der Befürchtung aus, die Zustimmung zur sozialen Marktwirtschaft könne in Teilen der Bevölkerung verloren gehen. Daher gehört auch die Kritik an hochbezahlten oder gierigen Bankern und Top-Managern wie auch die Skepsis gegenüber „ungezügeltem“ Wirtschaftswachstum und einer „ungezähmten“ Globalisierung zu den Themen, die von Meinungsführern in Politik und Wirtschaft selbst angetrieben werden.

Obwohl der Blick auf die Ärmsten also eine gewisse Bedeutung in der Diskussion hat, dreht sie sich doch im Wesentlichen um Themen der Mittelklasse, wie ein früheres Renteneintrittsalter oder die Mütterrente. Dabei, so der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, Georg Cremer, „besteht die Gefahr, dass die Belange der Armen rhetorisch missbraucht werden“ 1, wie es sich bei der Rentendiskussion abzeichne. Zwar sei es legitim, über die Höhe des Rentenniveaus zu streiten, aber es sei unredlich, dies mit dem Kampf gegen die Altersarmut zu begründen, da ein höheres Rentenniveau bei den Betroffenen in der Regel nicht ankomme.

Betrachtet man die Initiativen der laufenden Regierungsperiode, so zeigt sich genau diese Unaufrichtigkeit. Die teuren Reformen zielten nicht darauf ab, einen besseren sozialen Ausgleich zwischen Arm und Reich zu erzielen, sondern bedienten Ängste und Gerechtigkeitsempfinden der Mittelklasse. So gibt die Rente mit 63 vor allem Besserverdienenden die Möglichkeit, früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, da diese leichter mit der Rente zurechtkommen als diejenigen, die nur dürftige Alterseinkommen beziehen (also gerade auch Arbeitnehmer in körperlich anstrengenden, aber in der Regel eher schlecht bezahlten Berufen).

„Am Konzept der sozialen Gerechtigkeit ist problematisch, dass die Maßnahmen nicht die Ursachen sozialer Schieflagen aus der Welt schaffen, sondern notdürftig an den Symptomen herumdoktern.“

Auch die Mütterrente hat nicht darauf abgezielt, die Renten derjenigen anzuheben, die im Rentenalter von Armut betroffen sind. Gerade jene Mütter, die zu den drei Prozent der Rentner gehören, die wegen ihrer niedrigen Rente auf Sozialhilfe angewiesen sind, werden durch die berücksichtigten Erziehungszeiten in der Regel keinen Cent mehr erhalten. Zwar wurden diese Reformen jeweils in einen politischen Begründungszusammenhang gesetzt, der sie als „sozial gerechte“ Maßnahme im Sinne einer Umverteilung zu Gunsten der Ärmsten verkauft, tatsächlich wird aber eher ein Umverteilungseffekt zu Gunsten der Mittelklasse erzielt.

Dieser Eindruck verfestigt sich vor dem Hintergrund, dass es heutigen Rentnern materiell durchschnittlich deutlich besser geht als der arbeitenden Bevölkerung. Während vor den Reformen knapp zehn Prozent der Gesamtbevölkerung auf soziale Mindestsicherung angewiesen waren, lag die Quote bei den Rentnern in den letzten Jahren recht stabil bei nur drei Prozent. Während also auch die Niedrigverdiener durch bewusst hoch gehaltene Beiträge zur Rentenversicherung die Zeche zahlen, fließen Milliarden den vermeintlichen Opfern sozialer Gerechtigkeit zu. 2

Symptomtherapie statt Ursachenbekämpfung

Am Konzept der sozialen Gerechtigkeit ist weiterhin problematisch, dass die so begründeten Maßnahmen nicht die Ursachen sozialer Not- und Schieflagen möglichst aus der Welt schaffen, sondern sie lediglich verwalten oder notdürftig an den Symptomen herumdoktern. So wird der vor 2015 von der Großen Koalition eingeführte Mindestlohn gerne als Meilenstein der Gerechtigkeitsagenda gefeiert. Mit dessen Einführung verabschiedete man sich jedoch gleichzeitig auch weitgehend von der Aufgabe, den Niedriglohnsektor – der sich seit den 1990er Jahren in Deutschland fest etabliert hat und damals eine wichtige Rolle bei der Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gespielt hat – wieder abzubauen. Stattdessen wird die Reformagenda in eine Richtung entwickelt, die einen Niedriglohnsektor als gegeben hinnimmt.

„Anstatt die Menschen als lebenslange Sozialfälle zu behandeln, sollte die Frage ins Zentrum rücken, wie sie auskömmliche Verdienste erreichen.“

So ist im Zuge der Rentendiskussion deutlich geworden, dass der von der Koalition eingeführte Mindestlohn längst nicht ausreicht, um eine auskömmliche Rente zu generieren. Selbst jemand, der 45 Jahre lang den Mindestlohn bezieht, erzielt keine Rente oberhalb der im Sozialrecht garantierten Mindestsicherung im Alter. Aus dieser Erkenntnis wurde ein Begründungszusammenhang für die sogenannte Lebensleistungs- oder Solidarrente entwickelt. Menschen, die lebenslang im Niedriglohnsegment arbeiten, sollten immerhin eine Rente oberhalb der Sozialhilfe erhalten. Da also die durch den Mindestlohn politisch sanktionierten Niedriglöhne die betroffenen Menschen direkt in die Sozialhilfe führen, erarbeitet man eine Rentenform, die wiederum dieses Armutsproblem vermeintlich noch besser verwaltet als dies heute mit der Sozialhilfe geschieht.

Anstatt aber die Menschen als lebenslange Sozialfälle zu behandeln, sollte verantwortungsvolle Wirtschafts- und Sozialpolitik eher die Frage ins Zentrum rücken, wie die Menschen auskömmliche Verdienste erreichen und somit Notlagen verhindert werden können. Letztlich wird mit dieser Herangehensweise sogar das dauerhafte Verbleiben von Menschen im Niedriglohnbereich nicht nur materiell, sondern auch ideologisch zementiert, denn sie wird als legitime Erscheinung einer sozial gerechten Gesellschaft hingenommen.

Hier zeigt sich auch, wie wenig ambitioniert wir hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsfähigkeit unserer Gesellschaft geworden sind. Denn letztlich sind auch in dieser aktuellen „Boomphase“ immer noch mehr als 2,5 Millionen Menschen ohne Job (die Zahl liegt sogar deutlich höher, wenn man die „Unterbeschäftigten“ dazu zählt). So werden dynamische Entwicklungen – wie etwa eine immer noch vorhandene, wenn auch gegenüber der Jahrtausendwende abgeschwächte Aufwärtsmobilität – kaum wahrgenommen. Aktuelle Untersuchungen des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft zeigen, dass die Niedriglöhne für viele Beschäftigte nur Einstiegslöhne sind und es viele Menschen nicht nur schaffen, das Niedriglohnsegment zu verlassen, sondern mit ihrer beruflichen Entwicklung auch sozial aufzusteigen. Der Untersuchung zufolge steigen von den etwa 13 Millionen Menschen, die in Deutschland in relativ armen Verhältnissen leben (mit einem Einkommen von weniger als 60 Prozent des gesellschaftlichen Mittelwerts), innerhalb eines Jahres mehr als ein Drittel in eine höhere Einkommensschicht auf. 3

Entwicklungspessimismus und inklusives Wachstum

Der Fokus der politischen Auseinandersetzung auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit fördert eine pessimistische Perspektive hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklungspotenziale, aber auch der Fähigkeiten von Individuen, mit Veränderungsprozessen klar zu kommen. Im Vordergrund steht der staatlich gewährte Schutz vor ökonomischen und existenziellen Risiken, der die Unsicherheiten auffangen soll, die mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen verbunden sind. Dabei verändert sich auch das Verhältnis zwischen Staat und Individuum durch die Ausweitung rechtlicher Eingriffe. Die Ausweitung von Ansprüchen und Rechten sowie die Umverteilung treten in den Vordergrund, die Frage nach der Generierung neuen Wohlstands verliert an Bedeutung.

„Dabei ist schon jetzt eine Tendenz erkennbar, Macht und Wirkung administrativer Eingriffe zur Veränderung der sozialen Realität massiv zu überschätzen.“

Ist die Gerechtigkeitsdiskussion schon kein Merkmal einer dem Wandel und den darin liegenden Chancen zugewandten Gesellschaft, so setzt der „neue Kurs“ des Wirtschaftsministeriums dieser problematischen Entwicklung die Krone auf. Das seit Januar von Brigitte Zypries (SPD) geführte Ministerium hat kürzlich in einem Zehn-Punkte-Plan deutlich Position bezogen. Die Einkommen in Deutschland seien im Vergleich zu den 1990er Jahren „zunehmend ungleich verteilt“. Während die mittleren und oberen Einkommen von 1991 bis 2014 in Deutschland stiegen, seien die unteren Einkommen sogar real gesunken. So spiegele sich der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands in der „Lebenswirklichkeit zahlreicher Menschen nicht wider“, was einen „neuen Kurs zugunsten breiter Teilhabe am Wohlstand“ erfordere. 4

Dieser neue Kurs des Wirtschaftsministeriums heißt „inklusives Wachstum“ und steht in Kontinuität mit dem im Januar von Amtsvorgänger Gabriel bereits unter diesem Titel vorgelegten Jahreswirtschaftsbericht. Die Herstellung sozialer Gerechtigkeit bleibt nicht mehr auf die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik und auf Umverteilung beschränkt. Auch in der Wirtschaftspolitik wird soziale Gerechtigkeit nun zur obersten Handlungsmaxime, der sich das wirtschaftliches Wachstum unterzuordnen hat.

Mit diesem neuen Kurs soll in diversen wirtschaftspolitischen Feldern umgesteuert werden. Dabei ist schon jetzt eine Tendenz erkennbar, Macht und Wirkung administrativer Eingriffe zur Veränderung der sozialen Realität massiv zu überschätzen. Dieses Denken hat sich bereits in der Debatte um die Einführung des Mindestlohns gezeigt. Wäre dieser nicht durch seine relativ moderate Höhe gut auf die realen Bedingungen am Arbeitsmarkt ausgerichtet gewesen, hätte er wahrscheinlich massive Arbeitsplatzverluste verursacht. Obgleich durch dessen Einführung viele Arbeitnehmer nun von höheren Löhnen profitieren, werden fundamentale Veränderungen im Niedriglohnbereich erst eintreten, wenn die betroffenen Menschen die Chance erhalten, in besser bezahlte Jobs mit vielleicht ganz anderen Aufgaben zu wechseln.

Auf einem relativ leergefegten Arbeitsmarkt könnte ein Mindestlohn deutlich angehoben werden, andererseits wäre er aber ebenso überflüssig. Dass der Mindestlohn so sehr gefeiert wird und sich auch das Wirtschaftsministerium im Rahmen des Zehn-Punkte-Plans vehement dafür stark macht, diesen in bestimmten Wirtschaftsbereichen nun höher anzusetzen, ist aus dieser Perspektive ein schlechtes Zeichen. Es dokumentiert die Orientierung der Politik an technokratischen Maßnahmen, die vergleichsweise leicht umzusetzen sind – zu Ungunsten einer auf sozialen und gesellschaftlichen Wandel ausgerichteten Perspektive.

„Nicht falsch ausgerichtetes Wirtschaftswachstum, sondern das zu geringe Wachstum behindert die allgemeine Wohlstandsentwicklung.“

Diese Haltung ist im Zehn-Punkte-Plan deutlich erkennbar. Mit einer Vielzahl regulatorischer Eingriffe rückt er sozialpolitische Ziele in den Vordergrund, die es zunächst zu erreichen gilt, damit sich daraus hoffentlich irgendwann auch Wachstumspotenziale ergeben. Es wird zwar postuliert, dass die Gleichheit unter den Menschen das Wirtschaftswachstum stärke. Der Erwartungshorizont ist allerdings extrem gering. Das Ministerium vermutet, dass dadurch das Bruttoninlandsprodukt um 50 Milliarden Euro und damit weniger als 2 Prozent zunehmen könnte. Der Wachstumseffekt auf mehrere Jahre ist so praktisch gleich Null. Der Wirkungszusammenhang zwischen mehr Gleichheit und Wirtschaftswachstum bleibt zudem vage. Völlig im Dunkeln bleibt etwa, warum die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen dem Wachstum förderlich sein soll. Vor lauter Bedingungen, die an das gewünschte Wachstum geknüpft werden, rückt das Wachstumsziel in den Hintergrund.

Wachstumsmodell in der Sackgasse

Hier wird ein grundlegender Denkfehler deutlich: Nicht falsch ausgerichtetes Wirtschaftswachstum, sondern das zu geringe Wachstum behindert die allgemeine Wohlstandsentwicklung und insbesondere die Chancen der Geringverdiener auf einen steigenden Lebensstandard. Dynamisches Wirtschaftswachstum wird im Wesentlichen durch Investitionen in Forschung, Entwicklung und Einführung neuer Produkte und Verfahren angetriebenen. Dabei verbessern Innovatoren die Arbeitsproduktivität, denn sie bieten neue oder verbesserte Produkte zu einem wettbewerblicheren Preis an. Der allgemeine Wohlstand steigt somit durch günstigere Preise oder aus einem anderen Blickwinkel betrachtet durch steigende Reallöhne (also Lohnsteigerungen, die oberhalb der Inflationsrate liegen). Zudem sorgt ein von Investitionen getriebenes Wachstum für zusätzliche Jobs und damit potenziell für bessere Verdienstmöglichkeiten.

Seit den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als steigender „Wohlstand für alle“ zur Selbstverständlichkeit wurde, ist das Wirtschaftswachstum in Deutschland jedoch kontinuierlich schwächer geworden. Der selbstgefällige Blick auf die „starke deutsche Wirtschaft“ vernebelt die Tatsache, dass Deutschland noch zur Jahrtausendwende als „kranker Mann Europas“ galt und sich vor allem durch Lohnzurückhaltung aus dieser Situation befreit hat. Die dadurch verbesserte Wettbewerbsfähigkeit hat neben anderen Faktoren den Export beflügelt, aber zu keiner Trendwende bei den schwachen inländischen Investitionen und bei den immer schwächer werdenden Produktivitätszuwächsen geführt.

Die Steigerungsraten der Arbeitsproduktivität – eine Kenngröße für die zur Herstellung eines Produktes aufgewendete, menschliche Arbeitszeit –, wie sie in den 1950er und 1960er Jahren die Regel waren, werden schon lange noch nicht mal mehr ansatzweise erreicht. Dies begrenzt jedoch das Potenzial für mögliche Wohlstandssteigerungen oder gar die Verringerung der Arbeitszeit. Das gefeierte und dennoch notorisch schwache Wirtschaftswachstum mit dem damit einhergehenden schwachen Arbeitsmarkt verbaut zudem vielen die Chance auf individuelle Aufwärtsmobilität. Die Menschen am unteren Ende der Qualifikations- und Verdienstskala spüren diese Entwicklung wesentlich stärker als die besser ausgebildeten und ohnehin vermögenderen Schichten.

„Scheinbar achselzuckend wird eine Entwicklung hingenommen, die möglicherweise wieder zu ‚alternativlosen‘ Rettungsaktionen führen wird.“

Die Defizite des deutschen Wachstumsmodells wie etwa die schwindsüchtigen Investitionen und die rückläufigen Produktivitätsverbesserungen werden seit langem durchaus registriert, problematisiert und mit diversen staatlichen Innovationsoffensiven angegangen. Da diese Therapie jedoch keine Heilung bringt, bleibt zur Stimulierung der Wirtschaft vor allem das Schuldenmachen, im Wesentlichen unter Nutzung der Finanzmärkte. So wird diese globale Verschuldungsdynamik vor allem von den Zentralbanken der entwickelten Volkswirtschaften zur Beatmung einer kraftlosen Wirtschaft vorangetrieben. Zwar mahnt auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) immer wieder, die Geldpolitik alleine könne die „wirtschaftlichen Probleme in der Welt nicht lösen.“ Da er selbst keinen in Gang gekommenen Problemlösungsprozess erkennen kann und da sich die Politik zu sehr auf die Geldpolitik verlässt, hält er es für „sicher, dass wir uns auf die nächste Blase zubewegen.“ 5

Scheinbar achselzuckend wird eine Entwicklung hingenommen, die möglicherweise wieder zu folgenschweren und „alternativlosen“ Rettungsaktionen führen wird. Die wirtschaftspolitische Verantwortung für das Krisenmanagement wird einstweilen weitgehend an technokratische Institutionen wie die EZB übertragen, die keinen eigenen wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum hat und formal nur für die Stabilität des Geldwertes zuständig ist. 6

Fazit

Vor diesem Hintergrund wird klarer, wieso die politischen Eliten sich so gerne mit „sozialer Gerechtigkeit“ beschäftigen. Anstatt die eigentlichen ökonomischen Herausforderungen entschlossen anzugehen, ziehen sie es vor, sich in einer Komfortzone technokratisch-verwaltenden Mikromanagements einzurichten. Da sie sich angesichts der zu bewältigenden Herausforderungen hilflos und ohnmächtig fühlen, erscheint die Option, auf ein lediglich oberflächliches und zudem bei vielen Wählern sehr populäres Umverteilungsmanagement im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten zu setzen, höchst attraktiv.

„Im Gerechtigkeitsdiskurs kommt eine sehr pessimistische Grundhaltung über die gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten zum Vorschein.“

Es passt in diesen Rahmen, dass sich das Wirtschaftsministerium in seinem Zehn-Punkte-Plan im Kapitel über den digitalen Wandel explizit gegen „Disruption“, also gegen Innovationen wendet, die alte Geschäftsmodelle und damit ganze Wirtschaftszweige zerstören könnten. Stattdessen setzt das Ministerium auf einen „politisch begleiteten und moderierten Prozess des digitalen Wandels“, also offenbar darauf, allzu innovative und gesellschaftsverändernde Ideen abwürgen zu können.

Zuversicht gegenüber den Chancen des technologischen Fortschritts sieht anders aus. Im gegenwärtigen Gerechtigkeitsdiskurs kommt eine sehr pessimistische Grundhaltung über die gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten zum Vorschein, die vor allem die Ängste der Eliten und der Mittelklasse bedient. Dies lenkt von einer schwächelnden Wirtschaft ab, die ihre Fähigkeit, den gesellschaftlichen Wohlstand zu steigern, weitgehend eingebüßt hat. Gerade im Jahr der Bundestagswahl müsste diese Entwicklung eigentlich Gegenstand kontroverser Debatten sein, aber die großen Parteien möchten diese Debatte nicht führen, weil sie sie als Kaiser ohne Kleider demaskieren würde.

Je länger sich diese Entwicklung fortsetzt, umso größer könnte der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit werden, da kaum neuer Wohlstand generiert, sondern nur noch vorhandener Wohlstand anders verteilt werden kann. Auch ist entgegen aller noblen Versprechungen der Umverteiler fest davon auszugehen, dass die Verteilungsrichtung von unten nach oben gehen wird.

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