30.10.2013

„Gesundessen“ als Glaubensbekenntnis

Analyse von Uwe Knop

Lobbyisten behaupten, vegetarische Kost könne Zivilisationskrankheiten verhindern und behandeln. Das sind unwissenschaftliche Mythen. Aber viele Menschen glauben daran. Am Besten sollte jeder einfach essen, worauf er Lust hat.

Wie würden seriöse Mediziner reagieren, wenn ein selbsternannter Ernährungsguru behauptete: „Meine Kostformen haben das Potenzial, die meisten Zivilisationskrankheiten zu verhindern. Darüber hinaus können sie erfolgreich bei deren Behandlung eingesetzt werden.“ Wenn jemand proklamiert, mit einer speziellen Ernährungsform Diabetes, Krebs oder Herzkreislauferkrankungen nicht nur zu verhindern, sondern sogar erfolgreich zu therapieren, dann würde er wohl als Scharlatan vom Hof gejagt – denn derartige Allheilversprechen sind alles andere als wissenschaftlich belegt. Das hält die Pflanzenkostlobbyisten des Vegetarierbunds Deutschland (VEBU) jedoch nicht davon ab, genau das von ihren vegetarischen Kostformen zu behaupten. [1] Glauben Sie nicht? Ist aber so.

In der Ernährungswissenschaft gilt ein Universalcredo: Nichts Genaues weiß man nicht. Und diese Erkenntnis ist systembedingt, weil die Ergebnisse der Essensforschung primär aus wissenschaftlich schwachen Beobachtungsstudien stammen – und diese epidemiologischen Untersuchungen können keine Beweise liefern, sondern ausschließlich statistische Zusammenhänge, die immer nur Vermutungen zulassen. Die Vorsitzende des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (DNEbM), Gabriele Meyer bringt es auf den Punkt: „Beobachtungsstudien sind nicht geeignet, präventive oder therapeutische Empfehlungen abzuleiten“. Und genau das gilt auch für alle Erkenntnisse rund um den „Gesundheitswert“ vegetarischer Ernährung. Fakt ist: Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis, dass der Fleischverzicht gesünder hält, Zivilisationskrankheiten vorbeugt, bessert oder gar das Leben verlängert. Solche Behauptungen lancieren Lobbyisten – wie jüngst eben der VEBU: „Vegetarische Kostformen haben das Potenzial, die meisten dieser Zivilisationskrankheiten zu verhindern. Darüber hinaus können sie erfolgreich bei deren Behandlung eingesetzt werden.“ [2] Auf Basis fehlender Fakten fällt das Fazit der ethisch motivierten Vegetarierin Meyer vom DNEbM entsprechend klar aus: „Es handelt sich hier um die gleichen Mythen und Märchen wie bei allen Ernährungsversprechen zur Gesundheit.“ Auch für Professor Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor / Chefarzt der Schön Klinik Roseneck und Experte für Essstörungen sind die VEBU-Versprechungen „wissenschaftlich nicht belegt und aus gegenwärtiger ökotrophologischer Sicht nicht dem Stand der Wissenschaft und Empfehlungen entsprechend. Es handelt es sich mehr um eine ideologische Aussage, die falsche Versprechen suggeriert.“

„Kein Mensch weiß, ob die marginal längere Lebensdauer auf den Fleischverzicht zurückzuführen ist oder auf das komplexe Zusammenspiel vieler anderer Lebensstilfaktoren.“

Doch woher nimmt der VEBU die Verve, solche „Wunderheilerfähigkeiten“ unters Volk zu bringen? Einige Beobachtungsstudien zeigen, dass Vegetarier länger leben oder weniger an Herzkreislauf-Erkrankungen leiden. Aber das heißt letztlich nichts – denn man muss stets berücksichtigen: Kein Mensch weiß, ob die marginal längere Lebensdauer auf den Fleischverzicht zurückzuführen ist oder auf das komplexe Zusammenspiel vieler anderer Lebensstilfaktoren wie „Nichtraucher, wenig Alkohol, keine Drogen, viel Sport, viel Schlaf, kein Trash-TV schauen, oft beten und beichten, wenig Stress und viel Entspannung“. Es könnten auch ganz andere, der Wissenschaft unbekannte Faktoren, sogenannte Confounder eine entscheidende Rolle spielen, weil sie keinem Forscher erzählt werden: Welche Rolle spielen beispielsweise spezielle Sexualpraktiken zur Steigerung der Fleischeslust als Kompensation des Fleischverzichts? Oder ganz banal: Nachtschicht, Ehekrach, Überlastung bei der Kindererziehung? Keiner weiß es.

Sag niemals nie – außer bei Beweisen für „gesunde“ Ernährung!

Wenn man einem rauchenden, dauergestressten Adipösen, der sich kaum bewegt, wenig und schlecht schläft, gerne dem Alkohol frönt, sexuell frustriert ist und zu viel TV schaut nun das Schnitzel vom Teller nimmt und dafür mehr Obst und Gemüse drauf legt – lassen sich damit dann seine (drohenden) Zivilisationskrankheiten „verhindern und erfolgreich behandeln“, wie der VEBU verspricht? Sicher nicht. Das geht nur, wenn sich die Betroffenen dafür entscheiden, ihren gesamten Lebensstil konsequent zu verändern. Und selbst dann gilt: Wie viel allein der Fleischverzicht zur Gesunderhaltung beiträgt, ist völlig unklar. Viceversa gilt: Wenn ein gesunder Vegetarier, der gemäß gesundheitsapostolischen Grundregeln vorbildlich lebt, nun jeden Tag eine Scheibe Salami oder Schinken und pro Woche zwei Schnitzel essen würde, würde er dann kränker? Sehr unwahrscheinlich, aber auch hier gilt: Das weiß niemand, denn der Einfluss des Fleischverzichts ist nicht definierbar. Und das wird auch immer so bleiben, denn ein Studiendesign, das diesen Beweis erbringen könnte, ist in der Ernährungsforschung nicht möglich und wahrscheinlich auch ethisch schwer vertretbar, denn: Studiengruppen müssen randomisiert sein – doch wer will für eine mehrjährige Studie schon freiwillig seine Ernährung ändern, wenn er in die Vegetariergruppe gelost wird? Studien müssen darüber hinaus doppel-blind und plazebokontrolliert sein. Auch das ist nicht möglich, denn jeder weiß, in welcher Studiengruppe er is(s)t, weil es kein Plazebofleisch gibt. Ergo: Alle Erkenntnisse zu gesunder Ernährung sind und bleiben nicht mehr als Vermutungen basierend auf Korrelationen epidemiologischer Untersuchungen.

„Eine Ernährungsstudie hat zwar ergeben, dass Vegetarier ein etwa 30% niedrigeres Risiko haben, an Herzkreislauf-Erkrankungen zu sterben – doch die Gesamtmortalität unterscheidet sich nicht von den Alles-Essern.“

Doch die Schwäche der Beobachtungsstudien ist nicht das einzige Manko, das eine „Ursache-Wirkungs-Beziehung“ erschwert. Hinzu kommen Studienergebnisse, die gern unter den Tisch gekehrt werden, aber essenziell sind für die Bewertung der wissenschaftlichen Datenlage: So hat die weltgrößte Ernährungsstudie EPIC in der Oxford-Analyse zwar ergeben, dass Vegetarier ein etwa 30% niedrigeres Risiko haben, an Herzkreislauf-Erkrankungen zu sterben – doch die Gesamtmortalität unterscheidet sich nicht von den Alles-Essern. Das bedeutet: Vegetarier sterben einfach aus anderen Gründen früher. [3] Doch davon weiß, liest und hört man wenig. Versterben die Pflanzenköstler vielleicht häufiger aufgrund seelischer Leiden? Denn studiengemäß finden sich überproportional viele psychisch Kranke unter den Vegetariern im Vergleich zu den Allesessern: Vegetarier litten signifikant häufiger an Angststörungen, Depressionen und Essstörungen, wie die Universität Hildesheim feststellte. [4] Es können natürlich auch ganz andere Gründe den vegetarischen Weg ins Grab ebnen, die jedoch niemand kennt. Am Rande erwähnt: Auch bei dieser Korrelation stellt sich die Frage nach „Henne & Ei“: Verursacht Vegetarismus psychische Probleme oder forciert eine gestörte Psyche vegetarisches Essverhalten? Niemand weiß es und kaum jemand spricht darüber.

Stattdessen verspricht nicht nur der VEBU Vorbeugung und Behandlung vieler Zivilisationskrankheiten durch Pflanzenkost, auch die etablierten Ernährungsinstitutionen propagieren aus gleichen Gründen den fragwürdigen „5-am-Tag“ Obst-und-Gemüse-Verzehr. Dabei hat die DGE ein interessantes Erklärungsmodell für das Potential der Pflanzenkost zur Senkung des Krankheitsrisikos parat: Es seien „eher unspezifische Effekte…“ [5]  Aber 5-am-Tag ist ein eigenes Thema, bei dem es derzeit schwer gärt, wie aus meinem in EU.L.E.N-Spiegel erschienenen Artikel hervorgeht. [6]

Essen als Ersatzreligion?

Für Professor Peter Nawroth, Direktor Innere Medizin 1 des Universitätsklinikums Heidelberg, ist der Glaube an die heilende Schutzwirkung spezieller Ernährungsformen nicht mehr als eine „Ersatzreligion“ – und mit dieser Meinung steht er nicht alleine da, nur öffentlich aussprechen mögen das Wenige. „Eigentlich müsste man einen ethischen Diskurs starten, dass die Verbreitung wissenschaftlicher Inhalte, die dann zu deren Überinterpretation führt, unmoralisch ist. Es gibt also eine ethische Begründung dafür, wissenschaftliche Daten ausschließlich in wissenschaftlichen Kreisen zu diskutieren, solange keine Interventionsstudien vorliegen – denn ohne deren Beweise ist es unverantwortlich, vermutete Gesundheitseffekte zu propagieren, da es die Menschen zu Fehlverhalten verleiten kann.“

„Die Gründe, sich für eine bestimmte Ernährungsform zu entscheiden, sind wie fast alles im Leben: individuell – egal ob Bio, vegan, LowCarb oder Rohkost.“

Finden die unterschiedlichen Ernährungsphilosophien also deshalb Anhänger, weil sie Gesundheit und ein langes Leben versprechen? Oder sind diese Menschen auf der Suche nach identitätsstiftendem Halt, den Ihnen die Religion nicht mehr bietet? Denn unser Wunsch nach sozialer Identität und die Suche nach einem identitätsstiftenden Selbstkonzept lassen sich heute auch über die Ernährung herstellen. Die Gründe, sich für eine bestimmte Ernährungsform zu entscheiden, sind wie fast alles im Leben: individuell – egal ob Bio, vegan, LowCarb oder Rohkost. Daher sollte eines an dieser Stelle klar gesagt werden: Jeder Mensch kann, darf und soll essen, wie er es für richtig hält. Toleranz und Akzeptanz stehen dabei auf der Werteskala den „Anders-Essenden“ gegenüber ganz weit oben. Chacun à son goût.

Fleisch & Fleisch gesellt sich gern …

Der Vollständigkeit halber abschließend noch ein paar Fakten zum kritischen Reflektieren vegetarischer Gesundheitspropaganda: Unter Europas Spitzenreitern beim Fleischverzehr liegen drei Länder im Herzen der „gesunden mediterranen Ernährung“ vor Deutschland: Spanier, Portugiesen und Italiener essen mehr Fleisch als wir Deutschen. Und das sind alles drei Länder im Herzen der „gesunden mediterranen Ernährung“. Auch das Land des Savoir Vivre und „French Paradox“ (weniger Herzinfarkte und höhere Lebenserwartung trotz westlichem Lebensstil), Frankreich, verbucht einen höheren Fleischverzehr als Deutschland. [7] Unabhängig von diesen Fleischfakten gilt für alle genannten europäischen Staaten: Die Lebenserwartung der Bürger steigt kontinuierlich – in Spanien liegt sie übrigens am höchsten.[8] Ob es europaweit und in Deutschland an der gleichbleibend hohen Fleischeslust liegt? [9] Keiner weiß es. Die DGE würde vielleicht sagen: Es könnte sein, dass es „eher unspezifische Effekte“ sind… [10]

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