13.12.2012

Fröhlich vom Fleisch zu essen ...

Essay von Günter Ropohl

Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Vegetarismus. Die Kultur perfektionierten Genießens wird zugunsten eines abstrakten Gesinnungsprinzips geopfert, die Esskunst zum Zwecke bloßen Überlebens instrumentalisiert

... das wird niedrig gescholten, aber ich meine, in die Grube gelegt werden, ohne einen Mundvoll guten Fleisches genossen zu haben, ist unmenschlich.“ [1] Das sagt Bertolt Brecht, doch rund eine Million Deutscher sehen das anders und begehen am 1. Oktober den Weltvegetariertag. [2] Nun verschmäht kein Feinschmecker die pflanzliche Kost. So empfiehlt der französische Meisterkoch Paul Bocuse in seinem inzwischen klassischen Brevier „La Cuisine du Marché“ [3] auch den sorgsamen Umgang mit den vegetarischen Produkten der Gärten und Felder, doch ihre Rolle ist es vor allem, kleine wie große Gerichte zu ergänzen, und viele Salat- und Gemüsezubereitungen kommen erst mit Speckwürfeln oder Fleischfonds zur Vollendung.

Dialektische Gastrosophie

In der Tat: Kein Gourmet wird eine Spinatmousse oder eine Ratatouille mit Verachtung strafen, aber was wären sie für sich allein wert, wenn sie nicht dazu da wären, eine getrüffelte Poulardenbrust oder einen Lammrücken im Kräutermantel zu begleiten! Gern willigt der Feinschmecker ein, seinen Appetit anfänglich mit Champignons à la grecque anregen zu lassen, aber solches Vorspiel bliebe frustrierend, wenn es nicht zu den ersten Höhepunkten, der Krautwickel mit Gänseleberfüllung und dem pochierten Salm in Sherrysahne überleiten würde. Und das streng vegetarische Sorbet vom Gewürztraminer hat auch wieder nur die dienende Aufgabe, den Geschmackssinn für den folgenden Kalbsrücken nach Art des Prinzen Orlow zu läutern. Anschließend genießt der Gourmet, offen für jede Geschmackserfahrung, den gebackenen Ziegenkäse laktovegetarischer Observanz und die natürlich fleischlosen Crêpes au Kirsch.

So huldigt der Esskünstler den tiefsten Einsichten der Philosophie. Nicht erst Karl Marx nämlich hat Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt und dessen Dialektik materialistisch gewendet. Die Priorität gebührt dem Arzt und Gastrosophen Gustav B. Blumröder, der, unter dem Pseudonym Antonius Anthus, die dialektische Einheit von Animalischem und Vegetabilischem erkannt hat: „Ein bloss vegetabilisches, wie ein bloss animalisches Gastmahl ist für den Esskünstler schlechthin ein Absurdum, ein Gemälde ohne Licht und Schatten, also gar nichts. Wenn nun von zwei Gegenständen jeder rein für sich, ohne den anderen gedacht, absurd ist und nur durch die Verbindung beider der Begriff sich konstruiert, so wird ja das Wesenhafte eben dieser Verbindung von selbst einleuchten“. [4]

Wie sich niemand einen Kunstkenner nennen darf, der nicht wenigstens einige der berühmten Werke der Weltmalerei im Louvre, in den Uffizien oder in einem anderen großen Museum in sich aufgenommen hat, so steht auch niemandem ein Urteil über die rechte Art des Essens an, der nie in einem exzellenten Etablissement der Gastrosophie gespeist hat. [5] Dort aber gehören Fisch und Fleisch ebenso zum kulinarischen Ritual wie Pflanzenkost, Milchprodukte und Eierspeisen. Mit einem Wort: Wer den Vegetarismus propagiert, missachtet die besten gastronomischen Traditionen der menschlichen Kultur, und ich vermute, dass er sie nur darum missachtet, weil er nicht wirklich zu genießen gelernt hat.

Der Vegetarier freilich gibt andere Gründe an: ethische, diätetische und ökologische. Was von derartigen Gründen zu halten ist, will ich im Folgenden durchgehen.

Ehrfurcht vor dem Leben?

Das ethische Argument gegen den Fleischgenuss lautet, die Menschen hätten nicht das moralische Recht, Tiere zu töten, um sich davon zu ernähren. Ich will es dahingestellt sein lassen, ob man dieses Argument überhaupt „ethisch“ nennen darf, denn der Moralphilosophie geht es zunächst und vor allem um Handlungsregeln im Umgang zwischen den Menschen, und schon da hat sie große Mühe, solche Handlungsregeln aus der Personalität der Menschen zu begründen. Umso schwieriger wird es sein, Handlungsregeln gegenüber nichtmenschlichem Leben zu begründen, dem man die Eigenschaft der Personalität wohl nur in anthropozentrischer Metaphorik zusprechen kann. So will ich mich darauf beschränken, auf einige immanente Widersprüche eines ethischen Vegetarismus aufmerksam zu machen.

Menschen sind, vor und neben aller Kultivierung, selbstverständlich auch Naturwesen, und Naturwesen kennen keine Ehrfurcht vor dem Leben. Unabhängig davon, ob sie überhaupt etwas „kennen“, folgen sie dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb, der sie veranlasst, anderes Lebendige zu verzehren, um selber leben zu können. Aus der biologischen Evolution sind, von Spezies zu Spezies verschieden, organismische Ausstattungen erwachsen, die mit angemessenen Ernährungsgewohnheiten korrespondieren. Das drückt sich beispielsweise im Verhältnis von Darmlänge und Körpergröße aus, das bei Pflanzenfressern sehr hoch und bei Fleischfressern sehr niedrig ist; der Mensch ist bei diesem Kennwert nicht bei den Extremen, aber doch in deutlicher Nähe zu den Fleischfressern einzuordnen. [6]

Nun will ich aus diesem Befund keineswegs ein naturalistisches Argument für den Fleischgenuss ableiten. Aber ich muss die Vegetarier fragen, wie sie damit umgehen wollen. Wenn sie die Naturgebundenheit des Menschen anerkennen – und viele Vegetarier sind Naturalisten, die eine wie auch immer verstandene Harmonie von Mensch und Natur postulieren –, müssen sie einräumen, dass Menschen sich eben dann naturgemäß verhalten, wenn sie auch Fleisch essen.

Selbstwidersprüche

Der ethische Vegetarismus macht demgegenüber jedoch gerade die Kulturalität des Menschen geltend, die sich von naturalen Prägungen zu emanzipieren vermag und aus höherer Einsicht, die der Mäuse jagenden Katze verschlossen bleibt, die evolutorisch präformierte Fleischeslust überwinden kann. Die höhere Einsicht aber, die dem Menschen nur dadurch zukommt, dass er eine höhere Organisationsform des Lebens erreicht hat, soll besagen, dass tierisches Leben in ethischer Hinsicht den gleichen Wert hat wie menschliches Leben. Also nur weil Mensch und Tier verschiedenrangig sind, kann der Mensch den Gedanken entwickeln, menschliches und tierisches Leben wären gleichrangig. Und diesem offenkundigen Selbstwiderspruch gesellen sich weitere Inkonsequenzen hinzu.

Wer der Würde des Tieres die gleiche Ehrfurcht entgegenbringen will wie der Würde des Menschen, der kann auch tierische Hervorbringungen, die allein für die Fortpflanzung der Tiere bestimmt sind – Milch, Eier und dergleichen –, nicht für die eigene Ernährung instrumentalisieren, ganz zu schweigen von züchterischen Deformationen, die eine nachwuchsunabhängige fortgesetzte Mengenproduktion dieser Reproduktionsgüter bewirken. So scheint der Laktovegetarier in ethischer Hinsicht wenig konsequent.

Der strenge Vegetarier aber muss sich fragen lassen, warum die Ehrfurcht vor dem Leben bei den Pflanzen aufhört. Wenn man das Lebensrecht der Tiere mit dem der Menschen auf die gleiche Stufe stellt, vermag ich nicht zu begreifen, wieso man das Lebensrecht der Pflanzen dann auf einen geringeren Platz verweist. Zwar versucht man mit Hilfe der Kategorie der Leidensfähigkeit, dem pflanzlichen Leben einen niedrigeren Rang zuzusprechen, doch gibt es Blumenzüchter, die auch Pflanzen für leidensfähig halten. Wenn man also schon mit einem so anthropomorphen – und biologisch wohl noch höchst klärungsbedürftigen – Konzept wie dem der „Leidensfähig­keit“ nichtmenschlicher Lebewesen operiert, dann kann man nicht willkürlich bestimmte Gattungen davon ausschließen.

Freilich läuft dann die Ehrfurcht vor dem nichtmenschlichen Leben, konsequent praktiziert, darauf hinaus, die Ehrfurcht vor dem eigenen Leben hintanzustellen. Tatsächlich trifft man hin und wieder radikale Ökologisten, denen die Erde wertvoller erschiene, wenn es das „plündernde und mordende Raubtier Mensch“ nicht mehr gäbe; aber – erneuter Selbstwiderspruch! – man trifft sie noch.

Was gegessen wird, hat gelebt

Wie alle abstrakten ethischen Prinzipien lässt auch die „Ehrfurcht vor dem Leben“ verschiedene Deutungen zu. Albert Schweitzer, der diese Formel, ihrem Inhalt nach wohl schon in der altindischen Philosophie bekannt, im zwanzigsten Jahrhundert neuerlich in die ethische Diskussion eingeführt hat, soll selbst die Schwierigkeiten eingeräumt haben, die mit dem Leben der Bakterien und Viren entstehen, wenn denen die Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben abgeht. Offensichtlich befreit das Prinzip nicht von der Güterabwägung zwischen verschiedenen Formen des Lebens.

Man kann aber das Prinzip auch positiv wenden und so verstehen, dass mehr Leben besser ist als weniger Leben. Nun sind es aber gerade die menschlichen Fleischliebhaber, denen Abermillionen von Tieren zunächst ihr Leben verdanken. Niemand würde noch Gänse, Schweine und Rinder züchten, wenn sich der Vegetarismus durchsetzte. Wenn man schon anthropomorphe Zuschreibungen für richtig hält, dann muss man neben der „Leidensfähigkeit“ doch wohl auch das „Daseinsglück“ all jener Tiere in Rechnung stellen, die nach den Vorstellungen des Vegetarismus nie gelebt hätten.

Damit man mir keinen Zynismus unterstellt, beeile ich mich hinzuzufügen, dass die Lebensbedingungen der Schlachttiere selbstverständlich so zu gestalten sind, dass alles, was Tiere nach nüchterner tierpsychologischer Beobachtung während ihrer Lebensspanne als Übel erfahren könnten, vermieden wird. Und es bedarf wohl kaum noch der Erwähnung, dass der unvermeidliche Schlachtvorgang für die Tiere nicht spürbar werden darf.

Ohne näher darauf eingehen zu können, scheint mir eine Folgen­ethik, der es um die Minimierung von vermeidbaren Übeln geht, viel plausibler und praktikabler als eine fundamentalistische Gesinnungsethik, die ein abstraktes „Prinzip des Lebens“ postuliert, ohne die Folgen für die Menschen wirklich ernst zu nehmen. Und die vegetarische Gesinnungsethik wird erst recht unplausibel, wenn sie sich auch noch in unauflösbare Widersprüche verwickelt. Der ethische Vegetarismus, ich wiederhole es, verteidigt ein tierisches Lebensrecht, das weithin gegenstandslos würde, wenn er sich verbreitete.

Vegetarismus als Krankheit

Nun verlassen sich Vegetarier keineswegs allein auf das gesinnungsethische Argument, sondern irritieren den fröhlichen Fleisch­esser auch damit, dass sie seinem Genuss Gefahren für die Gesundheit unterstellen. Dabei stützt sich der diätetische Vegetarismus nicht nur auf ungesicherte und umstrittene medizinische Hypothesen, sondern oft genug speist er sich aus höchst dubiosen makrobiotischen und anderen esoterischen Quellen.

In krassem Gegensatz zu solchen diätetischen Heilslehren bestätigt die erdrückende Mehrheit der Ernährungsphysiologen die dialektische Gastrosophie des Antonius Anthus. Eine abwechslungsreiche und ausgewogene Mischkost aus tierischen und pflanzlichen Substanzen gilt allgemein als der Königsweg gesunder Ernährung, und Ausnahmen betreffen allein jene unglücklichen Menschen, die bereits unter physischen Insuffizienzen leiden und sich aus diesem Grund diätetischen Beschränkungen unterwerfen müssen. Man wird nicht krank, weil man Gourmet ist; man muss allenfalls auf gewisse Gourmetfreuden verzichten, weil man krank ist, aber auch dann ist die „übertriebene Strenge“ der Ärzte „nutzlos, weil die Kranken fast niemals auf Dinge Appetit haben, die ihnen schaden“ – so ein anderer Klassiker der Gastrosophie. [7] Und die nicht enden wollenden Risikofaktor-Korrelationen, mit denen Mediziner Habilitationsschriften und Pressemeldungen erzeugen, erinnern mich ohnehin an den gesicherten Befund, dass in den letzten Jahrzehnten der Geburtenrückgang in Schweden hoch signifikant mit dem Schwund der Klapperstorch-Population korrelierte.

„Der Esskünstler isst, um zu essen, und hat sich um Nebensachen wie langes Leben und dergleichen nicht weiter zu kümmern. Er macht sich mit den nötigen diätetischen Regeln vertraut, um gut und mit Bewusstsein zu essen, um das Essen selbst zu erhöhen, ohne andere weitere Zwecke, welche rein dadurch erreicht werden und von selber sich erfüllen, dass er gute und angemessene Produkte der Natur und Kunst in gehöriger Menge und Verbindung, mit Heiterkeit, Ruhe, Sinn und Bewusstsein auf subjektiv und objektiv angenehme und geschmackvolle Weise sich schmecken lässt“. [8]

Wem Gesundheit beschieden ist, der sorgt sich nicht darum. Wer aber ständig um seine Gesundheit fürchtet, der ist nicht mehr gesund. Die World Health Organization (WHO) hat Gesundheit als den Zustand des vollkommenen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens definiert. Wenn man sich freilich fortgesetzt mit der Frage abquält, welchen asketischen Übungen man sich unterziehen muss, um ewig gesund zu bleiben, dann scheint mir das mentale Wohlbefinden eben dadurch empfindlich gestört. So betrachte ich den diätetischen Vegetarismus als ein Krankheitssymptom eigener Art.

Ich will gar nicht davon reden, dass jedenfalls der strenge Vegetarier, weil er auf tierische Proteine und Vitamine völlig verzichtet, auch seine körperliche Gesundheit stärker gefährdet als der fröhliche Fleischesser, wenn er nicht seine Küche als ernährungsphysiologisches Labor betreibt; das geben selbst redliche Vegetarier-Fibeln zu. Wichtiger erscheint mir, dass jeder Vegetarier seine Lebensqualität empfindlich schmälert, indem er sich die besondere Vielfalt beglückender Geschmacksempfindungen entgehen lässt, mit denen nur Fleischspeisen aufwarten können. Abgesehen vom jeweils spezifischen Eigengeschmack der Fleischsubstanz sind es vor allem die bei den verschiedenen Methoden des Garens zustande kommenden Eiweißumwandlungen, woraus der unvergleichliche Wohlgeschmack der Fleischbrühen und Bratensäfte hervorgeht, der von keiner Kohlsuppe und von keinem Grünkernbrätling erreicht wird.

Gesundheitswahn

Wer aber solche höheren Gaumenfreuden mutwillig ausschlägt, verfehlt die Perfektionierung seines psychischen Wohlbefindens, verzichtet damit auf die mögliche Höchstform von Gesundheit und lebt in der Krankheit, die Krankheit zu fürchten. Überhaupt scheint der Gesundheitswahn epidemisch zu werden. Obwohl die Menschen jedenfalls in den Industrieländern objektiv nie gesünder waren als heute – alle demographischen und epidemiologischen Daten sprechen dafür –, ist die subjektive Sorge um die Gesundheit gigantisch gewachsen.

Und man sorgt sich nicht nur, man beginnt gewachsene Lebenspraxis mehr und mehr prophylaktisch zu manipulieren: Man rennt kilometerweit, an der Schwelle der Bewusstlosigkeit, stumpfsinnig durch die Gegend; man peinigt die Muskulatur in den Foltermaschinen der Kraftsport-Studios; man vermag gewohnte Speisen und Getränke guten Gewissens nur noch zu genießen, wenn sie sich als „light“ empfehlen; man scheut nicht weite Wege und nicht hohe Preise, wenn man „Bio“- und „Öko“-Waren ergattern kann; und man wird schließlich Vegetarier. (Lediglich die Tabakprodukte, die nun wirklich rein pflanzlicher Provenienz sind, verteufelt man, wiederum inkonsequent, wegen angeblich dramatischer Gesundheitsgefährdung: So ganz unbedenklich sind die Pflanzen also wohl auch nicht immer.)

Was aber fängt man, wenn es denn wahr wäre, mit so fürchterlich viel Gesundheit an? Will man denn ewig leben? In der Tat: Der forcierte Gesundheitswahn ist nichts anderes als die verdrängte Todesfurcht. Die Na­turemphase der Ökologisten und Vegetarier steht in merkwürdigem Kontrast zu der mangelnden Bereitschaft, die natürliche Vergänglichkeit des eigenen Körpers anzuerkennen. Gesundheitsprophylaxe wird zum Unsterblichkeitszauber. Aber so sehr die Moderne die gesellschaftlichen Verhältnisse entzaubert haben mag, die Entzauberung der Köpfe steht erst noch an. Ehrfurcht vor dem Leben, wenn sie denn menschliches Format gewinnen will, heißt auch: die Endlichkeit eigenen Lebens mutig und selbstbewusst anzunehmen.

Der Umwelt zuliebe

Seit ein paar Jahrzehnten beginnen die Menschen einzusehen, dass sie ihren natürlichen Lebensraum pfleglicher behandeln müssen, wenn sie nicht Einbußen an Lebensqualität riskieren wollen. Nicht nur die Endlichkeit des persönlichen Lebens, auch die Endlichkeit des irdischen Lebenspotenzials wird zur realen Grenzerfahrung. Sicher tragen Einseitigkeiten im wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und in der industriellen Innovationsdynamik, einschließlich der Industrialisierung der Landwirtschaft, ein gut Teil Schuld an den wachsenden Belastungen des globalen Ökosystems, aber soweit sie inzwischen bekannt sind, rühren sich auch viele Kräfte, die solche Einseitigkeiten zu überwinden suchen.

Nun hat sich auch der Vegetarismus des ökologischen Arguments bemächtigt und streitet der fleischlichen Ernährung ihre Umweltverträglichkeit ab. Dass auch bei der landwirtschaftlichen Tierhaltung ökologische Fehler gemacht werden, scheint mir kein prinzipieller Einwand zu sein, denn solche Fehler lassen sich ebenso korrigieren wie die frühere Wasserverschmutzung bei der Papierherstellung. Ein grundsätzliches Argument hingegen, dem man sich stellen muss, zieht die Energiebilanz der Fleischerzeugung heran und macht geltend, dass der Nährwert des Fleisches nur ein Siebtel des Nährwertes der eingesetzten Futtermittel beträgt. Den genussfreudigen Gourmet wird es natürlich verwundern, dass er sich dem ökonomistischen Diktat der Energieeffizienz beugen sollte.

Würde man aber auf tierische Nahrungsmittel verzichten, behaupten die Vegetarier, könnten sehr viel mehr Menschen problemlos gesättigt werden. Allerdings wäre zu prüfen, ob das Welternährungsproblem wirklich im absoluten Mangel an Nahrungsmitteln gründet oder nicht vielmehr, wie manche Experten meinen, in Asymmetrien der Verteilung. Freilich wird für die Zukunft wirklicher Mangel umso wahrscheinlicher, je weiter die Weltbevölkerung wächst.

Das aber ist ein ökologisches Kernproblem, das bedauerlicherweise aus religiösen und kulturellen Rücksichten vielfach immer noch nicht mit dem erforderlichen Nachdruck betont wird: Schon jetzt gibt es mit sieben Milliarden so viele Menschen auf der Erde, dass ihre auskömmliche Versorgung gegenwärtig nicht gelingt – ganz zu schweigen von den zehn bis zwölf Milliarden, die für das ein­undzwanzigste Jahrhundert prognostiziert werden. [9] Es fehlt ja nicht nur an Nahrungsmitteln, sondern auch an Energie und Wasser. Da wäre ökologischer Vegetarismus auch nur wieder ein gutgemeintes Stückwerk, das an Symptomen kurieren will, was in Wirklichkeit an der Ursache anzugehen ist: am gewaltigen Bevölkerungswachstum.

Fleischeslust um ihrer selbst willen

Es geht, ich wiederhole es, nicht um das Leben an sich. Nicht das schiere Überleben um jeden Preis ist der Menschen Glück, sondern das gute Leben. Wie vielen Menschen aber ein stabilisiertes irdisches Ökosystem das gute Leben bieten kann, ist unter Experten umstritten. Doch mit Sicherheit ginge es der Weltbevölkerung besser, wenn sie ihr Wachstum dämpfen könnte. So ist nicht die Lust am Fleischverzehr, sondern jene andere Fleischeslust das ökologische Problem, solange diese sich nicht vom ungehemmten Fortpflanzungstrieb emanzipiert und Lust wird um ihrer selbst willen – ganz so, wie auch der Gourmet nicht die schiere Sättigung im Sinn hat, sondern die Kultivierung des Genusses.

Das aber ist des Vegetarismus Sache nicht. In seiner ethischen Spielart verwirft er die Kultur perfektionierten Genießens zugunsten eines abstrakten Gesinnungsprinzips, in seiner diätetischen und ökologischen Spielart instrumentalisiert er die Esskunst zum Zwecke bloßen Überlebens.

Mit Brecht habe ich begonnen, und mit Hölderlin wird dermaleinst schließen, wer die zugemessene Spanne gastrosophisch erfüllt hat: „Einmal lebt ich, wie Götter, mehr bedarf’s nicht“. [10]

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