16.08.2023

Gefährliche Ideen statt Safe Spaces

Von Thilo Spahl

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Foto: nikolayhg via Pixabay / CC0

Warum Universitäten Orte der Freiheit sein müssen.

Die Universität sollte der letzte Ort sein, an dem man vorsichtig sein muss, was man sagt. Leider ist das Gegenteil der Fall. Universitäten sind Vorreiter, wenn es darum geht, Meinungsvielfalt zu verringern, Konformität zu erzeugen und Meinungsfreiheit einzuschränken. Warum ist dem so? Die Ursachen sind sicher vielfältig. Eine wichtige Rolle scheint mir zu spielen, dass die eigentliche Aufgabe, junge Menschen zu eigenständigem wissenschaftlichen Arbeiten zu befähigen, mittlerweile in den Hintergrund geraten ist.

Die Moral-Eliten

Die gesellschaftliche Funktion der Hochschulen ist neben der Bildung die Reproduktion einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, nämlich der akademisch gebildeten Mittelschicht, die sowohl in der Wirtschaft (als „Professional Managerial Class“ – PMC) als auch allgemein in der Gesellschaft eine dominante Rolle spielt.

Der Anteil der jungen Menschen eines Jahrgangs, die in Deutschland ein Studium beginnen, liegt laut Statista inzwischen bei rund 56 Prozent. Im Jahr 2000 waren es noch 33 Prozent. Nur ein kleiner Teil der Absolventen arbeitet hinterher wissenschaftlich. Ein Großteil übernimmt Fach- und Führungsaufgaben in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Die Hochschulen bringen also die Funktionseliten hervor, und ein großer Teil derselben geht in die in den letzten Jahrzehnten stark angewachsenen Bereiche Medien, Kultur, Kreativwirtschaft, Öffentlichkeitsarbeit, Bildung und Erziehung, Sozialarbeit, Marketing, Werbung, Verwaltung, Politik, Gesundheitswesen, Lifestyle, Lobbyismus und Aktivismus. Dort umfasst ihre Tätigkeit zumindest teilweise das Social Engineering, also das Bemühen, die Gesellschaft zu „verbessern“, indem Denken und Verhalten der Menschen beeinflusst werden. Wir können diese Akademikerklasse auch als die technokratische Klasse bezeichnen.

Wenn es darum geht, eine Karriere im Bereich der „Verbesserung der Gesellschaft“ zu machen, ist man anfällig für progressivistische Sichtweisen. Sich für „die gute Sache“ einzusetzen, hilft zum einen dabei, ein positives Selbstbild zu entwickeln, also seinem Job oder seinem Leben einen Sinn zu geben, der über das ordentliche Erledigen der Aufgaben hinausgeht. Zum anderen lassen sich auch Distinktionsgewinne erwirtschaften. Catherine Liu charakterisiert in ihrem Buch „Virtue Hoarders: The Case against the Professional Managerial Class“ die PMC als linksliberale Angestellte, die von einem Überlegenheitskomplex gegenüber den einfachen Mitgliedern der Arbeiterklasse befallen sind. Der Autor Nico Hoppe fasst es so zusammen: „Die dieser Mittelklasse Zugehörigen arbeiten als Lehrer, Sozialarbeiter, Künstler, Journalisten, Professoren, Manager. Sie sind materiell gut abgesichert, vernetzt, flexibel und engagiert. Ihre vermeintliche Tugend ist ihr größter Stolz, weswegen von Bildung und Erziehung über Gesundheit und Ernährung bis zu Fragen der Sexualität und Identität kaum eine Domäne existiert, die sie nicht zum Revier ihrer moralischen Hoheit umfunktionieren.“

„Teile der akademischen Klasse übernehmen die Aufgabe der Hege und Pflege des ‚Current Thing'."

Der amerikanische Autor Sean Collins betont den prägenden Charakter der PMC in der heutigen Gesellschaft: „Es gibt heute keine Klassen im herkömmlichen Sinne mehr – es gibt weder eine etablierte herrschende Kapitalistenklasse, noch eine gut organisierte, selbstbewusste Arbeiterklasse. Das Fehlen dieser beiden grundlegenden Klassen hat automatisch dazu geführt, dass wir in einer Welt leben, die die Vorurteile der gehobenen Mittelklasse widerspiegelt.“

Teile der akademischen Klasse übernehmen daher (haupt-, bzw. meist nebenberuflich und bevorzugt in den sozialen Medien) die Aufgabe der Hege und Pflege des „Current Thing“. Dazu rechnen wir alles, was ideologisch gerade angesagt ist: #MeToo, Black Lives Matter, Klimaschutz, Multikulti, Diversity, LGBTQ+, Refugees Welcome, Save the Planet, Follow the Science, Net Zero, Nachhaltigkeit, Zero Covid, noAfD, Gendersprache, Kampf gegen Rechts, Europäische Identität, Postnationalismus usw. Der Begriff „Current Thing“ wurde vor allem durch den Investor Marc Andreessen geprägt und ist nicht klar definiert. Er ist verwandt mit den Begriffen „Zeitgeist“ und „Mainstream“, betont aber etwas mehr das Schlagwortartige, mit dem das jeweils neueste Stück moralisch aufgeladenen Zeitgeists benannt wird, und das sich oft als Hashtag auf Twitter oder Symbol in der Twitter-Bio findet.

Virtue Signalling

Diese heute von der akademischen Klasse verwendeten ideologischen Distinktionsmerkmale haben gegenüber klassischen, wie sie bei Bourdieu in „Die feinen Unterschiede“ (1979) beschrieben werden (gehobener Geschmack, Vorlieben, Umgangsformen), einen politischen/moralischen Gehalt. Primär äußert sich dieser im sogenannten Virtue Signalling, also dem Vorzeigen der eigenen Tugendhaftigkeit bzw. der richtigen Überzeugungen. Dies umfasst zum einen die private Vorbildlichkeit nach den Kriterien des Lifestyle of Health and Sustainability (LOHAS) und zum anderen die Political Correctness, etwa durch das Umbenennen von Exponaten in Museen, das Umschreiben von Büchern, das Eintreten für Diversität, das Einfärben von allem Möglichen in Regenbogenfarben oder indem man sich der sogenannten gendergerechten Sprache befleißigt.

Das Virtue Signalling ist zunächst selbstbezogen, es hat aber auch immer das Element der Abgrenzung. Man unterscheidet sich aktiv von jenen, die nicht wie man selbst durch eine akademische Sozialisierung das Gespür für die richtigen Haltungen erworben und die Dos und Don’ts der Political Correctness nicht verinnerlicht haben. Mit dieser Unterscheidung erwirtschaftet man Distinktionsgewinne, man erwirbt sich Ansehen (unter seinesgleichen).

Immer häufiger wird diese ideologische Aufgabe mit der beruflichen verbunden. Denn das Haltung-Zeigen ist inzwischen fester Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen, einschließlich der Hochschulen. Wichtige Arbeitgeber der PMC sind heute auch Parteien, Stiftungen und NGOs, die sich als Kampagnenorganisation, mit oft erheblicher staatlicher Finanzierung,  teilweise ganz der Pflege des Current Thing widmen.

Kommt zum Virtue Signalling ein Sendungsbewusstsein hinzu, entsteht ein technokratischer Herrschaftsanspruch. Dieser umfasst einen Erziehungsauftrag. Man nimmt es auf sich, dem einfachen Volk die richtige Sicht der Dinge und insbesondere auch korrektes Verhalten beizubringen (the woke person’s burden). Und er umfasst einen Säuberungsauftrag, der sich als Cancel Culture manifestiert, also der Diffamierung, Denunzierung, Bestrafung, Einschüchterung oder Zensur von Menschen, die absichtlich oder unabsichtlich, gegen die Ge- und Verbote der Political Correctness verstoßen. Dies sind vornehmlich Menschen aus der eigenen Klasse, der PMC, also Renitente oder Abtrünnige, die sich für das Current Thing nicht interessieren oder sich skeptisch äußern.

„Die Universitäten sind der Nährboden für Political Correctness und Identitätspolitik."

Da an den Hochschulen die PMC in ihrer reinsten Form konzentriert ist und sich dort reproduziert, sind die Hochschulen auch der Ort, wo der Druck am größten ist. Sie sind eine wichtige Lehr- und Lernumgebung für Virtue Signalling. Hier übt man an Kommilitonen und am Personal, was man später auch im Berufsleben, bei politischen Ambitionen oder im sogenannten „bürgerschaftlichen Engagement“ anwenden kann: die stets richtige Haltung. So ist eine Kultur der Angst und des Konformismus entstanden, wo eine Kultur der Freiheit, der Originalität und des Ideenwettbewerbs herrschen sollte.

Die Universitäten sind der Nährboden für Political Correctness und Identitätspolitik (um einen weiteren Begriff einzuführen), sie bieten ein Milieu, in dem die entsprechenden Ideen mehrheitsfähig sind. Allerdings ist es auch hier, wie später im richtigen Leben, eine Minderheit, die aktive Bekenntnisse formuliert, Verhaltensregeln daraus ableitet und regelkonformes Verhalten einfordert. Die Mehrheit toleriert diese technokratische Anmaßung und spielt das Spiel mit, findet das „Engagement“ für die „gute Sache“ meist grundsätzlich in Ordnung. Nur eine kleine Minderheit widersetzt sich.

Die Identitätspolitik ist ein weit diskutiertes Phänomen. Ihr Kern ist die Zuordnung von Opferidentitäten und Täteridentitäten nach bestimmten Kriterien und eine daraus abgeleitete Verhaltensregulierung. Der Kern der Identitätspolitik ist die Zuschreibung von Opferidentitäten und Schuldidentitäten. Minuspunkte gibt es für weiß, männlich, christlich, im Westen geboren und heterosexuell. Pluspunkte für alles, was davon abweicht. Es fügen sich aber zunehmend auch neue Themen ein. So kann im Grunde jeder, der von „rechts“ kritisiert wird, Opferstatus beanspruchen.

Kult der Verletzlichkeit

Wie legitimiert man die Anmaßung, anderen vorzuschreiben, wie sie ihr Leben leben sollen? Indem man moralisch argumentiert. Indem man darauf besteht, es diene dem Schutz von Verletzlichen, Benachteiligten, Unterprivilegierten.

Die Konzentration auf Verletzlichkeit und den Schutz von Gruppen mit Opferidentität hat allerdings so gut wie nichts mit dem Erkämpfen von realen Verbesserungen für tatsächlich unterprivilegierte (=arme) Menschen zu tun. Es ist Teil des Kulturkampfes, bei dem es in erster Linie um die Demonstration moralischer Überlegenheit geht. Diese moralische Überlegenheit wird auch benötigt, um die eigene Privilegierung als Mitglied der PMC zu kompensieren. Das gilt auch beim Klimaschutz, wo gerne davon geredet wird, die Armen der Welt hätten unter den Folgen des Klimawandels besonders zu leiden, was schlicht falsch ist, denn es ist unbestreitbar die Armut, worunter die Armen leiden. Und diese Armut wird mitunter perpetuiert, indem man ihnen Zugang zu bezahlbarer Energie verweigert.

Die großen Themen des Current Thing, Klimaschutz, Antirassismus, LGBTQIA+ und (bis vor kurz und bestimmt irgendwann wieder) Pandemiepolitik,  sind Kulturkampf, denn es werden uns Menschen als Gefährder präsentiert, aber nicht die Mächtigen, nicht die Vertreter der PMC, sondern die einfachen Leute, die nicht wissen, wie man richtig gendert, mit welchem Geld sie sich ein Elektroauto kaufen sollen, wie man richtig zuhause bleibt, wie man Migranten willkommen heißt, wie man Weltoffenheit durch die Beschäftigung einer ukrainischen Putzfrau demonstriert, wie man Plastikmüll vermeidet und wie man den CO2-Ausstoß seiner Flugreise bequem mit ein paar Klicks und ein paar Euros beim Ablasshändler seiner Wahl kompensiert.

In der klassischen Identitätspolitik, wie wir sie an den Hochschulen beobachten, geht es vorwiegend nicht um reale Verletzungen oder Benachteiligungen, sondern um Gefühlsverletzungen. Und diese bestehen überwiegend in tatsächlich oder vorgeblich mangelnder Wertschätzung, die sich in als abwertend wahrgenommenen oder interpretierbarem Verhalten äußert, etwa wenn eine nicht-weiße Person auf ihre Herkunft angesprochen wird oder wenn bei einer Person, deren Erscheinungsbild die selbst gewählte Geschlechtsidentität nicht unmittelbar erkennen lässt, ein „falsches“ Personalpronomen verwendet wird, also zum Beispiel auf eine „nicht binäre“ Person mit dem Pronomen „er“ oder „sie“ Bezug genommen wird. Oder wenn ein Mann mit dunkler Haut als Schwarzer statt als „Person of Colour“ bezeichnet wird, oder wenn ein Mann einer Frau etwas erklärt und man den Eindruck gewinnen kann, er halte sich für schlauer als sie (Mansplaining), usw.

„Wir sollten versuchen, die Jugend darauf vorzubereiten, in ihrem Leben mit Meinungsverschiedenheiten, Risiken, Widrigkeiten, Animositäten und auch Verletzung umzugehen."

Nun ist es so, dass es den meisten Leuten glücklicherweise nicht in den Sinn kommt, sich regelmäßig als Opfer subtiler rassistischer, misogyner, transphober, islamophober oder sonstiger Herabwürdigungen zu fühlen, also letztlich kein Verlass darauf ist, dass die Leute aus den Opfergruppen auch wirklich die Opferrolle annehmen. Daher ist das identitätspolitische Regime der Verhaltensregulierung strikt präventiv ausgelegt. Es gilt das Vorsorgeprinzip: Zu unterlassen ist alles, was irgendwie bei irgendwem zu Unbehagen führen könnte. An den Hochschulen beginnt das inzwischen bekanntlich schon bei der Auswahl der Lektüre. Warnhinweise gehören längst zum guten Ton: Die University of the Highlands and Islands in Schottland hat kürzlich die Novelle „Der alte Mann und das Meer“ von Ernest Hemingway mit einem Warnhinweis versehen. Der Klassiker von 1952, in dem ein kubanischer Fischer mit einem riesigen Speerfisch ringt, enthalte „explizite Darstellungen des Angelns“ („graphic fishing scenes"), werden schutzbefohlene Studenten der Geschichte und Literatur aufgeklärt.

Andererseits schafft sich die Identitätspolitik aber auch eine reale Basis in Form von gesteigerter Verletzlichkeit von Menschen, die durch andere in ihrem Umfeld so sehr auf ihre Opferrolle festgelegt oder in ihr bestätigt werden, dass sie beginnen, sie zu leben. Inzwischen gibt es offenbar tatsächlich eine gewisse Anzahl von vorwiegend jungen Menschen, die es wahrhaftig nicht ertragen, im selben Raum mit Personen zu sein, denen sie eine falsche Gesinnung unterstellen. Diese Menschen täuschen Betroffenheit nicht vor, um andere zu terrorisieren, sie fühlen sich tatsächlich verletzt, wenn jemand zum Beispiel behauptet, es gäbe biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen, oder wenn jemand das Wort „Indianer“ verwendet. Diese außergewöhnliche Verletzlichkeit ist ein interessantes sozialpsychologisches Phänomen. Man sollte versuchen, den Betroffenen zu helfen. Aber man sollte ihre Hypervulnerabilität nicht zum Maßstab für die (Campus-) Politik machen. Und wir sollten versuchen, die Jugend darauf vorzubereiten, in ihrem Leben mit Meinungsverschiedenheiten, Risiken, Widrigkeiten, Animositäten und auch Verletzung umzugehen. Auch das ist eine wichtige Aufgabe der Hochschulen.

Mit Klima und Corona hat der Kult der Verletzlichkeit eine neue Eskalationsstufe erreicht. Man hat sich von klar definierten Opferidentitäten gelöst. Opfer kann jetzt jeder sein. Für die PMC ergibt sich hier die Chance, sich in die Reihen der Gefährdeten einzureihen. Auch junge, weiße, reiche, heterosexuelle Menschen können klagen, ihre Zukunft sei durch die Klimakatastrophe bedroht und ihre Jugend durch die „Tyrannei der Ungeimpften“. Und sie können bequem zur Rettung beitragen, indem sie als Innenstadtbewohner auf ein Auto verzichten und dank Lieferando und Zoom die Pandemie bekämpfen. Das Problem sind auch hier die normalen Leute, die nicht nur weiß und heterosexuell sind, sondern auch noch mit dem Auto (zur Arbeit) fahren und sich in ihren beengten Wohnverhältnissen gegenseitig mit der Seuche anstecken. 

Diese beiden Themen zeigen auch, dass durch eine Politik der Angst noch besser mobilisiert werden kann als mit der Empörung, auf die die Identitätspolitik vor allem setzt. Der Weltuntergang erscheint den meisten als eine größere Bedrohung als „unsensible“ Sprache.

Meinungsfreiheit Konformismus, Zensur und Selbstzensur

Wo es Opfer gibt, muss es auch Täter geben. Virtue Signalling ist deshalb immer auch Kampf gegen die Täter. Es gilt die Devise: Prävention durch Abschreckung.

Wichtig für das Funktionieren des Systems ist, dass ausdrücklich nicht die Absicht des „Täters“ zählt. Nach den Gesetzen der Identitätspolitik muss dem „Täter“ nicht bewusst sein, dass er etwas Böses gesagt hat, und er muss es auch nicht in böser Absicht getan haben. Das Opfer genießt das Privileg, selbst definieren zu dürfen, was es als moralisch verwerflichen Angriff empfindet. So wird ein Herrschaftsanspruch formuliert und oft erfolgreich eingelöst, indem man sich als Opfer präsentiert oder als Opferanwalt geriert. Der Opferstatus ist zu einer Quelle von Anerkennung, Autorität und Macht und damit fatalerweise attraktiv geworden.

Virtue Signalling und Kult der Verletzlichkeit führen gemeinsam dazu, dass man permanent aufpassen muss, was man sagt. Die ultimativen Opfer von Identitätspolitik, Pandemieschutz und Planetenrettung sind Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt. Beide erfahren innerhalb der PMC allgemein und insbesondere an den Einrichtungen der höheren Bildung kaum mehr Wertschätzung. Sie werden sogar regelrecht bekämpft. Als wichtige Begründung hierfür dient, es gelte Bedrohungen der Demokratie (oder der Volksgesundheit) in Gestalt von „Hassrede“ und „Fake News“ abzuwehren. Diese Haltung, die offensichtlich mit einer gewissen Demokratiemüdigkeit einhergeht, hat zuletzt erschreckende Ausmaße angenommen. Demonstrationsfreiheit wurde massiv eingeschränkt, die Zensur im Netz wurde massiv ausgeweitet, Beiträge in den sozialen Medien werden massenhaft gelöscht, Accounts werden in großer Zahl gesperrt und sogar gelöscht.

Die Meinungsäußerung wird nicht als solche nach ihrem Inhalt im Kontext bewertet und ggf. kritisiert. Sie wird vielmehr als Beleg für die falsche Gesinnung und damit moralische Verdorbenheit und Gefährlichkeit genommen. Der „Beweis“ ist häufig ein Diskursschnipsel, ein unerlaubtes Wort, ein Witz, ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat. Oft ist dieses einem Post in den sozialen Medien entnommen und wird auch über dieselben Kanäle weiterverbreitet, womit ein sehr niedrigschwelliges Angebot besteht, sich durch Likes, zustimmende Kommentare und Teilen an dem Angriff auf die Person zu beteiligen.

„Menschen, die die Orthodoxie in Frage stellen, werden als ‚Leugner' bezeichnet."

Dabei geht es auch immer darum, die Person einzuschüchtern und an ihr ein Exempel zu statuieren, um andere abzuschrecken. Das ist die Logik der Cancel Culture. Wer etwas Falsches sagt oder mutmaßlich denkt, der bekommt Ärger. Und zwar in der Regel eher nicht mit Personen, mit denen er direkt zu tun hat, sondern von Fremden, die ihn herauspicken, um selbst in Erscheinung zu treten. Das Ziel ist nicht, jemanden durch bessere Argumente zu überzeugen oder auch öffentlich in Verlegenheit zu bringen. Ziel ist typischerweise die Denunziation bei einem Arbeit- oder Auftraggeber o.ä. Das Mindeste ist die Aufforderung, sich für die angekreidete moralische Verfehlung öffentlich zu entschuldigen, also Buße zu tun und Unterwürfigkeit zu demonstrieren.  

Interessant ist, dass in der Vergangenheit oft Staat und Konzerne im Mittelpunkt der Kritik standen, wenn es um Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung, usw. ging. Doch diese sind heute, als Arbeitgeber und „Heimat“ der PMC, die treusten Verfechter von Political Correctness, Identitätspolitik und Klimaschutz. Das neue Feindbild sind die Unaufgeklärten und die Leugner. Es sind die normalen Leute, die als Arbeitnehmer, Selbständige, Landwirte, Handwerker und mittelständische Unternehmer anderes zu tun haben, als postmoderne Tugendhaftigkeit zu demonstrieren, um die Zugehörigkeit zur akademischen Klasse unter Beweis zu stellen.

Für die USA beobachtet der Rechtswissenschaftler Robert P. George einen Übergang von autoritärem zu totalitärem Verhalten: „Die derzeitige Situation ist eine, in der sich die Menschen allgemein – einschließlich der Menschen auf dem Hochschulcampus, und zwar nicht nur die Studenten, sondern auch die Dozenten, und zwar nicht nur die nicht fest angestellten (und daher in gewissem Sinne unsicheren) Dozenten, sondern auch die fest angestellten Professoren, die sicher sind – selbst zensieren. Alle Studien, die zu diesem Thema durchgeführt wurden, zeigen, dass die Menschen nicht sagen, was sie wirklich glauben, oder bestimmte Fragen, die sie gerne stellen würden, nicht stellen, weil sie die sozialen oder beruflichen Konsequenzen fürchten, wenn sie ‚das Falsche sagen' oder das Richtige auf die ‚falsche' Weise sagen." Und noch schlimmer: „Gewöhnliche Autoritäre begnügen sich damit, Menschen zu verbieten, Dinge zu sagen, die sie für wahr halten. Totalitaristen begnügen sich nicht damit, sondern gehen noch einen Schritt weiter und zwingen die Menschen, Dinge zu sagen, die sie nicht für wahr halten. Und wir sind in zu vielen Bereichen von diesem autoritären Impuls zum totalitären Impuls übergegangen."

Kampf gegen „Fake News“ und falsche Gesinnung

Ein spezielles Problem für die Wissenschaft ist der Kampf gegen „Fake News“ und „Verschwörungsmythen“. Menschen, die die Orthodoxie in Frage stellen, werden als „Leugner“ bezeichnet. Diese Bezeichnung ist dem Begriff der „Holocaust-Leugnung“ entlehnt. Sie wird seit einigen Jahren zur Identifikation von Menschen genutzt, die das Narrativ einer „drohenden Klimakatastrophe“ in Frage stellen. Das sind die „Klimaleugner“. Ihnen hinzugesellt hat man zuletzt die „Corona-Leugner“, eine Bezeichnung, mit dem großzügig alle belegt wurden, die Kritik an den staatlich angeordneten Corona-Maßnahmen angemeldet haben. Zu den Opfern der „Leugner“ stilisiert wurden zum einen die Wissenschaftler, die die entsprechenden Untergangsszenarien mit ihren Forschungsergebnissen und Interpretationen stützen und daher, insbesondere in den sozialen Medien, mitunter beschimpft wurden. Zum anderen auch alle an Covid Erkrankten oder gar Gestorbenen, die vermeintlich hätten gerettet werden können, hätten die Leugner nicht das Narrativ der Warner untergraben und somit angeblich den frühzeitigen Sieg über das Virus verhindert. Oder alle die „Klimatoten“, die irgendwann der „Klimakatastrophe“ zum Opfer fallen werden.

Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch der Wandel des Wortes „Querdenker“. Bis Anfang 2020 war das ein positiv besetzter Begriff, mit dem man Menschen bezeichnete, die kreativ waren, sich über Konventionen hinwegsetzten und so die Diskussion belebten und das Aufbrechen verkrusteter Dogmen ermöglichten. Im Zuge der Corona-Krise ist der Begriff zum Ausdruck der Diffamierung geworden. Nun gut, könnte man sagen, die Verwendung von Wörtern unterliegt einem Wandel. Das ist nicht weiter schlimm. Und Auslöser dieses Wandels war die Vereinnahmung des Begriffs durch die nach ihm benannte Bewegung der Corona-Kritiker. Doch hier hat sich nicht nur der Begriff gewandelt. Es hat sich die Einstellung zu dem gewandelt, wofür er bisher stand. Wer die Orthodoxie herausfordert, ist heute kein Aufrüttler oder Innovator, sondern ein Verräter.

Ins Visier der Verfechter harter Maßnahmen gerieten dabei auch etablierte Wissenschaftler. Es ging so weit, dass Redakteure des Spiegel dem Talkshow-Gastgeber Markus Lanz vorwarfen, „für den Tod von tausenden von Menschen“ verantwortlich zu sein, weil er in seiner Show wiederholt den Virologen Hendrik Streeck (Uni Bonn) und den Epidemiologen Alexander S. Kekulé (Uni Halle) zu Gast hatte, die sich kritisch zu einzelnen Aspekten der Lockdown-Politik äußerten. Der Fernseh-Entertainer (und nationale Tugendwächter) Jan Böhmermann forderte in diesem Zusammenhang per Tweet vom 5. September 2021: „Meinungen im öffentlichen Raum sollten einer strengen, umfassenden medialen und gesellschaftlichen Qualitätskontrolle standhalten. Die öffentliche Repräsentation von Meinungen muss nach Qualität erfolgen.“

Die Wissenschaft leidet

Der Kulturkampf an den Universitäten und allgemein innerhalb der akademischen Klasse ist nicht gut für die Wissenschaft. Mit der Ausweitung der Aufgaben der Hochschule geht die Moralisierung und Politisierung der Wissenschaft einher. Die Politik nutzt die Wissenschaft, um sich hinter ihr zu verstecken („Follow the Science“) und einige wenige Wissenschaftler drängt es ins politisch-mediale Rampenlicht, das es ihnen ermöglicht, ihre Sicht der Dinge als die Wissenschaft und sich selbst als Welterklärer und mitunter als Weltrettungsexperten zu präsentieren. 

Paradigmatisch ist hier das Diktum „The science is settled”, mit dem beim Thema Klima zum Ausdruck gebracht wird, dass Klimapolitik nicht mehr hinterfragt werden darf. Der Wesenskern der Wissenschaft besteht allerdings darin, dass sie nie „settled” ist, sondern immer nur „work in progress”. Wissenschaftlicher Fortschritt erfolgt ausschließlich durch Infragestellen des bestehenden Wissens. Intellektuelle Tugendwächter oder Orthodoxiehüter sind der Tod der Wissenschaft.

Vielleicht noch fataler ist das konformistische Meinungsklima für die Lehre. Es werden heute von verschiedener Seite „Wünsche an die Lehre“ herangetragen, die grundsätzlich geeignet sind, ihre Freiheit einzuschränken. In den allermeisten Fällen erfolgt dies nicht, indem Vorgaben und Regeln gegen den Willen des Hochschullehrers durchgesetzt werden, sondern dadurch, dass dieser jenen um des lieben Friedens willen entspricht – allzu oft auch wegen eigener konformistischer Neigungen, die einem das Leben (in einer Kultur der Angst) ja durchaus erleichtern können. An den Unis gilt: Wenn das Current Thing im Raum steht, wird mitgespielt. Da akademische Karrieren in hohem Maße davon abhängen, dass man publiziert, Vorträge hält, Drittmittel einwirbt, ggf. auch die Politik berät, ist der Druck auf Wissenschaftler, nicht durch kontroverse Äußerungen aufzufallen, sehr hoch. Wer etwas Falsches sagt, wird schnell stigmatisiert, hat es schwerer, zu publizieren oder Fördermittelanträge durchzubekommen, wird seltener zu Gastvorträgen eingeladen usw..

„Durch die moralische Selbsterhöhung und den zunehmenden expertokratischen Missbrauch von Wissenschaft wächst die Kluft zwischen Akademia und der Welt der normalen Menschen."

Druck kommt von allen Seiten: von Studenten, von der Hochschulleitung, von den Kollegen und nicht zuletzt auch aus Politik und Medien. Für eine Einschränkung gibt es jedoch keine Legitimationsgrundlage. Denn, wie der Jurist Christian von Coelln schreibt, hängt der Schutz der freien Lehre „nicht davon ab, wem die vertretenen Thesen oder schon die behandelten Themen missfallen, ob die Positionen als politisch inopportun gelten, wie meinungsstark, gut organisiert und empörungsaffin ihre Gegner sind oder mit welchem Anspruch moralischer Überlegenheit sie antreten.“

Selbst in der Sprache wird Wissenschaftlern ein dauerndes Bekenntnis zum Current Thing „Gendersensibilität“ abverlangt. Wer regelmäßig die Wissenschaftssendungen im Deutschlandfunk hört, dem ist längst aufgefallen, dass dort praktisch nie Wissenschaftler zu Wort kommen, die nicht gendern. Entweder es gibt keine mehr. Oder die Medien reden nur noch mit den zeitgeistkonformen. Zu diesem Phänomen beitragen mag auch die Tatsache, dass in den Wissenschaftssendungen die meisten Beiträge Themen der politisierten Wissenschaft (Klimaschutz, Seuchenschutz, Umweltschutz, Minderheitenschutz, Tierschutz, usw.) behandeln. Das gleiche gilt offensichtlich für den Kulturbetrieb und die Kultursendungen.

Durch die moralische Selbsterhöhung und den zunehmenden expertokratischen Missbrauch von Wissenschaft wächst die Kluft zwischen Akademia und der Welt der normalen Menschen. Der amerikanische Psychologe und „Public Intellectual“ Steven Pinker schreibt: „Meine eigene Erfahrung als Wissenschaftskommunikator bestätigt, dass ein enormes Misstrauen gegenüber dem wissenschaftlichen und akademischen Establishment besteht, weil die Menschen glauben, dass diese Einrichtungen von der politischen Linken gekapert wurden und dass jede Abweichung von der Orthodoxie mit Zensur oder Annullierung (cancellation) geahndet wird.“

Die schweigende Mehrheit

Ich will mit etwas Positivem enden. Der aktuelle Zeitgeist begünstigt zwar in hohem Maße Konformismus und Selbstzensur. Die Universitäten und von ihnen ausgehend die akademische Klasse ziehen ihr Selbstbewusstsein immer weniger aus wissenschaftlichem Erkenntnisdrang oder professioneller, nützlicher Arbeit und immer mehr aus dem Gefühl moralischer Überlegenheit und der Berechtigung, ja geradezu Verpflichtung zu Diskurslenkung, Volkserziehung und Verhaltensregulierung.

Aber: Es ist nach wie vor eine Minderheit, die sich aktiv als Gesinnungswächter betätigt und mit den Mitteln der Cancel Culture konformistisches Verhalten durchsetzt. Die meisten Menschen haben zwar keinen ausgeprägten Widerstandsgeist, sie sind aber keineswegs begeistert von dieser Kultur der Angst und Reglementierung. Sie halten sich im Wesentlichen raus. Aber bei ihnen wächst doch das Unbehagen. Das zeigen aktuelle Umfragen. Erstmals seit über 60 Jahren stimmten 2021 weniger als 50 Prozent der Aussage zu, man könne in Deutschland „seine politische Meinung frei sagen“. Es waren nur 45 Prozent, satte 21 Prozent weniger als noch 2011, während 44 Prozent der Befragten angaben, man lasse hier lieber Vorsicht walten. (Bezeichnenderweise empfanden mit Abstand am wenigsten Meinungsklimadruck die Grünen-Anhänger.) In einer weiteren Erhebung, die das Allensbach-Institut im Auftrag des Deutschen Hochschulverbands und der Konrad-Adenauer-Stiftung im Oktober 2021 bei rund 1000 Wissenschaftlern durchführte, gaben 40 Prozent an, dass sie sich „in ihrer Lehre durch formelle oder informelle Vorgaben zur Political Correctness stark oder etwas eingeschränkt“ fühlten. 18 Prozent sagten, dass Political Correctness es verhindere, dass man bestimmten Forschungsfragen nachgehen könne. Insbesondere die Geistes- und Sozialwissenschaften sind betroffen. Aktuell sehen dort über die Hälfte Lehre und Forschung eingeschränkt.

Das Unbehagen wächst, der Leidensdruck nimmt zu. Noch gilt wohl: Es muss schlimmer werden, bevor es besser wird. Doch die Stimmung wird irgendwann kippen.

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