01.11.2021

Tugendhaft gegen den Pöbel

Rezension von Nico Hoppe

Titelbild

Foto: John Duffy via Flickr / CC BY 2.0

In „Virtue Hoarders“ zeigt die US-Amerikanerin Catherine Liu auf, wie die an grünen, postmodernen und identitätspolitischen Ideen orientierte Mittelschicht den Neoliberalismus stützt und legitimiert.

Während es als Binsenweisheit gilt, dass der Einfluss der postmodernen Linken auf die Universitäten, die Medien und die öffentliche Meinung in den USA bislang wesentlich größer ist als in den europäischen Nationen, wird gern vergessen, dass zuweilen auch die kaum hörbare, aber vorhandene linke (Selbst-)Kritik in den USA auf höherem Niveau stattfindet. Davon zeugt beispielsweise der Begriff der Professional Managerial Class (kurz: PMC), der bisher wenig im deutschsprachigen Raum rezipiert wird, obwohl er zur Analyse der postmodernen Linken mehr als hilfreich wäre. Das zeigt ein unlängst erschienenes Buch von Catherine Liu, mit dem die Professorin für Film- und Medienwissenschaften in Kalifornien eine gelungen maliziöse Streitschrift gegen die ideologische Vorherrschaft der linksliberalen Mittelklasse vorgelegt hat.

Die dieser Mittelklasse Zugehörigen arbeiten als Lehrer, Sozialarbeiter, Künstler, Journalisten, Professoren, Manager. Sie sind materiell gut abgesichert, vernetzt, flexibel und engagiert. Ihre vermeintliche Tugend ist ihr größter Stolz, weswegen von Bildung und Erziehung über Gesundheit und Ernährung bis zu Fragen der Sexualität und Identität kaum eine Domäne existiert, die sie nicht zum Revier ihrer moralischen Hoheit umfunktionieren. Im Gegensatz zum einschlägigen konservativen Lamento über „Tugendterror“ und Hypermoral lautet der zentrale Vorwurf Lius an die „Virtue Hoarders“ jedoch, dass deren liberal-elitäre Agenda im Dienste des neoliberalen Kapitalismus stehe.

„Beschäftigt werde sich nicht mehr mit ökonomisch-sozialen Themen sondern mit Fragen des Lebensstils und Konsumverhaltens.“

Beschäftigt werde sich nicht mehr mit ökonomisch-sozialen Themen sondern mit Fragen des Lebensstils und Konsumverhaltens. Wer mit den Trends, Geschmäckern und Dogmen der PMC nicht mithält oder es aus materiellen Gründen womöglich gar nicht kann, hat in den Augen jener Bessergestellten schlicht die falsche Entscheidung getroffen, denn jeder sei schließlich seines eigenen Glückes Schmied. Die PMC führt mit diesem implizit immer mitgedachten, neoliberalen Trugschluss einen Klassenkampf gegen die Arbeiter, in denen sie ewiggestrige weltanschauliche Nachzügler zu sehen meint. Für den scheinbaren Pöbel hat man nur noch verächtliche Blicke übrig, denn in ihm erblicke man die „albtraumhaften Doppelgänger“, das Drohbild seiner selbst, wenn man einmal doch die bequeme Position des ideologischen Pioniers verlieren solle. Die PMC nehme stattdessen lieber Vorlieb damit, „den tugendhaften Helden in moralisch eindeutigen Dramen zu spielen, in denen ökonomische Ausbeutung kein Problem darstellt.“

Liu bezieht sich auf die Untersuchungen von Barbara und John Ehrenreich, die bereits 1977 davor warnten, dass die PMC – die ausgehend von ihrer Konsolidierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich einmal eine progressive, nicht arbeiterfeindliche Funktion einnahm – zunehmend zur wichtigsten Stütze des Kapitalismus mutiere. Die Befürchtungen der Ehrenreichs seien laut Liu sogar übertroffen wurden, indem die Wunschträume der 68er und der neuen sozialen Bewegungen auf eine verquere Art in Erfüllung gingen: Genauso wie die Begeisterung für Gegen- und Subkulturen heute in kommerzialisierter Form fester Bestandteil der täglichen medialen Bespaßung ist, so müssen auch der globalisierte Kapitalismus und die Generation der sogenannten „Digital Natives“ inzwischen als verkorkste Karikatur der kosmopolitischen Vision herhalten.

Ohne Umschweife habe sich der Hippie in den Yuppie verwandelt, so Liu. Beide eint das geringschätzige Urteil über die spießigen Normalos, denen man ehemals die fehlende Rebellion gegen das System übelnahm, während man sie nun für ihre nicht gender- und diskriminierungssensiblen Ansichten und Ausdrücke – also ihre Unangepasstheit an den Zeitgeist – geißelt. Ohne es sich selbst einzugestehen, ist die PMC auf den Kapitalismus angewiesen, weil sie mit seinen offenen Fürsprechern nicht zuletzt die ahistorische Auffassung teilt, dass die kapitalistische Ökonomie nur eine Facette unter vielen sei und nicht ein alles grundierendes Verhältnis. Folgerichtig lehnt sich die PMC zurück und zieht es vor, „über Vorurteile statt Ungleichheit, Rassismus statt Kapitalismus, Sichtbarkeit statt Ausbeutung zu sprechen.“

„Wofür der Neoliberalismus ganz offen wirbt, versucht die längst auf Linie gebrachte Linke noch zu übertünchen – mit Erfolg.“

Auch wenn Liu sich in „Virtue Hoarders“ auf die USA konzentriert, wäre es gerade in Zeiten, in denen sich die FDP und die Grünen als Parteien der jungen, urbanen Mittelklasse in Stellung bringen, notwendig, den Begriff der PMC hierzulande stärker in die Analyse einzubeziehen. Denn trotz offenkundiger inhaltlicher Differenzen zwischen FDP und Grünen in Bezug auf wahlpolitische Forderungen lässt sich nicht leugnen, dass beide wohl – wenn auch unterschiedlich akzentuiert – am umfänglichsten die Klasseninteressen und die Denkart der PMC vertreten. Das bezeugt die schon lange bestehende Verzahnung von Neoliberalismus und den von solidarischer Klassenpolitik abgerückten, auf Befindlichkeiten und Quoten fixierten Leitbildern der postmodernen Linken: Der identitäre Tribalismus der Linken zehrt vom pseudoindividualistischen Freiheitspathos ebenso wie die postmoderne Linke regelmäßig das rhetorische Rüstzeug für den ökologisch korrekten gesellschaftlichen Umbau liefert, dessen Kehrseite weiterer Sozialabbau sowie die verstärkte Belastung und Ächtung der Arbeiterklasse sind.

Dass die einen noch etwas mehr auf das neoliberale Leistungs- und Konkurrenzprinzip pochen, während die anderen Arbeitern und Arbeitslosen zumindest dann, wenn sie nicht rechts wählen, noch etwas Respekt für ihr Elend zukommen lassen wollen, ist jedenfalls kein gewaltiger Unterschied. Anders gesagt: Wofür der Neoliberalismus ganz offen wirbt, versucht die längst auf Linie gebrachte Linke noch zu übertünchen – mit Erfolg. Zur Sprache gebracht wird diese praktische Symbiose in der öffentlichen Auseinandersetzung selten, was allerdings bloß beweist, wie gut jene weltanschaulichen Versatzstücke ineinandergreifen, seit die durchliberalisierte Linke das Ideal universeller Emanzipation durch den uniformen Traum politisch korrekter Lebensentwürfe ersetzt hat und somit die Waffen der Kritik dienstbeflissen streckte.

Als linke Kritikerin der Linken befindet sich Liu in einem Widerspruch, dem sich heute nahezu jeder (ex-)linke Kritiker der postmodernen Linken gegenüber sieht: Selbst de facto zur PMC gehörend, ist Liu darin zuzustimmen, dass „Virtue Hoarders“ in erster Linie wohl von genau der Klasse gelesen wird, die sie kritisiert. Wenn Liu an die Angehörigen der PMC appelliert, dem falschen Bewusstsein ihrer Klasse abtrünnig zu werden, darf nicht vergessen werden, dass die Abkehr der Linken von der Arbeiterklasse kein Ausrutscher war, sondern vielmehr persönlichen, ökonomischen wie psychologischen Interessen entsprach. Dennoch setzt Liu auf die prekäre Hoffnung, dass das kritisierte Milieu zugleich jenes ist, das im Gegensatz zu so manchem konservativen Kritiker der postmodernen Linken immer noch am ehesten zu einer schwerwiegenden Erkenntnis fähig ist: Und zwar, dass der Liberalismus die „universellen Prinzipien von Gerechtigkeit, Würde und Emanzipation“ gewiss proklamiert, niemals aber verwirklichen kann.

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