05.06.2019

Farbenspiele im Supermarktregal

Von Detlef Brendel

Einige Nahrungsmittelkonzerne machen sich die Diskussion um Lebensmittelampeln zunutze und führen einen Nutri-Score ein. Diese Packungsaufdrucke dienen eher der Verwirrung als den Verbrauchern.

Seit langem fordern neben anderen die „Es­sensretter“ von Foodwatch eine Lebensmittel-Ampel. Und jetzt machen sich einige Nahrungsmittel-Multis wie Danone, Iglo und McCain mit der Nutri-Score-Ampel auf, um unter dem Beifall von Foodwatch ein System der Ernährungsmanipulation zu installieren, das die Menschen nicht gesünder, aber die Marketingstrategien perfekter macht. Dabei wird versucht, die Politik zu instrumentalisieren, um durch farbenfrohe Health-Claims die Nahrungsmittel zu regulieren und damit nicht die Menschen, sondern den Markt schlanker zu machen.

Plakativ soll künftig auf den Verpackungen der sogenannte Nutri-Score prangen, der als wissenschaftlich anmutende Empfehlung signalisiert, was man aus Regal und Tiefkühltruhe nehmen darf und was man besser liegen lassen sollte. Fünf Felder im Farbverlauf von einem grünen A bis zu einem roten E sollen den Verbrauchern sinnvolle Orientierung beim Einkaufen bieten. Grün ist die Hoffnung auf gesunde Ernährung und rot die gelernte Warnfarbe. Das Wissen, wie individuell ausgewogene Ernährung aussehen sollte, wird durch den Nutri-Score überflüssig gemacht. Wer muss sich schon mit Kohlenhydraten, Eiweiß und Fett, einzelnen Mineralstoffen oder Vitaminen beschäftigen, wenn die Vorderseite der Verpackung von Nahrungsmitteln signalisiert, was aus den Regalen des Handels in den eigenen Haushalt wandern sollte?

Die Idee dieser Ampel erfordert Ignoranz gegenüber Grundla­gen der Ernährungswissenschaft. Die individuelle Ernährung eines Menschen ist die Summe der unterschiedlichen Nah­rungsmittel mit ihren vielfältigen Charakteristika, die er in verschiedenen Mengen verzehrt. Die Ampel-Strategen dürfen sich durch eine solche grundlegende Tatsache nicht irritieren las­sen. Sie müssen schließlich der Komplexität von Ernährung eine simple Struktur geben, die für jedes isoliert betrachtete Le­bensmittel einen Farb-Code der Bewertung zulässt. Kollateral­schäden dieser Strategie sind nicht nur die Diskriminierung wertvoller Nahrungsmittel, sondern letztlich das Ende der ge­samten Ernährungsaufklärung. Niemand muss sich mit den Prinzipien einer ausgewogenen Kost beschäftigen, wenn Am­pelfarben signalisieren, was zu kaufen ist. Convenience-Food wird mit mentaler Convenience perfekt kombiniert.

„Fertiggerichten beigemischtes Wasser drückt den Score in die grüne Richtung.“

Die gelernten Signalfarben Grün und Rot haben für den Verbraucher den Charakter von gesundheitsbezogenen Aussagen. Grün ist gesund und ein rot gekennzeichnetes Produkt ist offenbar nur für risikofreudige Konsumenten geeignet. Diese werbliche Profilierung ist natürlich gewollt. Vor dem Hintergrund der Komplexität von Ernährung fehlt dafür allerdings jegliche wissenschaftlich evidente Basis. Das unterstreicht Prof. John Ioannidis, der an der Stanford Universität die wissenschaftliche Qualität von Forschung analysiert. Nach seinen Meta-Untersuchungen sind 85 Prozent der angeblich ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse permanent publizierte Beobachtungsstudien, Interpretationen und Mutmaßungen, die sie für den Papierkorb qualifizieren. Ähnlich sieht das Prof. Peter Stehle, ehemals Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, der eine Aufteilung in gute und schlechte Nahrungsmittel grundsätzlich ablehnt. Er kritisiert Formulierungen wie „gesund“ und „ungesund“ als falsch, weil sie den Eindruck erwecken würden, das eine darf ich, das andere nicht. In der Ernährungsforschung, so Stehle, dürfe es kein Schwarz und Weiß (beim Nutri-Score also Grün und Rot) geben, auch wenn viele das gerne hätten.

Wasser statt Olivenöl

Der Nutri-Score ist die Umsetzung von scheinbar wissenschaftlichen Annahmen und Behauptungen, mit der die Unternehmen eine Auswahl ihrer Produkte in einem guten Licht erscheinen lassen wollen. Für seine Berechnung werden vier angeblich negative Komponenten wie Energiegehalt, Zucker, gesättigte Fettsäuren und Salz mit drei angeblich positiven Komponenten wie dem Anteil an Obst, Gemüse, Schalenfrüchten, Eiweiß und Ballaststoffen mit Punkten bewertet und gegeneinander aufgerechnet. Durch diese Pauschalisierung kommt es zu den irrwitzigen Ergebnissen, dass beispielsweise ein aus Fett bestehendes Olivenöl ein rotes E erhält. Unter der Annahme, dass jemand die Literflasche genüsslich austrinkt, hätte das Öl die aufgedruckte Warnung verdient. Aber auch nur dann. Fertiggerichten beigemischtes Wasser drückt den Score in die grüne Richtung. Das kommt den Produzenten industriell gekochter Gerichte natürlich sehr entgegen. Reichlich Wasser senkt den relativen Energiegehalt und täuscht damit im Vergleich zu den Trockenprodukten eine höhere Wertigkeit vor.

Das mag für das individuelle Marketing dieser Unternehmen vorteilhaft sein, für den Verbraucher ist es die pure Verwirrung. Er wird im Handel feststellen, dass ein mit C gekennzeichnetes Rapsöl offenbar besser ist als ein mit D markiertes Olivenöl. Warum soll Olivenöl, das ganz wesentlich zu der immer wieder gepriesenen mediterranen Küche gehört, jetzt eigentlich schädlich sein? Soll er sich für ein Roggenbrot mit A entscheiden, weil ein Knäckebrot nur mit C gekennzeichnet ist? Warum ist ein mit D markierter Räucherlachs ungesund, während ein gefrorener Lachs mit A als gesund gekennzeichnet wird? Ein Fertiggericht mit Schnitzel, Spaghetti und Tomatensauce aus der Retorte erweckt mit einem A geradezu den Eindruck, es sei als tägliches Nahrungsmittel für die Gesundheit besonders wertvoll. Zur Abwechslung können die mit einem lindgrünen B gekennzeichneten Fischstäbchen mit Fertigpommes kombiniert werden, die ein sattgrünes A haben.

„Der Nutri-Score ist eine perfide Form der Verbrauchermanipulation.“

Der Irrweg des Nutri-Scores lässt sich auch am Beispiel von Nudeln transparent machen. Fertigprodukte, die so genannten Ready-to-eat-Produkte, also verzehrfertig vorbereitete Nudeln in Konserve oder Folie, schneiden besser ab als Nudeln, die in der Küche selbst zubereitet werden müssen. Das liegt an ihrem höheren Wassergehalt, der ihnen einen Vorteil verschafft. Herkömmliche Nudeln in der Packung, die zu Hause noch selbst im Wasser zu kochen sind, werden mit dem Trockengewicht berechnet. Das lässt sie schlechter abschneiden als die industriell gekochte Nudel in der Dose. Die fürsorgliche Hausfrau nimmt aus Sorge um die Gesundheit der Familie dann doch lieber die mit Wasser angereicherte Konservennudel und spart zudem auch noch die Zeit, diese selbst kochen zu müssen. Dosenöffner und Mikrowelle werden damit zu Instrumenten einer vermeintlich gesunden Küche.

Durch die isolierte Betrachtung eines einzelnen Produkts, bei der es keine Informationen über den Anteil von Rezeptur-Komponenten an einem durchschnittlichen Tagesbedarf gibt, wird der Verbraucher dazu verführt, das Produkt als gesund oder ungesund zu bewerten. Das stellt die Realität der Ernährung, die eine Summe der verzehrten Nahrungsmittel ist, auf den Kopf. Zu einer ausgewogenen Ernährung gehört die Kombination von vielfältigen Lebensmitteln mit unterschiedlichen Nährwertgehalten. Fleisch, Fisch, Käse, Wurst, Brot, Gemüse und viele andere Bausteine mehr machen in ihrer Summe die Ernährung aus. Genau darauf versperrt der Nutri-Score den notwendigen Blick. Er ist eine perfide Form der Verbrauchermanipulation.

Wettbewerbsverzerrung zugunsten der Großen

Der Score bedient die Marketinginteressen von Herstellern, die ihre Produkte in der Konkurrenz zu anderen Produkten durch möglichst grüne Farbtöne schmücken wollen. So sollen im Wettbewerb mit vergleichbaren Lebensmitteln Präferenzen entstehen. Die Entscheidung, was gesunde Ernährung ist, wird damit in die Marketingabteilungen der Nahrungsmittelproduzenten verlegt. Die gezielt selektive Definition des Scores motiviert die Hersteller, die Rezepturen den Score-Kriterien anzupassen. Das manipuliert nicht nur das Einkaufsverhalten, sondern kann wirkungsvoll dabei helfen, die Vielfalt des Angebots zu reduzieren. Denn interessante und für viele Verbraucher attraktive Nahrungsmittel, die keinen oder einen schlechten Score haben, werden künftig im Nachteil sein.

Die international agierenden Massenfabrikanten setzen auf den Windkanal der Reformulierung, um ihre Rezepturen score-gerecht zu stylen. Ganze Designabteilungen arbeiten an der Food-Architektur. Kleine und mittlere Hersteller bleiben mit ihren Spezialitäten und Marken auf der Strecke. Für sie sind Reformulierungen ihrer bisher geschätzten Produkte oft unsinnig, schwieriger zu entwickeln und unter wirtschaftlichen Aspekten unvertretbar aufwändig. Das verstärkt den Wettbewerbsdruck. Und noch ein weiterer Aspekt kann diesen Unternehmen erhebliche Nachteile bringen: Die score-gerechte Reformulierung ist die Institutionalisierung der geschmacklichen Gleichmacherei. Daraus werden auch im Handel Veränderungen resultieren. Bei gleichen oder ähnlichen Produkten kann und wird der Handel eine schärfere Selektion vornehmen. Diese Verschlankung des Angebots wird zu Lasten kleiner und mittlerer Anbieter gehen. Mit den großen Produzenten wird der zentrale Einkauf der Handelsketten Optimierungspotenziale generieren können und auf kleinere Anbieter verzichten. Das verstärkt die Verengung des Marktes. Die Existenz mancher Lebensmittelfabrikanten und die Verringerung des Angebots für die Konsumenten sind Konsequenzen, die die großen Konzerne gezielt anstreben.

„Bei der Ampel geht es um strategisch motivierte Profilierung und Diskriminierung von Lebensmitteln durch Regulierung.“

Um diesen Effekt im Markt zu erreichen, wird von der Politik gefordert, das System der Markt- und Ernährungsmanipulation verbindlich für alle einzuführen. Im Februar 2016 hatte bereits Nestlé unter der Überschrift „Wanted: EU Policy for better Innovation in Nutrition“ mit einer verblüffenden Offenheit versucht, die Parlamentarier der EU zu instrumentalisieren. Wenn neue Nestlé-Rezepturen, die das Unternehmen als Messlatte der Ernährung erachtet, den Verbrauchern nicht mehr so gut schmecken, sollen auch die Wettbewerber zu einem konformen Verhalten bei ihren Rezepten gezwungen werden. Wenn das Müsli bei Nestlé nicht mehr mundet, soll es auch bei den Wettbewerbern nicht schmecken. Mehr noch: Eigentlich gehören den Verbrauchern sogar die Zucker- und Salzstreuer entzogen. Nestlé damals wörtlich: „Verbraucher akzeptieren beim Geschmack eines Produkts keine großen Veränderungen und schauen sich dann nach Alternativen um oder fügen selbst Zucker oder Salz hinzu.“

Auch jetzt wird unter dem Deckmantel des Verbraucherschutzes wieder versucht, die Politik zu zwingen, den Markt gefügig zu machen. Bei der Ampel geht es um strategisch motivierte Profilierung und Diskriminierung von Lebensmitteln durch Regulierung. Dem Verbraucher wird suggeriert, er könne sich ohne weiteres Nachdenken gesund ernähren, wenn er nur möglichst viele Produkte mit grünen Ampelpunkten wählt. Roten Marken soll er mit Vorsicht begegnen. Wählen darf der Bürger, zum Einkaufen ist er aber zu blöd.

Die Politik würde sich zum Handlanger von Konzernen machen, die den Markt nach ihren Wünschen gestalten wollen. Fertiggerichte aus dem Score-Windkanal wären eine gesetzlich verordnete Kost, die weder Vitalität noch längeres Leben beschert. Denn die Gesundheit der Menschen ist nur ein von den strategischen Intentionen ablenkender Vorwand.

Die persönliche Verantwortung für die eigene Gesundheit, zu der weit mehr als nur bedruckte Konserven, Becher und Tüten gehören, darf nicht dem Staat und den Strategen multinationaler Konzerne übertragen werden. Die Politik muss ihre Lust an der Regulierung mit den damit verbundenen Einschränkungen von Freiheit zügeln. Bei der individuellen Ernährung zeugen paternalistische Vorgaben von besonders schlechtem Geschmack.

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