23.02.2018

Versöhnen statt Ampel

Von Daniel Kofahl

Titelbild

Foto: Alpha (CC BY-SA 2.0 / bearbeitet)

Wir sollten uns mit unserer modernen Esskultur versöhnen, statt anderen Menschen ihr Essen vorzuschreiben oder Lebensmittelampeln zu fordern.

Zu fett, zu zuckrig, zu fleischig, zu viel von allem; nur von dem stets zu wenig, von dem man immer mehr essen sollte: zu wenig Gemüse, zu wenig Ballaststoffe, zu wenig Naturkost. Wenn man sich die Beschreibungen, Analysen und populären Diskussionen zur Ernährungssituation in der Gegenwartsgesellschaft durchsieht, dann scheint sie von einer großen Krise geprägt zu sein. Vorgeblich ernährungsbedingte Krankheiten oder durch Nahrungsmittel in Umlauf gebrachte Krankheitserreger wie Zucker, Fett oder Schweinefleisch bedrohen die menschliche Zivilisation. Es scheint einem Wunder zu verdanken, dass die Lebenserwartung so hoch klettern konnte wie nie zuvor. Und dass die Konsumenten weiterhin zu all diesen Giftstoffen greifen, dies kann einzig und allein durch Süchtigmacher erklärt werden. Zucker, so heißt es zum Beispiel, soll genau so übel wie sein wie Heroin.

Die Absurdität dieses Arguments wird deutlich, wenn man sich vorstellt, man würde ein Kind vor die Wahl stellen, ob es nun ein Zuckerbonbon haben möchte oder lieber eins, das mit Heroin versetzt ist. Wer das miteinander gleichstellt, glaubt wahrscheinlich auch, nach dem Genuss einer Cola nie wieder auf die Beine zu kommen. Andererseits erklärt eine solche, vor riskanten Verführungen jeder Art zitternde Einstellung auch, warum die von ihr Geplagten unbedingt eine möglichst harte und strenge Lebensmittelampel fordern. Einerseits scheint es für sie wirklich nicht klar zu sein, wie viel von manchen Lebensmitteln bekömmlich ist oder nicht. Ihr Körpergefühl muss stark gestört sein. Andererseits scheinen sie auch gerade bei den für sie so gefährlich wirkenden Lebensmitteln eine besondere Anziehungskraft zu verspüren.

Man kann sie sich förmlich vorstellen, wie sie sich mit zusammengekniffenen, entschlossenen Augen und dem sprichwörtlich im Munde zusammenlaufenden Wasser an Limonaden, knallbunten Süßigkeiten und dicken Würsten vorbeizwängen, um ihren Einkaufswagen voller tapfer eingesammeltem Gemüse und kalorienreduzierter Kost zur Supermarktkasse zu schieben. In der Furcht lebend, sich irgendwo vergriffen zu haben und ein trojanisches Leckerchen im Gepäck und bald im Mund zu haben. Gleichzeitig sind sie beseelt vom missionarischen Eifer, all die kulinarisch-konsumistisch Ungebildeten in diesem Land auch noch vor dem allerorten in den Regalen lauernden Frevel zu bewahren.

„Der Großteil paternalistisch inspirierter Geschmacksschulen findet mittels negativer Geschmacksbildung statt.“

Aber was sind das eigentlich für Ruchlosigkeiten, mit denen man als nun einmal notwendig Essender und Essende heutzutage konfrontiert wird? Zunächst einmal kann man wohl feststellen, dass es sich um Lebensmittel handelt, die von solch einer Art sind, dass sie einem großen Teil der Bevölkerung ganz hervorragend munden. Dies ist das große Dilemma ihrer Gegner. Denn es bedarf harter Überzeugungsarbeit und reißerischer Kampagnen, den Konsumenten deutlich zu machen, dass das, was ihnen da so gut schmeckt, eigentlich gar nicht schmeckt. Es ist der wundeste Punkt der zumeist antiindustriell und reduktionistisch auf einzelne physiologische Gesundheitsvariablen schielenden Kampagnen: So sehr sie sich auch bemühen, ebenso schmackhafte oder noch besser schmeckende Produkte zu generieren, irgendwie fruchten die Bemühungen nicht so richtig. Der mit viel Aufwand zusammengestellte Rohkost-Gemüse-Teller lacht das Kind zwar an, Kinder lachen nur leider noch lieber Schnitzel mit Pommes und auch gern Schokoladeneis aus dem Fünf-Liter-Eimer an – egal wo es herkommt und wie es produziert wurde. Hauptsache es ist gut zubereitet und schmeckt.

Erwachsene wissen ebenfalls, dass der Salat mit magerer Pute gesund sein soll und in nur fünfzehn Minuten zubereitet ist – den Einkauf mal nicht mitgerechnet. Sie greifen dann aber auch lieber zu Currywurst oder Convenience Food, weil das eben nur fünf Minuten Zubereitungszeit benötigt und für sie – trotz aller Beschwörungen – ein Stück entspannten Alltagsgenuss bietet. So findet dann der Großteil paternalistisch inspirierter Geschmacksschulen mittels negativer Geschmacksbildung statt. Das heißt, sie baut gar nicht so sehr darauf, selbst besonders wohlschmeckende gesunde Gerichte hervorzubringen, sondern konzentriert sich darauf, den Menschen den lustvollen Geschmack am Gewohnten madig zu machen.

Ernährungsbezogene Konsumentenwünsche im positiven Sinne zu erfüllen ist eben gar so nicht einfach. Zum einen sind die Essgewohnheiten durch die körperlich eindrückliche, alltäglich mehrmals stattfindende Sozialisation sehr konservativ angelegt. Zum anderen möchten Verbraucher in der Moderne selbstverständlich auch mit Innovationen überrascht werden, die sich allerdings in einem erwartbaren Rahmen abspielen sollen und schmecken müssen. Gerade im Lebensmittelsegment ist dies eine enorme Herausforderung, versanden doch über 60 Prozent aller Produktinnovationen, mittelfristig durchsetzen können sich lediglich etwa 25 Prozent der Neuheiten.

„Von den heutigen Gaumenfreuden konnten unsere Vorfahren nicht einmal träumen.“

Allein dieses Spiel von alimentärer Tradition und kreativem Fortschritt am Laufen zu halten ist eine Leistung des produzierenden Ernährungssektors in seiner jetzigen Form. Sicherlich, die ganz Schlauen der neuen Altmodischen antworten darauf mit dem romantisierenden „man soll nichts essen, was die eigene Großmutter nicht schon gegessen hat“. Aber das kann kaum jemand ernst meinen. Keine Pizza? Kein Sushi? Kein Veggie-Schnitzel? Kein Tiefkühlgemüse, das ohne jegliche Zusatzstoffe in höchster Qualität im Sommer eingefroren und im Winter genossen werden kann? Kaum vorstellbar. Nur gut, dass allein die Zeit dieses Argument schon aushebelt, jüngere Großmütter haben inzwischen bereits so einiges von dem gegessen, was als moderne Kost gilt.

Die Großmütter, auf die von den Gegnern der Agrar- und Ernährungsindustrie sowie einer hedonistischen Ernährungspraxis immer wieder gern verwiesen wird, hatten auch noch ein ganz anderes, ganz drängendes Problem. Sie waren in vielen Fällen zumindest einmal, manchmal auch öfter in ihrem Leben, mit existenzbedrohendem Hunger, Mangelernährung oder auch einfach mit heftigen Entbehrungen beim Essgenuss konfrontiert. Dass in der Gegenwart das globale Hungerproblem vorwiegend als Verteilungs- und nicht als Produktionsproblem diskutiert wird, ist eine Errungenschaft von industrieller Agrotechnik und findiger Ernährungsindustrie. Dass dabei nicht alles ganz glatt läuft und es auch, gerade im ökologischen oder sozialen Bereich, eine Reihe von nicht intendierten Rückkopplungseffekten gibt, kann zwar nicht bestritten werden. Aber die solide Ausgangslage, auf der diese ökologische Debatte geführt wird, nämlich die Produktion und die Versorgung von immer mehr Menschen mit ausreichenden, sicheren und überwiegend hochwertigen Lebensmitteln, ist durch industrielle Methoden geschaffen worden.

Auch die kulinarische Teilhabe, also der demokratische und egalitäre Zugang von breiten Bevölkerungsschichten zu ehemals allein einer wohlhabenden Oberschicht zugänglichen Speisen wie Fleisch, exotischen Früchten oder auch Schokolade, Eiscreme und anderen Süßigkeiten, ist auf die hochmoderne Produktion zurückzuführen. Denn damit kamen hochwertige Waren zu erschwinglichen Preisen auf den Markt. Sicher, nicht alles davon ist gleich ein Premiumprodukt aus dem gehobenen Gourmetsegment, aber von den Gaumenfreuden, wie sie heute zum Glück viele Menschen genießen dürfen, konnten unsere Vorfahren aus rein agrarisch und handwerklich geprägten Gesellschaftsformen nicht einmal träumen.

„Es gibt keinen Kausalzusammenhang zwischen Schlanksein und Gesundheit.“

Das ist auch gut so, sagen dazu die Anhänger eines rigorosen Schlankheitsideals, die überall übergewichtige, ja sogar adipöse Körper zu entdecken glauben, die sich der Gaumen- und Sinneslust vermeintlich zu sehr hingegeben haben. Dank statistischer Referenzwerte wie dem Body-Mass-Index wird ein Großteil der Bevölkerung als gewichtstechnisch problembehaftet eingestuft. Ob das medizinisch überhaupt Sinn macht, ist hochgradig umstritten, sofern es sich nicht um Extremfälle handelt und zumal es keinen Kausalzusammenhang zwischen Schlanksein und Gesundheit gibt.

Allerdings gibt es einen beständigen Anstieg bei der Anzahl der dauerhaft Ess- und Körpergestörten, die sich vor Kalorien und Körperfett fürchten wie gute Katholiken vor dem Teufel und der Hölle. Immerhin schafft diese Pathologisierung der Massen zahlreiche Arbeitsplätze im Bereich Ernährungsberatung, Diätassistenz, Ernährungsmedizin und nicht zuletzt im Kampagnenmanagement gegen das, was als gastronomisches Sündenbabel angesehen wird. Zum Glück haben sich in den letzten Jahren vermehrt Gegenbewegungen hierzu herausgebildet wie zum Beispiel Health at Every Size und auch in Deutschland gibt es inzwischen eine Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung. Solche Organisationen versuchen zum einen darüber aufklären, dass nicht jeder Wohlbeleibte eine Krankheitsdisposition besitzt, und zum anderen einem Großteil der Menschen in den modernen Industriestaaten dabei zu helfen, ihr Selbstwertgefühl zu verteidigen.

Die masochistische Dauerkritik und Verunglimpfung des eigenen Lebensstils, des eigenen Körpers, der Vorzüge des Lebens, das Erklären von Normalität zur permanenten Grenzüberschreitung, all das ist überhaupt das skurrile Paradox dieser Ernährungs- und Körperkultur. Es wäre an der Zeit, sich mit der Ernährungskultur der Gegenwart zu versöhnen, ein fruchtbares Verhältnis zu ihr zu entwickeln. Zu akzeptieren, dass Menschen gerne Fleisch essen oder Süßes, Salziges und Fettiges verzehren, Limonaden nun einmal in bestimmten Augenblicken besser schmecken als klares Wasser. Und dass der wohlbeleibte Körper kein Stigma ist, sondern ein Ausdruck von Wohlstand sein darf, mit dem in der Wirtschaft oder in der Medizin ebenso konstruktiv und positiv zu verfahren ist, wie dies auch in der erotischen Liebe so mancherorten der Fall ist.

Das heißt auch gar nicht, nicht darüber zu reden, wie ökologisch nachhaltiger und sozial fairer produziert werden könnte, oder Organisationen wie Slow Food nicht als Teil genau dieser hochmodernen Ernährungskultur zu akzeptieren. Sie gehören genauso dazu wie Dönerteller und Marshmallows. Die Zukunft der Ernährung liegt nicht im maximalen, unvereinbaren Antagonismus. Die alimentäre Zukunft liegt in der dialektischen Zusammenführung von Agrar- und Ernährungsindustrie einerseits und den genau sich darauf als Reaktion herausgebildeten Reflexionsbewegungen andererseits. Diese werden dann nicht zu rückwärtsgewandten Romantisierern, sondern zum Innovationspotential einer Ernährungskultur, die bereits heute mehr Gutes als Schlechtes hervorgebracht hat. Vor allem einen reich gedeckten Tisch mit vielen wohlschmeckenden Speisen und Getränken, die es an zahlreiche hungrige Leckermäuler zu verteilen gilt.

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