26.07.2017

Ein Plädoyer für den „Einwanderer“

Kommentar von Kolja Zydatiss

Titelbild

Foto: fsHH via Pixabay / CC0

Nicht alle, die nach Deutschland kommen, sind „Flüchtlinge“. Na und?

Der Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, hat das Thema Flüchtlinge für sich entdeckt. In der Bild am Sonntag warnte er vor einer neuen, großen Krise. Und fing sich sogleich Kritik von der AfD ein. Die Partei kritisierte seine Wortwahl. „Der inflationär genutzte Begriff ‚Flüchtling‘ ist falsch!“, so die AfD in einem Facebook-Post. „Wer über unsere Grenzen kommt, ist mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,5% nicht ‚Flüchtling‘, sondern illegaler Einwanderer.“

Bei den „99,5%“ handelt es sich wohl um eine Übertreibung. Die reißerische Statistik wird von der Partei nicht schlüssig belegt. Die echte Zahl dürfte weit niedriger liegen. Laut dem Bundessamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurden in der ersten Jahreshälfte 2017 in Deutschland 408.147 Asylanträge gestellt, von denen 39 Prozent abgelehnt wurden. Die BAMF-Zahlen zeigen jedoch auch, dass der Facebook-Post der AfD einen wahren Kern enthält: Viele der Ankommenden haben kein Recht auf Schutz nach dem im Grundgesetz verankerten Asylrecht und können daher tatsächlich nicht als „Flüchtlinge“ bezeichnet werden. Zu den Menschen, die aufgrund von Krieg oder politischer Verfolgung ihre Heimatländer verlassen, kommen nicht wenige, die vor allem aufbrechen, weil sie sich in Europa ein materiell besseres Leben erhoffen. Die vor allem von irakischen und syrischen Kriegsflüchtlingen genutzte Balkanroute bleibt weiter geschlossen, dafür kommen immer mehr Bootsmigranten aus dem politisch stabileren Afrika. Der Anteil an Wirtschaftsmigranten wird also in Zukunft noch steigen.

„Man kann davon ausgehen, dass die meisten ‚Flüchtlinge‘ selbst lieber Einwanderer wären.“

Man muss kein Anhänger der AfD sein, um anzuerkennen, dass der Begriff „Flüchtlinge“ genutzt wird, um ökonomische Gründe für die Auswanderung herunterzuspielen und die Schuld- und Schutzlosigkeit der Neuankömmlinge zu betonen. Doch auch die Einwanderungsgegner nutzen bewusst Begriffe, die einen bestimmten Blick auf die Einwanderung erzeugen sollen. Rechts heißt es nicht Flüchtlinge, Geflüchtete oder Refugees, sondern „Wirtschaftsflüchtlinge“, „Asylbetrüger“ oder (wie im AfD-Post) „illegale Einwanderer“.

Das ironische daran: Man kann davon ausgehen, dass die meisten „Flüchtlinge“ selbst lieber Einwanderer wären, wenn es ein Recht auf Niederlassungsfreiheit gäbe, auf das sie sich berufen könnten. Das Asylsystem macht sie von einer Entscheidungsbürokratie abhängig, die ihre Bewegungsfreiheit und Arbeitsmöglichkeiten erheblich (und oft jahrelang) einschränkt. Die Neuankömmlinge sind für den deutschen Staat keine aktiven Subjekte, sondern Versorgungsfälle, die in die staatliche Wohlfahrtsindustrie integriert werden müssen. Sie sollen untergebracht und umsorgt werden, und sich brav und dankbar zeigen. Eigenmächtiges Handeln ist suspekt. Empört stellte Bundesinnenminister Thomas de Maizière 2015 fest, dass einige Flüchtlinge ihre Unterkünfte verlassen und sogar die Frechheit besitzen, längere Strecken mit dem Taxi zurückzulegen.

Zwischen dem Flüchtling und dem Einwanderer liegen Welten. Letzterer ist ein Archetyp so alt wie die Menschheit selbst. Häufig mittellos, aber voller Tatendrang geht er dorthin, wo er für sich eine Zukunft sieht. Er schlägt sich durch, nimmt zunächst schlecht bezahlte Jobs an, hat vielleicht eigene Geschäftsideen, scheitert, steht wieder auf und baut sich mit der Zeit ein immer besseres Leben in der neuen Heimat auf. Die Staaten, die von ihm und seinen Millionen Brüdern und Schwestern geprägt wurden, gehören oft, wie die USA, zu den wohlhabendsten und dynamischsten der Erde.

„Der verdruckste Sprachgebrauch schließt sich implizit einem Denken an, das Einwanderung als Last und Wirtschaftsmigration als unmoralisch betrachtet.“

Viele der Initiativen, die sich für eine liberale Einwanderungs- und Asylpolitik engagieren, haben auch die Nutzung des Flüchtlings-Begriffs vorangetrieben. Laut der NGO Pro-Asyl stellt der Begriff klar, dass die Ankömmlinge es nicht „auf unser schönes Land abgesehen haben“. Das ist wohlmeinend, aber auch, wie wir gesehen haben, nicht ganz zutreffend. Vor allem aber ist es kontraproduktiv. Der verdruckste Sprachgebrauch schließt sich implizit einem Denken an, das Einwanderung als Last und Wirtschaftsmigration als unmoralisch betrachtet. Er befördert die Sichtweise, dass Einwanderer vor allem Empfänger staatlicher Hilfeleistungen und keine produktiven Gestalter sind.

Die auf Abschottung, Internierung und Deals mit zwielichtigen Machthabern basierende Einwanderungspolitik der EU erweist sich zunehmend als unhaltbar. Menschen, die Einwanderung als Chance sehen, oder vielleicht gar für ein Recht auf Freizügigkeit eintreten (das nicht zwangsläufig mit einem Anspruch auf Sozialleistungen verknüpft sein muss), müssen aus der Defensive kommen. Lasst uns, wie die AfD, von „illegalen Einwanderern“ sprechen. Und fordern, dass aus diesen legale werden!

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