11.01.2019

Die Westen im Westen

Von Kolja Zydatiss

Die „Gelbwesten“ sind der jüngste Ausdruck der Revolte gegen den politischen Status quo. Vorwürfe seitens des Establishments, sie bedrohten die „liberale Demokratie“, gehen in die Irre.

Es ist wieder so weit. Nach dem Brexit-Votum, dem Trump-Sieg und der Wahl einer „populistischen“ Koalitionsregierung in Italien begehrt die Bevölkerung eines weiteren großen westlichen Staates gegen den politischen Status quo auf. Seit Mitte November wird in Frankreich jeden Samstag gegen die Regierung von Präsident Emmanuel Macron protestiert. Bei ihren Kundgebungen, Besetzungen und Blockadeaktionen, die auf ihrem Höhepunkt im Dezember letzten Jahres hunderttausende Teilnehmer angezogen haben, tragen die Demonstranten gelbe Warnwesten, die in Frankreich jeder Autofahrer mit sich führen muss.

Was als Protest gegen eine geplante höhere Besteuerung fossiler Kraftstoffe (insbesondere Diesel) begann, hat sich zu einer Bewegung mit einer Vielzahl an Forderungen entwickelt, von der Erhöhung von Mindestlohn und Renten über die Wiedereinführung der 2017 abgeschafften Vermögenssteuer bis hin zur Errichtung einer „direkten Demokratie“.

Gewerkschaften und radikale Politiker von links und rechts haben versucht, die Bewegung für ihre Zwecke zu vereinnahmen, doch sie bleibt breit, diffus und schwer einzuordnen. Das hindert Vertreter der sich linksliberal-fühlenden meinungsbildenden Mittelschicht natürlich nicht daran, die Gelbwesten pauschal zu verdammen. Für den Welt-Kolumnisten Alan Posener handelt es sich um eine „reaktionäre Bewegung“, die sich gegen die „liberale Demokratie“ richtet.1 Der ehemalige Studentenführer und Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit attestiert den Protestierenden in einem taz-Interview „mehr als nur leichte autoritäre Züge“ und impliziert eine Nähe zum Rechtsradikalismus. Der Althistoriker David Engels, in der Welt schreibend, fühlt sich ans Ende der Römischen Republik erinnert und rechnet mit dem Aufstieg einer „autoritären, vielleicht gar totalitären“ Gesellschaft in Europa. Den Vogel schießt jedoch ein Tweet des Publizisten Michael Miersch ab, der die Gelbwesten u.a. mit dem neofaschistischen russischen Philosophen Alexander Dugin und dem ehemaligen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadineschād in Verbindung bringt.

„Die etablierte Politik selbst hat die Entwicklungen vorangetrieben, gegen die sich die Bürger nun auflehnen.“

Es ist ein apokalyptischer Klagegesang, der uns seit den politischen Umwälzungen des Jahres 2016 nur allzu vertraut ist: Hier „liberale Demokratie“ und „offene Gesellschaft“, dort eine populistische, „autoritäre“ Revolte, die erstere bedroht. Eine einfache Analyse, die jedoch falscher nicht sein könnte. Denn eine nüchterne Betrachtung der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zeigt, dass es die etablierte Politik selbst ist, die eine epochale Beschneidung von politischer Teilhabe, Selbstbestimmung und Bürgerrechten vorangetrieben hat, gegen die sich die Bürger nun auflehnen.

Technokratie statt Demokratie

Die bedeutendste Entwicklung ist die zunehmende Entmachtung demokratisch gewählter Instanzen zugunsten von Gerichten, unabhängigen Zentralbanken, (Umwelt-)Bürokratien und internationalen Organisationen. Diese Tendenz zur Technokratie oder Postdemokratie lässt sich in allen westlichen Staaten beobachten, wobei sie in der EU am weitesten fortgeschritten ist. Die Legitimität ungewählter Institutionen wie der Europäischen Kommission oder der Europäischen Zentralbank (EZB) wird durch mächtige Mythen begründet, die kaum noch hinterfragt werden. Besonders einflussreich ist die Vorstellung, die Komplexität der heutigen Welt überfordere den „Normalbürger“ (und seine parlamentarischen Repräsentanten). Hinzu kommen ahistorische Schauergeschichten über einen angeblich drohenden Rückfall in „Nationalismus“ und Krieg sowie eine simple Moralerzählung, die die politischen und ökonomischen Bedingungen der Weimarer Zeit sowie vor allem das Versagen der bürgerlichen Eliten ausblendet und den Faschismus als Produkt der vermeintlichen „Verführbarkeit“ der „einfachen Leute“ darstellt (letztlich sei Hitler das Resultat von „zu viel“ Demokratie).

Der Aufstieg der Technokratie hat in erster Linie die Entpolitisierung der wirtschaftlichen Sphäre zur Folge. Nicht mehr gewählte Parlamente und Regierungen bestimmen die Leitlinien der Wirtschaftspolitik, sondern unflexible supranationale Regelwerke. Innerhalb der EU beschränken etwa die gemeinsamen Statuten bestimmte, früher als vollkommen legitim betrachtete politische Handlungsoptionen wie die Aufnahme von Schulden in Zeiten schwacher Konjunktur. Wirtschaftsliberale Kritiker der Gelbwesten spotten über die vermeintlich unvereinbaren Forderungen der Bewegung (Steuern runter, Sozialausgaben rauf), doch tatsächlich sind sie das nur in einer Gesellschaft, die sich von großen Würfen und der Möglichkeit deutlicher ökonomischer Wohlstandssteigerungen verabschiedet hat. Denn grundsätzlich ist es etwas sehr Positives, wenn einfache Menschen hohe Erwartungen an die Politik artikulieren, anstatt sich mit der gegenwärtigen Mangelverwaltung auf ihre Kosten zufriedenzugeben.

„Der aktuelle ‚populistische Moment‘ hat nicht nur mit der Wirtschaftsordnung, sondern mindestens ebenso sehr mit einer Ablehnung der kulturellen Werte der Eliten zu tun.“

Angesichts eines seit den 1970er-Jahren rückläufigen Produktivitätswachstums setzen europäische Politiker nicht etwa auf die staatliche Förderung von (Grundlagen-)Forschung, Entwicklung und Infrastrukturprojekten sowie auf ein unternehmerfreundliches Umfeld, in dem Innovation und Produktivität gedeihen können. Der technokratische Rahmen schreibt ihnen vielmehr ein Rezept aus Sparmaßnamen, Steuersenkungen und der Schwächung von Arbeitnehmerrechten vor. Diese „neoliberalen“ Maßnahmen halten zwar zusammen mit der Niedrigzinspolitik der EZB und einem Wust an Subventionen den Laden mehr oder weniger am Laufen, gehen jedoch mit stagnierenden Löhnen, einer zunehmenden Prekarisierung des Erwerbslebens und dem Abbau öffentlicher Dienst- und Sozialleistungen einher.

In Frankreich ist die Situation vielschichtig, denn das französische Arbeitsrecht ist tatsächlich überkomplex und bürokratisch. Ineffiziente Strukturen und verfestigte Privilegien, etwa bei der Staatsbahn SNCF, müssen dringend aufgebrochen werden. Dennoch ist das Macronsche Menü aus Steuer- und Arbeitsmarktreformen wohl kaum so alternativlos, wie der „Jupiter im Élysée“ behauptet. Zu Recht betrachten die Gelbwesten die Abschaffung der Vermögenssteuer, Lockerung des Kündigungsschutzes und größere Freiheit für Arbeitgeber bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen als Angriff auf ihren Lebensstandard. Das Fass zum Überlaufen brachte schließlich die Anbahnung einer unsozialen „Energiewende“ in einem Land, das Dank der intensiven Nutzung der Kernkraft ohnehin schon zu den Industrienationen mit der saubersten Energiegewinnung gehört.

Nicht nur in Frankreich fühlen sich viele Bürger als ökonomische Verlierer und wissen, dass es ihren Kindern dereinst wohl nicht besser gehen wird. Doch es wäre viel zu einfach, den gegenwärtigen Aufstand gegen das politische Establishment auf ein Gefühl des „Abgehängtseins“ zu reduzieren. Tatsächlich hat der aktuelle „populistische Moment“ nicht nur mit der Wirtschaftsordnung, sondern mindestens ebenso sehr mit einer Ablehnung der kulturellen Werte der Eliten zu tun.

Regulierung und Meinungseinfalt

Wohl auch um ihre allgemeine Ambitions- und Ideenlosigkeit zu kaschieren, haben westliche Politiker seit den 1990er-Jahren versucht, sich als Politik-Manager und „Kümmerer“ neu zu erfinden. Ein Betätigungsfeld ist die Volksgesundheit (Public Health), wo Maßnahmen wie „Sündensteuern“ oder „Nudging“ vermeintlich „falsche“ Lebensstile korrigieren sollen. Andere Maßnahmen wie die in Paris, London und Teilen Berlins geltenden Verbote „sexistischer“ Werbung widmen sich vermeintlich falschen Einstellungen in der Bevölkerung. Im Bereich Umwelt- und Verbraucherschutz ist die Eliminierung möglichst jeglicher Lebensrisiken zum Selbstzweck geworden und treibt immer absurdere Blüten. Frankreich bildet von diesen illiberalen Tendenzen keine Ausnahme. Allein im Bereich „Rauchen“ sind z.B. Rauchverbote in Pariser und Straßburger Parks, die Einheitsverpackung für Tabakwaren und eine saftige Tabaksteuererhöhung durch die Macron-Regierung zu nennen.

„Wer souveräne, demokratische Nationalstaaten der bürgerfernen EU vorzieht, gilt schnell als ‚Rechtspopulist‘ oder Schlimmeres.“

Ständig wird den sogenannten „kleinen Leuten“ signalisiert, dass sie umweltverschmutzend, dumm und vorurteilsbeladen seien – nicht Erwachsene oder gar Bürger einer Demokratie, sondern Probleme, die von oben herab gelöst werden müssten. Dabei geht es nicht nur um einzelne Aspekte der Ernährung, Sprache oder Fortbewegung. In den letzten Jahrzehnten haben selbsternannte „Progressive“ eine umfassende „Kulturrevolution von oben“ vorangetrieben. Tradierte Vorstellungen von Familie und Religion, Identität und Gemeinschaft, Nation und Souveränität, die über Jahrzehnte zum „Common Sense“ vieler Menschen gehörten, werden von diesen tonangebenden Kreisen bestenfalls belächelt. Schlimmstenfalls gelten sie als Vorstufen eines neuen Faschismus.

Angesichts dieser Entwicklungen ist es kaum verwunderlich, dass sich immer mehr Menschen von den politischen Eliten abwenden. Die wachsende Kluft zwischen der politischen Klasse und vielen Bürgern zeigte sich zunächst in einer sinkenden Wahlbeteiligung und dem starken Mitgliederverlust der etablierten Parteien. Seit einigen Jahren haben nun Kandidaten und Bewegungen Zulauf, die als rechtspopulistisch gelten. In einigen Staaten wie den USA und Italien haben sie bereits die Macht übernommen, in anderen bringen sie das Establishment ins Schwitzen.

Einige dieser „Rechtspopulisten“ können als konservativ oder nationalkonservativ bezeichnet werden, andere haben ihre Wurzeln im Rechtsextremismus oder völkischen Nationalismus. Angesichts ihrer infantilen, teils menschenverachtenden Provokationen, reaktionären Gesellschaftspolitik und autoritären Tendenzen sind viele „linksliberal“ tickende Menschen zu Recht entsetzt. Doch anstatt ihre eigenen illiberalen, antidemokratischen Neigungen und die politische „Alternativlosigkeit“ in Frage zu stellen, die zum Aufstieg des Rechtspopulismus geführt haben, erklären die meisten seiner Gegner den Status quo in hysterischem Ton zur besten aller möglichen Welten.

Tatsächlich sind es heute oft die lautesten Beschwörer von „Demokratie“ und „offener Gesellschaft“, die das Spektrum zulässiger Meinungen verengen wollen. In den letzten Jahren ist ein ganzes Arsenal an Begriffen entstanden, das vermeintlich „extreme“ Abweichungen vom technokratisch-ökologistisch-identitätspolitischen „Konsens“ diskreditieren soll: Wer nicht will, dass der Staat mit Steuergeldern Unternehmer spielt, wird als „marktradikal“ abgestempelt. Kritik am teuren und in Sachen Klimaschutz weitgehend wirkungslosen Ausbau erneuerbarer Energien ist „Klimaleugnung“. Wer souveräne, demokratische Nationalstaaten der bürgerfernen EU vorzieht oder den Euro für eine Fehlkonstruktion hält, gilt schnell als „Rechtspopulist“ oder Schlimmeres. Und wer die kulturellen und ökonomischen Auswirkungen der Masseneinwanderung oder den Zusammenhang von Terrorismus und bestimmten Ausprägungen des Islams thematisiert, ist „rassistisch“ oder „islamophob“, und wird vielleicht wegen „Hassrede“ angezeigt oder in den Sozialen Medien zensiert.

Unzufriedene schlagen zurück

In Emmanuel Macron mit seiner neugegründeten Dritter-Weg-Partei „En Marche!“ glaubten die Vertreter des technokratischen Establishments, ihren Messias gefunden zu haben. Seine Wahl im April 2017 interpretierten viele als Rückkehr zu „Vernunft“ und „Mitte“, als Anfang vom Ende des populistischen Spuks. Sie verdrängten dabei die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung mit 40,8 Prozent im ersten und 42,6 Prozent im zweiten Wahlgang die niedrigste seit Gründung der Fünften Französischen Republik 1958 war und viele wohl nicht aus Begeisterung für Macron stimmten, sondern um die aussichtsreiche Gegenkandidatin Marine Le Pen vom rechtspopulistischen Front National 2 auszubremsen.

„Aktuelle Aussagen wecken Erinnerungen an vergangene Tage, in denen stalinistische Apparatschiks aufmüpfige Bürger als ‚faschistisch-reaktionäre Elemente‘ verurteilten.“

Tatsächlich zeigt die Gelbwestenbewegung, wie schon das Brexit-Referendum, dass die Gruppe der Unzufriedenen weitaus größer ist als das Wählerpotential rechtspopulistischer Parteien (zum Vergleich: 52 Prozent der britischen Wähler stimmten 2016 für den Brexit, aber nur knapp 2 Prozent entschieden sich 2017 bei den britischen Parlamentswahlen für die rechtspopulistische UKIP; Marine Le Pen bekam bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2017 circa 34 Prozent der Stimmen, während die Gelbwesten zeitweise von 75 Prozent der Franzosen unterstützt wurden). Trotzdem versucht das politische Establishment, den Mythos eines „rechten“ Aufstands aufrechtzuerhalten. Präsident Macron nutzte etwa seine Neujahrsansprache für einen Rundumschlag und beschimpfte die Gelbwesten als hasserfüllte Menge von Antisemiten, Rassisten, Schwulenfeinden und Lügnern.

Solche Aussagen wecken Erinnerungen an vergangene Tage, in denen stalinistische Apparatschiks aufmüpfige Bürger als „faschistisch-reaktionäre Elemente“ verurteilten. Die Geschichte hat letztlich ihr Urteil über diese selbstgerechte und weltfremde Kaste gesprochen. Heute erinnert manches an die Zeitenwende von 1989/90. Denn auch das technokratische Politikverständnis, das sich im Westen spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges endgültig durchgesetzt hat, war von Anfang an realitätsfremd. Seinen Kern bildet die Einbildung, wir hätten das Ende der Geschichte erreicht – einen mythischen Zustand, in dem der Nationalstaat und die Politik obsolet seien. Unsere Politiker glaubten allen Ernstes, den demokratischen Streit als Abbild der Gesellschaft mit all ihren Interessenkonflikten suspendieren zu können, zugunsten einer starren Ordnung, in der eine internationale Klasse „aufgeklärter“ Experten Regeln für Olivenöl-Kännchen aufstellt. Seit der Brexit-Rebellion im Sommer 2016 wird immer deutlicher, wie blind für die Wirklichkeit diese Vorstellung ist.

Was aus den Gelbwesten wird, ist zurzeit ungewiss. Zunächst wuchs die Bewegung stark und fand sogar in Belgien und den Niederlanden Nachahmer. Aktuell haben die Proteste jedoch deutlich weniger Zulauf als noch Ende letzten Jahres. Egal wie sich die Situation in Frankreich entwickelt, eines bleibt sicher: Einfache Bürger werden sich auch in Zukunft nicht mit der passiven Rolle zufriedengeben, die die Technokratie für sie vorsieht. Immer wieder werden sie Wege finden, um zu sagen, „Hey, uns gibt’s auch noch, und wir wollen mitreden“.

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