23.12.2016

Die Schweizer Demokratieverächter

Analyse von Andrea Seaman

Titelbild

Foto: parlament.ch

Die Schweiz gilt als Hort der direkten Demokratie. Doch in Wort und Tat relativieren Schweizer Politiker den Volkswillen. Unter anderem wird ein Referendum zur Einwanderung ignoriert.

„Verfassungsbruch“ und „Die Massenzuwanderung geht weiter“ stand auf den hochgehaltenen Plakaten der Schweizer-Volkspartei-Fraktion im Nationalrat. „Ihr könnt uns“ titelte vor ein paar Tagen Chefredakteur Roger Köppel in der Zeitschrift Weltwoche. Adrian Amstutz, Fraktionschef der SVP, spricht von „Demokratieverachtung“ und „Landesverrat“, das SVP-Urgestein Christoph Blocher gar von der Abschaffung der Demokratie.   

Dieser Protest, diese Wut, ist auf die Parlamentarier gerichtet, die gerade offen gegen das Ergebnis einer Volksabstimmung verstoßen. Denn am 9. Februar 2014 votierte das Schweizer Volk für die eidgenössische Volksinitiative „Gegen die Masseneinwanderung“, die Kontingente und Obergrenzen für die Immigration forderte, sowie einen Inländervorrang bei der Stellenbesetzung im Arbeitsmarkt. Die Initiative wurde von der Schweizer Volkspartei (SVP) lanciert. Das Parlament hat nun, nach mehr als zwei Jahren, weder Höchstzahlen noch einen Inländervorrang, der  etwas taugt, eingeführt.

Dies sind Zeiten, in welchen die Seelen jener, die sich Demokraten nennen, getestet werden.  Demokraten haben nämlich die Pflicht zur Umsetzung von Volksentscheiden, deren Ergebnisse ihnen nicht gefallen, als hätten sie selbst dafür gestimmt. Die eigenen politischen Überzeugungen zurückzustellen zugunsten des grundlegenden Prinzips der Demokratie ist eine der höchsten Tugenden; der Unwille, dieser Verpflichtung nachzukommen, ist nichts Anderes als die Untugend der Despotie. Das Erstere zeichnet den aufgeklärten Menschen aus, während das Letztere die Vormünder, wie Kant sie genannt hat, ausmacht. In einer Demokratie hat das Volk die Freiheit, zwischen Alternativen zu wählen und diese Freiheit impliziert die Freiheit, falsch zu entscheiden. Der Respekt gegenüber dem Volkswillen ergibt sich nicht daraus, dass das Volk richtig entschieden hat, sondern aus dem Recht des Volkes, überhaupt zu entscheiden.

„Als Demokrat muss man also die Umsetzung des Volksentscheides befürworten, auch wenn man für Einwanderung ist“

Als Demokrat muss man also die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative befürworten, nicht weil man der SVP huldigt oder gegen Einwanderung ist, sondern weil man die Demokratie liebt. Dass so viele Parlamentarier keine Demokraten sind, lässt sich nicht nur an ihren Aktionen, sondern auch an ihren Begründungen für die Nichtumsetzung des Volkswillens messen.

Die Höchstzahlen und Kontingente konnten, so diejenigen Parlamentarier, die sich der Umsetzung verweigerten, nicht eingeführt werden, da dies das Personenfreizügigkeitsabkommen der Schweiz mit der EU verletzen würde. Die Personenfreizügigkeit ist Teil der sogenannten Bilateralen 1, ein Paket mit sieben bilateralen Verträgen, die allesamt mit einer Guillotine-Klausel verbunden sind. Diese Klausel schreibt vor, dass die Kündigung eines der sieben Verträge eine Kündigung aller bedeutet. Man kann also die Personenfreizügigkeit nicht antasten, so die Logik der Parlamentarier. Man fürchtet sich vor dem Verlust der sechs anderen Verträge, die unter anderem die Landwirtschaft, den Luftverkehr und den Landverkehr mit der EU regeln. Ferner hat Brüssel die schnelle Umsetzung der Initiative verhindert, indem es jegliche Verhandlungen über die Personenfreizügigkeit abgelehnt hat, da diese einen unveränderbaren Grundsatz der EU darstelle.

Der Inländervorrang, der nun konzipiert wurde, ist eine Farce. Erstens gibt er Arbeitgebern nur eine Stellenmeldepflicht vor, diese müssen also offene Stellen den Arbeitsämtern melden. Wen aber ein Unternehmen einstellt, muss es nicht einmal begründen. Zweitens werden alle Bürger des EU-Raums als Inländer gezählt, weil man ja nicht diskriminieren sollte, besonders im Rahmen der Personenfreizügigkeit.

„Der Inländervorrang zählt Ausländer als Inländer“

Wir haben es hier mit Doppelzüngigkeit par excellence zu tun. Die tatsächliche Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) beinhaltet die Nichtumsetzung von Kontingenten und Höchstzahlen und der Inländervorrang zählt Ausländer als Inländer. Doch da hört das „Freiheit ist Sklaverei“-Denken nicht auf. Das, nämlich, hatten die Gegner der Umsetzung zu sagen:

FDP-Fraktionschef Ignazio Cassis beschuldigte die SVP, die für Kontingente und einen echten Inländervorrang streitet, des Volksverrats. Er begründete dies mit der Behauptung, dass die SVP vor der Abstimmung zur MEI dem Volke vorgeschwindelt hatte, dass bei der Annahme derselben nur eine Nachverhandlung des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU erfolgen würde. Roger Nordmann, Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokratischen Partei (SP), zufolge lasse sich der Volkswille nicht nur durch eine Abstimmung erkennen, sondern könne erst durch die Betrachtung eines Gesamtbildes ergründet werden. Die Einführung von Kontingenten würde also nicht notwendigerweise dem Volkswillen gerecht werden. Mehr noch, hätte die SVP vor der Abstimmung dem Volke klargemacht, dass die Annahme der Initiative notwendigerweise die Kündigung der Personenfreizügigkeit bedeutet, so wäre die Initiative abgelehnt worden. Der Präsident der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP), Martin Landolt, will gleich eine neue Abstimmung über das Schicksal der Bilateralen 1 durchführen.

Auch hier ist Doppelzüngigkeit am Werk. Demokraten sind plötzlich Volksverräter, Abstimmungen repräsentieren nicht den Willen des Volkes, eine zweite Initiative ist demokratisch, Liberale missachten den Volkswillen und die Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei und der Bürgerlich-Demokratischen Partei nennen sich demokratisch. Despotie ist nun Demokratie. Hier wird das Vokabular der Demokratie verwendet, um die Demokratie zu unterdrücken.

„Das Vokabular der Demokratie wird verwendet, um die Demokratie zu unterdrücken“

Weshalb wird so widersprüchlich gedacht? Was treibt Schweizer Politiker zur Heuchelei? Es ist sicher keine Liebe zu Brüssel, die sie motiviert. Die EU, die das Leben der Griechen ruiniert, regelmäßig Volksabstimmungen ignoriert und dunkelhäutige Immigranten vor Lampedusa ertrinken lässt, kann niemanden wahrlich inspirieren.

Angst vor Brüssel spielt wohl auch keine Rolle, denn Jean-Claude Juncker ist kaum ein furchteinflößendes Bild. Und doch unterstellen Politiker der SVP oder der konservativen Seite oft, dass unsere Schweizer Politiker die EU nicht verärgern wollen, dass sie die Puppen Brüssels seien und „jedes Wimpernzucken aus Brüssel zum Anlass nehmen, die Bundesverfassung ängstlich preiszugeben“.

Doch dies externalisiert das Problem. Es macht Brüssel zum Bösewicht, den man entweder liebt oder hasst bzw. dem man blind gehorcht. Es lässt unsere eigenen Parlamentarier in den Hintergrund treten, verwandelt sie in die Lakaien Brüssels. Doch unsere Politiker, nicht die EU-Bürokraten, sind die wahren Schuldigen. Ihre moralische Schandtat besteht darin, dass sie sich vor dem Volk fürchten. Sie betrachten das Volk als dumme Masse, als eine Ansammlung irrationaler Bürger, die nur darauf warten, Chaos zu stiften, Tyranneien zu errichten und Minderheiten zu unterdrücken.

Die Argumente der oben genannten Fraktionschefs der FDP und SP illustrieren dies perfekt. Obwohl die Gegner der Initiative vor dem Referendum ständig auf die Gefahr aufmerksam machten, die eine Annahme der MEI für die bilateralen Verträge haben könnte, obwohl sie der Guillotine-Klausel mit ihrer Anti-MEI-Kampagne zur Berühmtheit verhalfen, obwohl sie auf die Unverträglichkeit der MEI mit der Personenfreizügigkeit beharrten, proklamieren sie nun, dass das Volk dies nicht gewusst habe. Das Volk sei also unglaublich dumm, könne den Konflikt der MEI mit der Personenfreizügigkeit nicht erkennen, könne sich nicht einmal die Bedeutung einer Guillotine-Klausel ausmalen. Die Idee des vernünftigen Bürgers wird durch den Trottel ersetzt, der die Auswirkungen seiner Entscheidungen nicht kennt. Dass das Schweizervolk klug genug war, dass es sehr wohl wusste, was die MEI mit sich bringen würde, darf nicht gedacht werden. Das Abstimmungsergebnis wird von den Herren Cassis und Nordmann als Resultat einer SVP-Gehirnwäsche interpretiert, welche das Vermögen der Schweizer einschränke, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Welch ein Respekt gegenüber ihren Mitbürgern!

„Das Abstimmungsergebnis wird als Resultat einer Gehirnwäsche interpretiert“

Ein noch schöneres Beispiel dieser Volksverachtung findet sich bei der Schweizer Organisation Schutzfaktor M, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Menschenrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu schützen. Schutzfaktor M spricht sich gegen die sogenannte „Selbstbestimmungsinitiative“ der SVP aus. Diese Volksinitiative, über die das Schweizer Volk in ein paar Jahren abstimmen wird, will die Schweizer Bundesverfassung über nicht-zwingendes internationales Recht stellen. Als Hauptargument  gegen die Initiative führt Schutzfaktor M an, dass die Annahme zur Kündigung der EMRK führen, und somit das Volk in Abstimmungen alles Mögliche entscheiden könnte, was zuvor durch die EMRK verboten wurde. Das Volk könnte beispielsweise Schwarze oder andere Minderheiten unterdrücken.

Die Antidemokraten von Schutzfaktor M versuchen nicht einmal, ihre Volksverachtung und Angst zu verbergen. Sie haben so wenig Vertrauen in die Bürger der Schweiz, dass sie ernsthaft meinen, das Volk würde, sobald es souverän ist, tyrannisch werden. Hier wird die Negierung der Demokratie in die Sprache der Freiheit gehüllt. Man sagt: Gebt dem Volke nicht zu viel Macht, weil es sonst die in der EMRK verbrieften Rechte von Minderheiten abschaffen wird. Freiheit bedeutet für Schutzfaktor M also die Einschränkung der politischen Freiheit.

Es gibt zwei weitere nennenswerte Beispiele dieser Volksverachtung. Welcher Schweizer könnte vergessen, dass die Bundesrätin Simonetta Sommaruga sagte: „Auch in einer direkten Demokratie darf niemand allmächtig werden, auch die Stimmbürger nicht“? Vielleicht sollte sie keine Bundesrätin sein, wenn sie so denkt. Ein weiterer ewiger Klassiker ist die Aussage der SP-Nationalrätin Chantal Galladé im Kontext einer Debatte um mögliche Verschärfungen des Schweizer Waffenrechts. Sie fragte sich: „Unser Land ist ein Kuriosum auf dieser Welt: Der Staat verteilt Waffen an seine Bürger. Wo gibt’s denn so etwas?“.

„Die EU ist nur ein Mittel, um das Volk auszuschalten“

Diese Abscheu vor dem dummen Volke ist der wahre Grund für die Nichtumsetzung der MEI-Vorgaben. Es scheint nur so, dass Schweizer Parlamentarier und Antidemokraten unter dem Einfluss der EU stehen. Der eigentliche Antrieb ist ihr tiefes Misstrauen gegenüber dem Volk. Die EU ist nur ein Mittel, um das Volk auszuschalten. Das Freizügigkeitsabkommen wird dazu benutzt, dem Volke die Souveränität abzusprechen, es ist ein Feigenblatt, hinter dem die Parlamentarier ihre antidemokratische Haltung verstecken können.

Leider sehen wir in der Welt immer mehr von dieser Demokratieverachtung. Nach dem Brexit-Referendum hörte man viele Stimmen über das dumme Volk und wie man den Brexit im Keim ersticken müsse, auch wenn die Mehrheit sich für die Trennung von der EU entschieden hat. Es könnte sogar sein, dass der Brexit genau wie die Schweizer Masseneinwanderungsinitiative vom Parlament abgeschmettert und der Volkswille ignoriert wird. Auch in den USA wollte eine Minderheit den designierten Präsidenten Trump vom Wahlmännerkollegium stürzen lassen.

Besonders in der Schweiz besteht die Politik neuerdings aus zwei Lagern. Auf der einen Seite stehen jene, die gegen die Demokratie sind, weil sie das Volk fürchten und in ihm einen Haufen Unterbelichteter sehen. Zu dieser Gruppe gehören die Führer, Denker und Parlamentarier der SP, FDP und aller anderen großen Parteien, außer der SVP. Auf der anderen Seite stehen die Demokraten, die auf die Weisheit und Rationalität der Bürger vertrauen und alte aufklärerische Prinzipien hochhalten.

Auf dieser Basis müssen wir Schweizer Demokraten die Antidemokraten und ihre Doppelzüngigkeit entlarven. Wir müssen für Kontingente, Höchstzahlen und Inländervorrang streiten, nicht weil wir damit einverstanden wären, sondern weil es der Volkswille ist. Der Kampf für offene Grenzen muss weitergehen, doch nicht auf Kosten der Demokratie selbst. Das Volk muss gegen die Vormünder organisiert werden, damit wir die Demokratie nicht verlieren, die der Schweiz so am Herzen liegt.

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