07.07.2016
Demokratie ist ein Wert an sich!
Kommentar von Sabine Beppler-Spahl
Das Brexit-Referendum hat den Kampf um die Demokratie wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Und das ist gut so. Demokratie ist ein Wert an sich, weil sie Macht begrenzt, aufteilt und kontrolliert.
„Vox populi, vox Rindvieh“, soll der frühere bayerische König, pardon, Ministerpräsident, Franz Josef Strauß gesagt haben. Strauß war nicht der Einzige, der mit dem Souverän (dem „Volk“) haderte. Doch in der Nachkriegszeit hätte sich wohl niemand getraut, die Demokratie so offen anzugreifen, wie es derzeit geschieht.
In der jüngsten Ausgabe der Zeit plädiert ein Rechtsprofessor dafür, die Brexit-Abstimmung zu wiederholen. An anderer Stelle wird behauptet, eine solch weitreichende Entscheidung hätte nur eine Zweidrittelmehrheit fällen dürfen, und wieder andere meinen, die Demokratie sei ohnehin kein Wert an sich. Muss die Politik vor dem Bürger geschützt werden?
Es ist ein uralter, wenig origineller Gedanke. Schon in den Schriften Platons wird die Demokratie mit „Pöbelherrschaft“ gleichgesetzt. Den armen, ungebildeten Massen könne nicht einmal die Erziehung ihrer Kinder zugetraut werden, geschweige denn die Lenkung des Gemeinwesens. Diesen Gedanken verfolgend, entwickelte der Nationalökonom und Politiker Josef Alois Schumpeter im 20. Jahrhundert seinen minimalistischen Demokratieansatz. Dem Wähler solle möglichst wenig Partizipationsmöglichkeit zugesprochen werden, da er selbstsüchtig, wankelmütig, irrational und infantil sei. Der „unmündige“, markt- und werbungsabhängige Bürger benötige der Lenkung durch eine politisch-technokratische Elite, die zwar gewählt, aber ansonsten weitgehend abgeschirmt ist von den Einflüssen des Volkes.
Viele scheinen diesem Modell zu huldigen, wenn sie behaupten, der Bürger sei beim Brexit-Votum manipuliert oder ausgetrickst worden. Das Problem ist, dass diese Verachtung für demokratische Prozesse alle Seiten kennzeichnet. Auch die sogenannten neuen Populisten bedienen sich gerne einer antidemokratischen Rhetorik. Wäre das Ergebnis des Votums anders ausgefallen, also ein knapper Sieg der „Remain-Seite“, dann, so dürfen wir annehmen, hätten die Brexit-Befürworter das Klagelied der Manipulation angestimmt. Statt der Boulevardpresse oder der konservativen Daily Mail, wie jetzt, wäre der „Lügenpresse“ die Schuld gegeben worden. Auch die Brexit-Befürworter hätten über die angebliche Tyrannei der Mehrheit gejammert, als gäbe es nicht auch – und gerade – eine Tyrannei der Minderheit. Ja, die Demokratie hat viele Feinde. Nur, dass sie immer auf der Gegenseite gesucht werden.
„Demokratie funktioniert nur, wenn die Meinung der Mehrheit respektiert wird.“
Natürlich wissen wir, dass nicht jeder Brexit-Wähler ein Freiheitsfreund ist. Zweifellos bieten Volksabstimmungen Demagogen die Gelegenheit, komplexe Themen auf einen simplen Nenner zu bringen. Jede Wahl birgt zudem das Risiko, dass die „falsche“ Seite gewinnt, und natürlich macht auch die Mehrheit Fehler. Doch das schmälert nicht die Bedeutung der Demokratie. Der liberale Politiker Karl-Hermann Flach schrieb dazu: „Die Demokratie unterscheidet sich von anderen Staatsformen, vor allem totalitären und halbautoritären Staatskonstruktionen, nicht etwa dadurch, dass keine Macht ausgeübt wird, sondern in der Begrenzung, Aufteilung und öffentlichen Kontrolle der Macht und in der effektiven Chance der Ablösung derjenigen, welche die Macht ausüben“ 1. Alle Systeme, die diesen Kriterien nicht gerecht werden, sind minderwertig und unfrei.
Die Kritiker, die vor der Macht der Mehrheit warnen und meinen, wir wären besser dran, wenn eine „auserwählte Gruppe […] unser Heil aufgrund angeblich wissenschaftlich erwiesener Entwicklungsgesetze herbeiführt“ (Flach, S. 31), haben die Demokratie, nicht verstanden. Sie ist mehr als eine Ansammlung von Wahlergebnissen, sondern ein partizipatorischer Prozess, der Einstellungen formt und verändert, indem um Mehrheiten gerungen wird. Die fortschrittlichste Meinung vermag wenig auszurichten, wenn sie nicht gehört und debattiert wird. Daher auch die Bedeutung der freien Meinungsäußerung, die sowohl ein Produkt als auch eine Voraussetzung der Demokratie ist. Große soziale und freiheitliche Errungenschaften wie das Frauenwahlrecht oder die Abschaffung der Sklaverei sind uns nicht von wohlmeinenden Herrschern (oder Gruppen) geschenkt worden. Sie wurden erstritten, und erst der Umschwung der öffentlichen Meinung bzw. die Unterstützung großer Teile der Bevölkerung führten zum Ziel. Insofern ist die Demokratie ein wechselseitiger Prozess: Er wird von der Gesellschaft getragen, die sich durch ihn gleichzeitig verändert. Er funktioniert nur, wenn die Meinung der Mehrheit respektiert wird.
Selbst ein Haudegen wie Franz Josef Strauß musste die bittere Erfahrung machen, dass er ohne die Unterstützung der Mehrheit wenig ausrichten konnte – ein missglückter Versuch, im Jahr 1980 Kanzler zu werden, mag ihn in seiner Meinung über Volkes Stimme bestärkt haben. Die Vorkämpfer der Demokratie, zu denen auch der amerikanische Freiheitskämpfer und Autor von „The Rights Of Man“ (1791), Thomas Paine, gehörte, waren davon überzeugt, dass die Mehrheit im Zweifel bessere Entscheidungen trifft als ein König mit einem noch so klugen Beraterstab. Zeigt die Geschichte nicht, dass er recht hatte?
Auf die heutige Zeit übertragen heißt dies: Wenn es um wichtige Fragen geht, handelt die Gesamtheit der Bürger mit hoher Wahrscheinlichkeit klüger als eine Gruppe auserwählter Technokraten oder Bürokraten. Das britische Referendum hat den Kampf um Demokratie wieder auf die Tagesordnung gesetzt, und das ist gut. Demokratie ist ein Wert an sich, weil mit ihr die Frage verbunden ist, in welcher Art von Welt wir leben wollen.