04.02.2014
Demokratie: Eine Verteidigung der Herde
Essay von Brendan O’Neill
Die kulturelle Elite bringt keine inspirierenden und zukunftsweisenden Entwürfe für die Gesellschaft mehr zustande und projiziert das eigene Versagen nun auf die einfachen Menschen zurück – die Masse sei angeblich zu dumm für die Demokratie.
In den etablierten Medien und im Bildungsbürgertum gehört es heute zum guten Ton, sich über die mangelnde Demokratie- und Urteilsfähigkeit der „kleinen Leuten“ zu echauffieren. So konnte man vor einigen Monaten in einer Schlagzeile des linksliberalen Independent lesen, dass „die britische Öffentlichkeit in nahezu allem falsch liegt“ 1. Im Rahmen einer Telefon-Umfrage mit 1015 Teilnehmern zwischen 16 und 75 Jahren ermittelte das Markforschungsinstitut Ipsos Mori, die öffentliche Meinung liege bei zahlreichen sozialen Fragen „wiederholt daneben“.
So waren die Befragten etwa der Ansicht, bei der Sozialhilfe würden im Schnitt 24 von 100 Euro ungerechtfertigt erschlichen, obwohl es tatsächlich nur 70 Cent sind. Sie meinten, der Anteil der Neuimmigranten an der britischen Bevölkerung liege bei 31 Prozent, dabei sind es gerade mal 13 Prozent. Sie überschätzen die jährliche Anzahl der unter 16 jährigen Mädchen, die schwanger werden, um das 25-Fache und meinten, 15 Prozent von ihnen hätten bereits Sex, während es tatsächlich eher 0,6 Prozent sind. Und so weiter. Wenn man die hämische Berichterstattung über die Umfrage auf den Punkt bringen wollte, müsste man sagen: „Die Briten sind einfach verdammt blöd.“
Beim Bildungsbürger sorgte die Umfrage für Kopfschütteln. So fragte etwa der Geschäftsführende Direktor der Royal Statistical Society, wie Demokratie funktionieren könne, wenn der Demos so schwer von Begriff sei: „Wie soll man denn gute Politik machen, wenn die öffentliche Meinung sich um die Tatsachen offenbar kaum schert?“ Kommentatoren sahen in der Umfrage einen Beleg dafür, dass „die Kluft zwischen den Wahrnehmungen und der Realität unglaublich groß ist“. Und ein Beobachter schrieb in seinem Artikel „Das Problem mit der Demokratie“, die Öffentlichkeit habe „von Politik keine Ahnung und ermangelt selbst der grundlegendsten Tatsacheninformationen, die man braucht, um politische Fragen fundiert beurteilen zu können.“
„Die Kommentatoren unterscheiden implizit eine für das politische Leben kompetente Experten-Kaste von einer vor Dummheit strotzenden Masse.“
Die Umfrage und die so geschickt als soziale Besorgnis getarnte Besserwisserei der Medien wollen uns letztlich sagen, dass wir an einer demokratischen Herrschaftsorganisation zwar voll teilzuhaben in der Lage sind, während die das keineswegs können – denn diese von den Boulevardmedien vermurksten Seelen halten ja alle Teenager für schwanger und alle Sozialhilfeanträge für Betrug. So unterscheiden die Kommentatoren implizit eine für das politische Leben kompetente Experten-Kaste von einer vor Dummheit strotzenden Masse, deren grundsätzliche Fehlgeleitetheit in allen sozialen Angelegenheiten es eher als Gefahr erscheinen lässt, sie in das politische Leben einzubeziehen. Einige Beobachter halten es sogar für möglich, dass Politiker die Ignoranz der Öffentlichkeit in Fragen bezüglich Sozialleistungen und Kriminalität künftig schüren und die Demokratie so weiter untergraben. Denn: Wäre Demokratie ohne diesen dreckigen Demos nicht viel besser?
Der zunehmend populären Vorstellung, die gewöhnlichen und oft schlecht informierten Menschen seien als Volk nicht optimal geeignet, um zu entscheiden, wer regiert und was die Regierenden zu tun haben, sind vor allem zwei Argumente entgegenzuhalten. Zunächst einmal haben die von den Medien so genannten „kleine Leute“ ja keineswegs das Monopol auf Vorurteile gepachtet. Natürlich gibt es da draußen Menschen, die über den Wohlfahrtsstaat oder die Immigration falsche Vorstellungen haben. Das stört mich, und ich suche die Auseinandersetzung mit ihnen. Aber in der kulturellen Elite ist das Denken in unbegründeten Vorurteilen mindestens ebenso wenn nicht gar stärker verbreitet.
Auffällig an der Umfrage von Ipsos Mori oder vergleichbaren Umfragen, sind vor allem die in den Mittelpunkt gestellten Fragen: Immigration, Teenager-Schwangerschaft und die Ausnutzung des Wohlfahrtsstaates. Offenbar handelt es sich um die von der Boulevardpresse favorisierten Brennpunkt-Themen, bei denen insbesondere die sich der Arbeiterklasse zugehörig fühlenden Menschen oft skurrile Ansichten haben. Aber man stelle sich einmal vor, die Mitglieder der kulturellen und politischen Elite würden zur tatsächlichen statistischen Lage befragt, etwa bezüglich Übergewicht, den Auswirkungen von Junk Food, den Gefahren des Passivrauchens oder anderen Themen, dann würden wir ihre Vorurteile bezüglich des Lebensstils des Prekariats voll durchschlagen sehen. Ich würde sagen, sie würden bei diesen Fragen völlig falsch liegen.
In der Tat, wenn es einen Unterschied zwischen sogenannten Experten-Cliquen und dem Mann von der Straße gibt, dann ist es der, dass erstere mittlerweile Spezialisten darin sind, ihre Vorurteile als wissenschaftlich fundiert zu verschleiern. Bei einem Thema wie etwa Übergewicht versetzen sie gewissermaßen einfach die Torpfosten, definieren die Bedeutung von Übergewicht neu und verwandeln ihre Vorurteile über die “einfachen Leute” so in eine „wahre Tatsache“. Und beim Passivrauchen halten sie solche Untersuchungen hoch, die dieses als gefährlich darstellen, und spielen andere, die zu gegenteiligen Ergebnissen kommen herunter, damit ihre moralische Verachtung der Raucher und die autoritären Verbote des öffentlichen Rauchens aussehen, als würden sie sich alleine aus den Forschungsergebnissen ableiten und nicht aus ihrer kleinkarierten Perspektive, die voller Vorurteile steckt.
„Die bei der kulturellen Elite beliebte Phrase ‚die Forschung hat gezeigt‘ ist oft nur der Deckmantel für ihren moralischen Kreuzzug gegen die von ihr als deviant beurteilten Lebensstile.“
Die bei der kulturellen Elite beliebte Phrase „die Forschung hat gezeigt“ ist oft nur der Deckmantel für ihren moralischen Kreuzzug gegen die von ihnen stigmatisierten Lebensstile. Auch die Eliten haben also ein „verzerrtes“ Verständnis grundlegender sozialer Tatsachen und vermeintlicher sozialer Probleme, aber sie verfügen über die erforderlichen Mittel, um diese Auffassungen wie rein wissenschaftliche Urteile aussehen zu lassen.
Und zweitens ist der Vorstellung, die Dummheit der Öffentlichkeit behindere die Demokratie, ihr geradezu ans Lächerliche grenzender Mangel an Originalität entgegenzuhalten. Seit Anbeginn der Demokratie und sogar schon früher haben die Eliten beklagt, „der Herde“ fehle es einfach an der geistigen Basis für ein ernsthaftes politisches Engagement.
In den 1800er-Jahren schrieb ein Beobachter zur Diskussion über die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer in Großbritannien: „Das allgemeine Wahlrecht kann niemals von großem praktischen Nutzen sein, es sei denn es wird einer gut informierten und intelligenten Öffentlichkeit zuteil.“ 2 Bei späteren Debatten in Amerika und Großbritannien über die Ausweitung des Wahlrechts auf Schwarze und Frauen war immer wieder der Einwand laut geworden, diese Menschen seien nicht intelligent genug, um die wesentlichen sozialen Tatsachen zu verstehen. Im Großbritannien des frühen 20. Jahrhunderts hieß es über die Frauen, es mangele ihnen „an Sachkenntnis in Angelegenheiten der Marine, des Militärs, des Handels, der Diplomatie und des Rechts, die für ein informiertes politisches Engagement aber unerlässlich sei.“ 3 Der elitäre amerikanische Denker Walter Lippmann beklagte Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem einflussreichen Buch Die öffentliche Meinung die „Unkenntnis und Dummheit der Massen“, die er als „verwirrte Herde“ bezeichnete; von ihr in wichtigen politischen Fragen ein demokratisches Engagement zu verlangen sei absurd. Die Beobachter, die sich heute von der Demokratie beziehungsweise vom Demos so schmerzhaft enttäuscht zeigen, drücken sich zwar vorsichtiger aus und würden niemals einen Ausdruck wie „verwirrte Herde“ gebrauchen, aber letztlich läuft ihre Verurteilung der in „nahezu allem falsch“ liegenden britischen Öffentlichkeit, aufs Gleiche hinaus.
„Die politischen Parteien und die Intellektuellen bringen keine inspirierenden und zukunftsweisenden Entwürfe für die Gesellschaft mehr zustande und projizieren das eigene Versagen nun auf die so genannte Herde zurück.“
Heute wird die Demokratie oft von oben herab belächelt. So heißt es etwa in dem Buch Der Mythos vom rationalen Wähler von Bryan Caplan, dessen Umschlag die Öffentlichkeit als Schafsherde darstellt: „Wähler sind nicht nur ignorant – sie sind irrational.“ Die New York Times lobte das Buch von Caplan und schrieb, es sei an der Zeit den Mythos von der „Weisheit der Massen“ hinter uns zu lassen, denn tatsächlich sei die Masse „oft schlecht darin, die eigenen Interessen zu erkennen.“ Heute fällt vor allem auf, dass offenbar auch die eher linken Segmente der kulturellen Elite mittlerweile die Vorstellung akzeptiert haben, die Irrationalität des Mobs, dessen Stimmen man gleichwohl braucht, erschwere die Demokratie oder mache sie sogar unmöglich. Zum Beispiel geht der von Noam Chomsky geprägte Begriff von der „Konsenserzeugung“, demzufolge die Medien den einfachen Leuten ihre Botschaften in die Köpfe einpflanzen, direkt auf die Arbeit von Walter Lippman zurück. Heute können wir die Elite oft dabei beobachten, wie sie sich einerseits modernistisch radikal geriert und zugleich in rückwärtsgewandt reaktionärer Weise die „verwirrte Herde“ als zur Demokratie nicht fähig verspottet.
Tatsächlich wird hier jedoch eine Krise der Politik und der Ideen in eine Krise der Intelligenz der Öffentlichkeit verwandelt. Die politischen Parteien und die Intellektuellen bringen keine inspirierenden und zukunftsweisenden Entwürfe für die Gesellschaft mehr zustande und projizieren das eigene Versagen nun auf die so genannte Herde zurück, indem sie ihr nachsagen, mit ihren verzerrten Ansichten ruiniere sie die Demokratie. In Wahrheit aber liegt das heutige Problem mit der Demokratie nicht bei den Teilnehmern, sondern bei den Inhalten – oder vielmehr dem Mangel an Inhalt, der Abwesenheit großer, das Denken von Generationen inspirierender Gedankenexperimente, die geeignet wären, der Gesellschaft eine neue Richtung zu weisen und eine neue Welle politischen Engagements zu entfachen. Weil sie in sich selbst nichts finden, womit sie den Geist der Demokratie wiederbeleben könnten, wollen sowohl die linken als auch die rechten Eliten die Schuld auf die Herde beziehungsweise den Mob abwälzen, dem wir den Zugang in den ersten Rang der Demokratie ihrer Ansicht nach nie hätten gewähren dürfen.