12.04.2013

Politik als Freiheit – oder Unfreiheit

Analyse von Sabine Reul

Wieso wir die repräsentative Demokratie gegen den Unmut über das Politische verteidigen müssen: Sie ist die Grundlage unserer politischen Freiheit. Ihre beste Zeit hat sie noch vor sich.

Löst bis zu den Bundestagswahlen im September kein unerwartetes Ereignis einen Erdrutsch aus, kann Angela Merkels Union wohl wieder mit einer Kanzlermehrheit rechnen. Zyniker könnten versucht sein zu fragen: Warum eigentlich auch nicht? Denn, sieht man von den Linken und wenigen aufrechten „Abweichlern“ in den Reihen der Regierungsfraktionen einmal ab, erfolgten seit 2009 die wirklich wegweisenden politischen Entscheidungen des Bundestages ohnehin mehr oder weniger einstimmig. 1 Das galt für die wirtschaftlich überaus folgenreichen zum Atomausstieg – dem die Linke die Zustimmung auch nur vorenthielt, weil er ihr nicht weit genug ging – und zur Energiewende genauso wie für die brisanten Beschlüsse im Rahmen des Euro-Krisenmanagements – vom EFSF, ESM und Fiskalpakt bis zu den einzelnen milliardenschweren Rettungspaketen. Die inhaltlichen Differenzen zu Themen solcher Tragweite sind im Bundestag inzwischen derart marginal, dass der periodische Disput über sozialpolitische Gesetzesvorlagen zu Frauenquote, Zusatzrente oder Betreuungsgeld, in dem dann Regierung und Opposition gegeneinanderstehen, wie eine rein kompensatorische Profilierungsübung erscheint.

In der deutschen Öffentlichkeit sind die angesprochenen großen Themen aber durchaus umstritten. Das gilt für den Atomausstieg aufgrund der ausgeprägten Abneigung der Deutschen gegen die Kernspaltung noch am wenigsten, aber was die Modalitäten seiner Umsetzung und die Umstellung auf erneuerbare Energien betrifft, ist die Skepsis in Industrie und Wissenschaft wie unter privaten Stromkunden ausgeprägt. Von der Europapolitik ganz zu schweigen: Viele bedeutende Wissenschaftler, Verfassungsexperten, Publizisten und vereinzelte Politiker haben ganz entschieden die Zuträglichkeit der zentral verordneten EU-Transfer-, Spar- und Umstrukturierungsprogramme für die Wirtschaft und Demokratie in Europa in Abrede gestellt. Darüber wird im ganzen Land diskutiert, aber im Bundestag und selbst in den Wahlkämpfen der Parteien finden Debatten zur Europapolitik nicht statt. Manche halten das gar für einen „großen Vorzug der deutschen Politik“, etwa mit Blick auf den anhaltenden Haushaltsstreit im US-Kongress. So jüngst der stellvertretende SPD-Vorsitzende Olaf Scholz, der zum lagerübergreifenden Konsens im Bundestag zur Europapolitik meinte: „Das gehört sich so.“ 2 Dass es schon als Teil der politischen Etikette gilt, sich eigene Positionen zu versagen (da ist Scholz kein Einzelfall), zeigt, wie wenig Bedeutung das Führungspersonal der Parteien dem inhaltlichen Streit im Parlament heute beimisst.

„Die Ausdünnung der repräsentativen Demokratie hat in der „Ära Merkel“ einen Quantensprung erlebt, aber daraus zu schließen, die Kanzlerin sei irgendwie an allem schuld, ist arg kurz gesprungen.“

Deshalb äußern sich der Unmut und Dissens der Menschen heute außerhalb des parlamentarischen Prozesses, und zwar in zunehmender Wahlenthaltung – die lag schon bei den letzten Bundestagswahlen mit knapp 71 Prozent auf dem niedrigsten Niveau seit Gründung der Bundesrepublik –, aber auch in der wachsenden Zahl von Bürgerinitiativen, Netzwerken und Blogs und in der immer häufigeren Forderung nach Bürgerentscheiden und „direkter“ Demokratie. Dass es den Menschen in Deutschland an politischem Engagement mangelt, lässt sich angesichts dieser Initiativen sicher nicht behaupten. Nur wäre es ein gravierender Irrtum, diese Formen politischer Aktivität als gewissermaßen „bessere“ oder authentischere der repräsentativen Demokratie der Parteien und Parlamente gegenüberzustellen, wie das heute manche ihrer Protagonisten und Förderer tun. Denn die sogenannte „Partizipation“ unterhalb der Ebene des parlamentarisch-demokratischen Prozesses wird natürlich nie leisten, was dieser heute zwar nur äußerst mangelhaft leistet: Die Interessen, Meinungen und Empfindungen der Gesamtheit der Bürger so zur Artikulation und in politischen Wettstreit miteinander zu bringen, dass sie letztlich Einfluss auf die Gestaltung der Gesellschaft als ganzer nehmen können.

Die Ausdünnung der repräsentativen Demokratie hat in der „Ära Merkel“ einen Quantensprung erlebt, aber daraus zu schließen, die Kanzlerin sei irgendwie an allem schuld, ist arg kurz gesprungen 3. Zum einen erodiert die Bindungskraft der großen Volksparteien schon seit den 1970er Jahren. Auch die Übertragung wichtiger legislativer und meinungsbildender Kompetenzen an nicht gewählte europäische Institutionen oder intransparente NGO- und Expertenzirkel mit der Folge verminderter Kommunikation und Einsehbarkeit politischer Entscheidungsprozesse findet nicht erst seit gestern statt. Die daraus resultierende Entfremdung zwischen Politik und Bürgern ist schon seit den 1980er Jahren ein Dauerthema der Politikwissenschaft und Publizistik. Die Geringschätzung individueller Freiheit unter dem Einfluss eines ökologistischen Menschenbilds, welches das Streben nach Wohlstand und sozialem Fortschritt als pathologisch und als Bedrohung des Planeten begreift, treibt ebenfalls schon lange den Trend zur entsprechenden Politik autoritärer Eingriffe in die persönlichen Gewohnheiten und Freiheiten der Bürger voran. Und schließlich ist auch das Prinzip der nationalen Souveränität im Zeichen des Globalisierungsdogmas schon seit Jahren so nachhaltig desavouiert worden, dass jeder, der darauf noch etwas gibt, inzwischen als Phantast belächelt oder als Populist verunglimpft wird.

All das hat sich in der aktuellen Legislaturperiode in Deutschland zugespitzt. Die geschilderten Trends bilden den Hintergrund, auf dem bislang kaum denkbare Eingriffe in die Souveränität der wirtschaftlich schwächeren EU-Mitgliedsstaaten jetzt nur den wenigsten als illegitim erscheinen, vielen dagegen – darunter der überwältigenden Mehrheit des deutschen Bundestags – als notwendige Disziplinierungsinstrumente zur Erzielung erhoffter Konsolidierungs- und Stabilisierungseffekte. Dabei agiert (ausgerechnet) Deutschland als treibende Kraft einer Politik, die Demokratie und Souveränität wie lästigen Kram beiseiteschiebt, wenn sie der effizienten Umsetzung von „Stabilitätsregeln“ im Wege stehen, deren wirtschaftlicher Sinn sich keineswegs allen Beobachtern erschließt. Und hätte in Deutschland das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen zum europäischen Krisenmanagement der Bundesregierung und zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) im vergangenen Jahr nicht einen Riegel vorgeschoben, wäre auch der Bundestag von der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Information und Befassung mit den Beschlussvorlagen der EU-Staatschefs und ihrer Berater weiterhin ausgeschlossen. 4

Doch was genau ist es, was da schwindet, wenn Demokratie erodiert? Kritiker der „Postdemokratie“ neigen oft zu einer gewissen Fetischisierung der aktuellen äußeren Formen der Demokratie, worüber das Wesentliche aus dem Blickfeld geraten kann. Da ist dann viel von der sinkenden Wahlbeteiligung oder Auflösung traditioneller Parteibindungen und Wählermilieus und vielen anderen Phänomenen die Rede, die zwar zutreffend beobachtet und wohl auch Teil des Problems sind, aber zum Kern der Sache nicht vordringen. Zu klären, weshalb Wähler nicht oder nicht mehr in gewohnter Weise wählen, mag zwar interessant sein. Aber zu klären, wozu der parlamentarisch-demokratische Prozess – von dem der Wahlakt ja nur ein Aspekt unter vielen ist – überhaupt dient oder dienen sollte, ist etwas anderes.

Was ist „Repräsentation“ überhaupt? Es ist, wie das berühmte Frontispiz von Thomas Hobbes’ Leviathan andeutet, auf dem die vielen Körper des Volks den Körper des Monarchen bilden, die moderne Antwort auf die Frage, wie aus vielen einer wird – e pluribus unum. Nun ist Hobbes als vehementer Gegner der Demokratie und Philosoph des Absolutismus unter progressiv denkenden Menschen schon immer eher verpönt gewesen. Aber das doch etwas zu Unrecht, denn er war ein leidenschaftlicher Anhänger individueller Freiheit und hätte der heutigen Auflösung der Grenzen zwischen Staat und Privatsphäre durch ausufernde Eingriffe in die persönlichen Lebensweisen der Bürger wenig Verständnis entgegengebracht. Und er hat als erster das Kernproblem der Politik in der bürgerlichen Gesellschaft systematisch untersucht. Wie soll in einer Gesellschaft freier Individuen, die mit dem Recht – ja sogar der Pflicht – ausgestattet sind, ihr persönliches Glück zu suchen, so etwas wie Gemeinsinn entstehen? Dazu bedarf es, so Hobbes, der freiwilligen Übertragung politischer Macht und ausschließlicher Entscheidungsgewalt auf den Souverän. Denn: „Wäre keine Macht da, welche allen das Gleichgewicht halten könnte, so wäre das Leben der Menschen nebeneinander nicht bloß freudlos, sondern vielmehr auch höchst beschwerlich (…)“, so die wohl berühmteste Passage des Leviathan. 5

Bei Hobbes bezeichnet „Repräsentation“ diese Beziehung zwischen den vielen Einzelnen und dem Staat, seinerzeit verkörpert im absoluten Monarchen. Natürlich war Repräsentation hier nicht zu verwechseln mit moderner Demokratie. Der Begriff war zu jener Zeit eher gedankliches Konstrukt als Wirklichkeit, da der Monarch absolut herrschte und keinen Rechenschaftspflichten unterlag, doch der große – wenn auch nur gedankliche – Fortschritt bestand darin, dass Hobbes die Übertragung politischer Macht an den Monarchen als freiwillige vertragliche Handlung der Bürger fasste, durch die der Staat erst Legitimität erlangt. Von dieser Idee bis zur modernen Demokratie ist es ein gewaltiger Sprung: Das Volk selbst als Souverän wählt seine Repräsentanten und kann sie jederzeit abberufen. Doch umso mehr gilt, dass die Legitimität des staatlichen Handels sich immer dadurch erweisen muss, dass sie das bewusste und gewollte Einverständnis der Bürger findet. Anerkannte politische Autorität, Gemeinsinn und neben den Interessen der vielen ein „allgemeines“ Interesse können nur so entstehen. Und der Widerspruch zwischen der Freiheit der Individuen und der Notwendigkeit, eine politische Macht zu bestellen, die die Interessen der Einzelnen zum Ausgleich bringt – zwangsläufig immer zu Lasten derer, deren Interesse oder Meinung sich mehrheitlich nicht durchsetzen konnte –, kann nie aufgehoben, sondern nur immer wieder neu bearbeitet werden.

Das ist politische Freiheit. Und der demokratische Prozess, der sie sichert, ist, wie sich unschwer ermessen lässt, ein hoch anspruchsvoller. Er setzt das informierte Einverständnis – oder auch Nichteinverständnis – der Bürger mit den im Parlament getroffenen Entscheidungen voraus, das ohne ausführliche Information und öffentliche Begründung und Abwägung verschiedener politischer Optionen nicht wirklich erlangt werden kann. Es setzt in der Tat voraus, dass die repräsentative Versammlung ein Ort des passionierten Ideen- und Meinungsstreits ist. Und auch, dass das Parlament und die von ihm bestellte Regierung sich als Herren des Prozesses empfinden, statt sich, wie heute üblich, auf Sachzwänge und Entscheidungsnotstände herausreden, um unpopuläre Maßnahmen zu rechtfertigen. Es setzt voraus, dass die Politik die Bürger als Rechtssubjekte und Vernunftwesen schätzt, vor denen sie sich zu verantworten hat und die durchaus in der Lage sind, komplexe Sachverhalte richtig einzuordnen, wenn sie ihnen auch gescheit vorgetragen werden. Auch eine gewisse Begeisterung für die ehrenvolle Aufgabe, als Volksvertreter gemeinsam mit den „Vielen“ an der Gestaltung der Zukunft zu arbeiten, zählt zu den Voraussetzungen einer Politik der Freiheit.

Aktuell mangelt es an all diesen Dingen. Aber die repräsentative Demokratie hat eine neue „beste Zeit“ wahrscheinlich noch vor sich. Sie hat sich seit ihren Anfängen in den bürgerlichen Revolutionen des 17. bis 19. Jahrhunderts schließlich auch laufend verändert. Erst stand die individuelle Freiheit im Mittelpunkt des demokratischen Ethos, was bis heute vor allem in der Politik der Vereinigten Staaten nachwirkt. Unter dem Einfluss der Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie traten in Europa seit Ende des 19. Jahrhunderts eher die kollektiven Interessen der Klassengegner Kapital und Arbeit und mit ihnen deren verfeindete Großparteien in den Vordergrund. Das ist Geschichte. Heute sind eben wieder neue Formen und Inhalte politischer Freiheit zu entdecken.

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