04.03.2022

Die lange und die kurze Leine

Von Kolja Zydatiss

Titelbild

Foto: US-Regierung via Wikicommons

Gesellschaften, die sich als freiheitlich und demokratisch begreifen, können es sich nicht leisten, ihre Bürger wie Untertanen behandeln. Das gilt auch und gerade in Krisen- und Kriegszeiten.

„Das Spiel wird im Kopf entschieden“, lautet ein oft Boris Becker zugeschriebenes Diktum. Gilt das auch für militärische Konfrontationen? Tatsächlich bestimmen neben Glück, Ausrüstungsgrad und bloßer Zahlenstärke auch sozialpsychologische Faktoren den Ausgang kriegerischer Auseinandersetzungen, wahrscheinlich sogar wesentlich. Warum etwa werden Armeen aus dem arabischen Kulturraum immer wieder zerschlagen, auch von zahlen- und ausrüstungsmäßig unterlegenden Gegnern? Mehr über die kulturellen und gruppendynamischen Hintergründe erfahren Sie es im gut recherchierten und überzeugend argumentierenden YouTube-Video „Why Arabs Lose Wars“ (bislang fast drei Millionen Aufrufe).

Auch in der Ukraine stehen sich derzeit zwei sehr ungleiche Gegner gegenüber, und David hat keine schlechten Chancen, Goliath aufzureiben und in die Flucht zu schlagen. Jeden Morgen lese ich in den Nachrichten, dass die demokratisch gewählte Regierung von Wolodimir Selenski in der belagerten und unter Beschuss geratenen Hauptstadt Kiew weiterhin die Stellung hält. Aus der zweitgrößten ukrainischen Metropole, Charkiw, konnten die russischen Invasoren vertrieben werden. Normale Bürger greifen zu den Waffen, basteln Molotowcocktails, montieren Straßenschilder ab, schalten russische Saboteure aus und stellen sich sogar unbewaffnet den russischen Fahrzeugen entgegen. Die ukrainischen Kommandostrukturen scheinen zu funktionieren. Nach dem vom Wladimir Putin (und – zynischer Gedanke – wohl auch von Teilen von SPD, Linkspartei und AfD) erhofften Blitzsieg sieht es bisher nicht aus.

Wenn unvollkommene Demokratien in den Krieg ziehen

In Krisenzeiten rücken Gesellschaften zusammen, vor allem wenn sie das Gefühl haben, ihnen werde kollektiv ein großes Unrecht angetan. Das gilt auch für marode, schlecht regierte, von großer sozialer und materieller Ungleichheit geprägte Gesellschaften.1 In seinem buchlangen Essay „The Lion and the Unicorn: Socialism and the English Genius2, verfasst 1940/41 während der Luftschlacht um England, äußerte der Schriftsteller George Orwell seine Befürchtungen hinsichtlich einer Untergrabung der britischen Wehrfähigkeit im Kampf gegen Hitler durch kurzsichtige Kapitalinteressen und die Klassenstruktur der britischen Gesellschaft und seine Hoffnung, dass eine sozialdemokratische Politik diese Klassenunterschiede am besten schon während des Krieges überwinden könne.3

„Eine Pressezensur gab es auch nach Kriegsausbruch in Großbritannien kaum – nahezu alles konnte frei geäußert werden, von Hitler-Versteherei über Radikalpazifismus bis stalinistischen Positionen.“

Die Abhandlung enthält einige der einprägsamsten Orwell-Zitate. Sie beginnt etwa mit den Worten: „Während ich dies schreibe, fliegen hochzivilisierte Menschen über meinem Kopf hinweg und versuchen, mich zu töten.“ England beschreibt der Autor als die „am stärksten in Klassen erstarrte Gesellschaft unter der Sonne“. Aber – und das ist der springende Punkt – angesichts der sehr realen Möglichkeit einer Eroberung durch das nationalsozialistische Deutschland beginnt dieses ziemlich altmodische Land mit seinen schlecht ausgerüsteten einfachen Truppen, seinem von der Hand in den Mund lebenden Industrieproletariat und seiner dekadenten und weltfremden Oberschicht, aus der sich auch große Teile des Offizierskorps rekrutieren, als Kollektiv zu handeln.

In Momenten der größten Krise, schreibt Orwell, fühlen alle Einwohner Großbritanniens das gleiche und arbeiten zusammen. „Die Nation ist durch eine unsichtbare Kette miteinander verbunden.“ Spätestens mit dem Kraftakt der Evakuierung von Dünkirchen und den Vorbereitungen auf die deutsche Invasion sei der britische Riese aus seinem Schlaf erwacht und wachse an der Herausforderung, die „mächtigste Kriegsmaschinerie, die die Welt je gesehen hat“ zurückzuschlagen.

Orwell führt die „Solidität und Homogenität Englands“, den „Patriotismus, der sich wie ein roter Faden durch fast alle Klassen zieht“, nicht auf eine Kontrolle von Presse und politischen Diskursen, nicht auf die Einschüchterung von Andersdenkenden zurück (eine Pressezensur gab es, wie der Autor hervorhebt, auch nach Kriegsausbruch in Großbritannien kaum – nahezu alles konnte frei geäußert werden, von Hitler-Versteherei über Radikalpazifismus bis stalinistischen Positionen). Im Gegenteil, schreibt Orwell, die Stärke des Vereinigten Königreichs sei sein Glauben an Begriffe wie Recht und individuelle Freiheit, seine Demokratie, und sei sie auch noch so unvollkommen.

„Zum Zusammenhalt an Front und Heimatfront trugen nach Orwell auch gemeinsame kulturelle und moralische Annahmen bei, von der Wertschätzung der Privatsphäre über die Kneipenkultur bis zur Ablehnung von Antisemitismus.“

Die „lockere Demokratie“ Britanniens mit ihren Streiks und ihrer Parteipolitik war für Orwell etwas fundamental anderes als die gleichgeschalteten Staaten Mussolinis und Hitlers mit ihrer Geheimpolizei, ihrer Zensur, ihrer Zwangsarbeit. Trotz allen Elendsvierteln, bei aller Arbeitslosigkeit, trotz aller „Trägheit, Heuchelei und Ungerechtigkeit“, die das England seiner Zeit auszeichneten: „Wenn es hart auf hart kommt, kann niemand, der in der westlichen Tradition aufgewachsen ist, die faschistische Vision des Lebens akzeptieren.“

Zum Zusammenhalt an Front und Heimatfront trügen auch gemeinsame kulturelle und moralische Annahmen bei, von der Wertschätzung der Privatsphäre über die Kneipenkultur bis zur Ablehnung von Antisemitismus. Außerdem: Die ersten Anzeichen während der Zwischenkriegsjahre, dass die traditionellen Klassenunterschiede am Verblassen und Wohlstand für alle möglich sei. Orwell hebt die überall entstandenen Neubauviertel hervor, und den dort von einer neuen technischen Intelligenz, z.B. Chemikern, Piloten oder Flugzeugmechanikern, gepflegten fortschrittlichen Lebensstil. Dessen Merkmale, u.a. billige Autos aus Massenproduktion, arbeitssparende Geräte, Essen aus Konservendosen, die „nackte Demokratie“ der öffentlichen Schwimmbäder, höben sich stark von den herkömmlichen englischen Sozialmilieus ab.

In den USA war die Dynamik eine Ähnliche. Afroamerikaner und weiße US-Bürger kämpften Seite an Seite gegen Nazideutschland, das faschistische Italien und das japanische Kaiserreich. Zur Mobilisierung gegen diese Feinde des „American Way of Life“ mussten schwarze Amerikaner ebenso wenig gezwungen werden wie englische Industriearbeiter. „Vor dem Vietnamkrieg waren die Kämpfe um die Gleichberechtigung der Schwarzen eng verwoben mit Vorstellungen von nationaler Zugehörigkeit, Männlichkeit und Militärdienst“, erklärt die amerikanische Historikerin Lauren Mottle.4 Dieser Ethos sei z.B. in der sogenannten „Double V Campaign“ verkörpert worden, einer vor allem von schwarzen Zeitungsherausgebern vorangetriebenen Kampagne für einen „doppelten Sieg“ (double victory) der Demokratie „zu Hause und in Übersee“, die laut einer zeitgenössischen Meinungsumfrage bei Afroamerikanern auf eine 91-prozentige Zustimmung stieß.5

„Zur Mobilisierung gegen Nazideutschland, Italien und Japan mussten schwarze Amerikaner ebenso wenig gezwungen werden wie englische Industriearbeiter.“

„No Viet Cong ever called me nigger.“

Beim weitaus schwächer moralisch legitimierten amerikanischen Eintritt in den Vietnamkrieg zwei Jahrzehnte später sah die Sache, wie im obigen Zitat angedeutet, anders aus. Viele junge Afroamerikaner, trotz einiger Fortschritte noch immer Bürger zweiter Klasse, hatten die Geduld mit ihrem Land verloren und definierten sich über ihren Widerstand gegen den Krieg und die Wehrpflicht.6 Berühmt geworden ist ein Ausspruch, der dem Boxer Muhammad Ali zugeschrieben wird: „No Viet Cong ever called me nigger.“ Unabhängig davon, ob er dies tatsächlich jemals sagte – für die Kriegsdienstverweigerung war Ali bereit, ins Gefängnis zu gehen und seine Karriere als Profisportler zu opfern.

Kurzum: Pluralistische westliche Demokratien sind in der Lage, die verschiedensten sozialen Schichten und Milieus in eine nationale Kriegsanstrengung zu integrieren, insbesondere wenn die Ideologie des äußeren Feindes als eine Bedrohung für die zivilisatorischen Errungenschaften der eigenen Gesellschaftsform erkannt wird. Interessanterweise weisen auch Menschengruppen, die – böses postmodernes Wort – „strukturell“ zu den Unterprivilegierten und Verlierern der jeweiligen Gesellschaft gehören, oft eine hohe intrinsische Motivation auf, unter den extremen Bedingungen des Krieges stoisch ihrem Land zu dienen – im Hinterkopf stets die Möglichkeit des „ultimate sacrifice“.

Aber die Duldsamkeit der Menschen ist nicht unendlich. Muhammad Ali weigerte sich, für ein Land in den Krieg zu ziehen, in dem er, trotz seiner für dieses Land errungenen Olympiamedaillen, nicht an einem Hamburgerstand bedient wurde. Es wird mir als querschwurbelnde Relativierung ausgelegt werden, aber ist es wirklich so weit hergeholt, von hier eine Parallele zur Gegenwart zu ziehen? Zu den rund 25 Prozent nicht mit einem notzugelassenen Impfstoff „vollimmunisierten“ Bundesbürgern, die seit Monaten weitestgehend vom öffentlichen Leben ausgeschlossen sind – vom Kneipenbesuch, vom Fußballstation, ja sogar vom Handyladen und Schuhgeschäft (während auch gut begründete Meinungen, die vom selbsterklärten Corona-Mainstream abweichen, auf eine Weise ausgegrenzt werden, die einer offenen Gesellschaft unwürdig ist)?

„Muhammad Ali weigerte sich, für ein Land in den Krieg zu ziehen, in dem er, trotz seiner für dieses Land errungenen Olympiamedaillen, nicht an einem Hamburgerstand bedient wurde.“

George Orwell schrieb von der einenden Kraft gemeinsamer Moralvorstellungen und kultureller Gepflogenheiten. Im heutigen Deutschland sind diese stark unter Beschuss geraten, durch die von tonangebenden Kreisen vorangetriebene Identitätspolitik, die alles Verbindende und Verbindliche auflösen will, und durch die wachsende Selbstdesintegration vor allem muslimisch geprägter Einwanderungscommunities.

Orwell betonte die Strahlkraft von Individualrechten und Demokratie (selbst wenn die gelebte Praxis viel zu wünschen übrig ließe). Auch hier hat es in den letzten Jahren und Jahrzehnten einen extremen Rollback gegeben (notdürftig verschleiert durch die Neudefinition des Demokratiebegriffs von einem System politischer Repräsentation zu einer diffusen moralischen Haltung). Die jüngste Berliner Chaos Wahl u.a. mit geschätzten Meldeergebnissen, die Verwandlung Deutschlands und anderer westlicher Staaten in totale Gesundheitsregimes mit über mehrere Jahre stark eingeschränkten Grundrechten (am schwersten wiegt hier wohl die andauernde drakonische Unterdrückung der Versammlungsfreiheit bestimmter unliebsamer Gruppen), sowie die farcehafte Krönung der amtierenden EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen in einem Brüsseler Hinterzimmer 2019 sind nur einige der jüngsten Tiefpunkte, die einen fragen lassen, ob die Gesellschaft, in der wir leben, als offene Gesellschaft und Demokratie wirklich richtig beschrieben wird.

Nicht zuletzt argumentierte Orwell, dass die voluntaristische „Blut, Schweiß und Tränen“-Rhetorik ihrer Regierung bei der britischen Arbeiterklasse auch deshalb verfing, weil die (Vorkriegs-)Ordnung des Vereinigten Königreichs, bei all ihren Ungleichheiten und Mängeln, über sich selbst hinaus wies, auf die Möglichkeit einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft in einem durch soziale Reformen eingehegten oder gar überwunden Kapitalismus.7 Dass dieses Wohlstands- und Sicherheitsversprechen für die „breite Masse“ von der heutigen politischen Klasse nicht einmal mehr angestrebt wird (und unter ökologischen Gesichtspunkten auch nicht für wünschenswert gehalten wird, Stichwort „Grenzen des Wachstums“), ist offensichtlich.

„Das blau-gelbe Fahnenmeer, die breite Front der über den russischen Einmarsch Empörten, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Fall der Fälle viele im Westen nur noch mit Mühe sagen könnten, was denn eigentlich unsere Sache ist.“

Und so führt berechtigte Unzufriedenheit mit den eigenen Eliten dazu, dass einige verwirrte Westler hoffnungsvoll gen Osten schielen. No Russian ever asked me for my Impfnachweis…

Kämpfen – wofür eigentlich?

Im aktuellen Konflikt scheint der immer erratischer agierende russische Diktator zu ungeahnten Zerstörungen und Grausamkeiten fähig, von der Verwandlung ukrainischer Städte in Trümmerwüsten bis zum atomaren Erstschlag gegen europäische Metropolen. In Deutschland wird vor diesem Hintergrund aktuell viel über die Aufrüstung der Bundeswehr gesprochen. Die neue Bundesregierung unter Olaf Scholz vollzieht in atemberaubendem Tempo eine Abwendung vom Kurs der Vorgängerregierungen, die das Thema Verteidigung und Rüstung eher stiefmütterlich behandelten. Die Bundeswehr soll 100 Milliarden Euro als Sondervermögen erhalten, u.a. will man damit amerikanische F-35 Kampfjets und hochmoderne israelische Drohnen bestellen.

Wie ich hier skizziert habe, kommt es im militärischen Fall der Fälle allerdings nicht nur auf die Ausstattung und Ausbildung der Truppen an. Mindestens ebenso ausschlaggebend für die Wehrfähigkeit ist die allgemeine innere Verfasstheit einer Gesellschaft. „Then conquer we must, when our cause it is just”, heißt es in der (selten gesungenen) vierten Strophe der amerikanischen Nationalhymne. „Dann müssen wir siegen, wenn unsere Sache gerecht ist.“ Das blau-gelbe Fahnenmeer, das uns derzeit auf Twitter entgegenschlägt, die breite Front der über den russischen Einmarsch Empörten, die in Deutschland vom Linkspartei-Veteran Gregor Gysi zu den Herausgebern der rechtskonservativen Jungen Freiheit reicht, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Fall der Fälle viele im Westen nur noch mit Mühe sagen könnten, was denn eigentlich unsere Sache ist.

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