23.02.2022
Westlicher als der Westen erlaubt
Ein Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen. Doch in seiner selektiven Geringschätzung nationaler Souveränität entspricht Putin haargenau dem westlichen Denken.
Klarer Fall. Russische Gruppen haben in der Ukraine nichts verloren! Die Ukraine ist ein souveräner Staat, und nationale Souveränität und Unabhängigkeit sind die Voraussetzung dafür, dass sich Gesellschaften demokratisch organisieren und entwickeln können. Und selbst wenn Regierungen nicht eben demokratisch sind, sorgt die Einmischung von außen so gut wie nie dafür, der Mehrheit zu Recht und Freiheit zu verhelfen.
Dass der russische Präsident Putin das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine negiert und eigene Soldaten als angebliche Friedenstruppen ins Land schickt, verstößt gegen alle internationalen Gesetzmäßigkeiten und Gepflogenheiten. Er würde es auch selbst nicht akzeptieren, wenn etwa westliche Truppen nach Tschetschenien entsandt worden wären.
Die Lage ist kritisch, und sie ist dies aus mehreren Gründen. Man macht es sich zu einfach, die Eskalation einfach nur Putins Großmachtgelüsten zuzuschreiben, die er nun plötzlich nicht mehr habe kontrollieren können. Der Westen und die Nato sind an diesem Debakel alles andere als schuldlos. Dass die Osterweiterung der Nato und das Angebot des westlichen Militärbündnisses an die Ukraine, doch evtl. langfristig zu einem Bündnismitglied zu werden und damit den Einflussbereich westlicher Truppen unmittelbar an die russischen Grenzen auszudehnen, in Moskau nicht gerade als friedensstiftende und vertrauenerweckende Maßnahme aufgefasst wurde, sollte jedem einleuchten. Diese Entwicklungen haben ja bereits 2014 in der Ukraine zu einem Krieg geführt, der seither schwelt.
„Putin hat vom Westen gelernt, wie man politisch korrekt heuchelt. Sogar das westliche Vokabular der humanitären Kriegsführung hat er sich angeeignet.“
Das ist keine Rechtfertigung für das russische Vorgehen in der Ukraine – weder 2014 noch jetzt. Als Rechtfertigung kann Putin ganz andere politische Ereignisse anführen. Denn der Westen ist selbst weit davon entfernt, nationale Souveränität und die Unveränderbarkeit bestehender Grenzen zu akzeptieren. Oder warum war kein Aufschrei der westlichen Öffentlichkeiten zu hören, als das Selbstbestimmungsrecht des Irak, Syriens, Afghanistans, Libyens oder anderer Staaten mit Füßen getreten und mit Bombardements zerstört wurde?
Die westliche Welt empört sich zurecht darüber, dass Putin zwei abtrünnige ukrainische Provinzen einseitig anerkennt und militärisch unterstützt. Aber wodurch unterscheidet sich diese Situation von der in Jugoslawien Anfang der 1990er Jahre? Auch damals gab es zwei abtrünnige Teilrepubliken, die sich von einem Vielvölkerstaat lossagen wollten. Der Unterschied ist: Damals waren es nicht die bösen Russen, die diesen Vorgang unterstützten. Es war der Westen, und insbesondere das frisch wiedervereinigte und eine neue Rolle in der Weltpolitik suchende Deutschland, das die Abspaltung von Slowenien und Kroatien vorantrieb und dadurch den Konflikt anheizte. Die Folgen dieser verhängnisvollen Politik können bis heute auf dem Balkan besichtigt werden.
Wer heute Putin kritisiert, sollte ehrlich genug sein und anerkennen, dass der russische Präsident in seinem Politikstil den Westen geradezu kopiert hat. Putin hat vom Westen gelernt, wie man politisch korrekt heuchelt. Er erkennt nach Freiheit strebende Sezessionisten in der Ostukraine an, er bietet ihnen wirtschaftliche Hilfe an und springt ihnen dann militärisch zur Seite mithilfe von „Friedenstruppen“. Sogar das westliche Vokabular der humanitären Kriegsführung hat er sich angeeignet. Wenn er jetzt noch seine Emotionen und Gesichtszüge ein bisschen besser unter Kontrolle behielte und ein wenig einfühlsamer rüberkäme, er könnte sich glatt im Westen um ein führendes Amt bewerben.
„Wer sich für eine Welt in Freiheit und Demokratie einsetzen will, der muss jedem Volk das Recht auf nationale Souveränität und Selbstverteidigung zugestehen, ganz egal, ob in der Ukraine, oder im Irak, oder in Mali, in Libyen oder in Afghanistan.“
Das Problem daran ist, dass der seiner Doppelzüngigkeit überführte und entlarvte Westen jede Form moralischer Autorität verloren hat und ihm seine Heuchlerei immer häufiger um die Ohren fliegt. Sei es im Umgang mit Russland oder China, oder auch mit der Türkei, deren autoritären Machthaber man dafür bezahlt, damit dieser die Flüchtlingsströme von Europa fernhält, wie auch immer er das tut. Die geradezu kindlich naiven und emotional unkontrollierten Reaktionen westlicher Politiker und Diplomaten auf das Vorgehen Putins in der Ukraine zeigen den politischen Niedergang des einstigen Gewinners im Systemkonflikt.
Ein Staatenbündnis, in dem zentrale Werte wie nationale Souveränität und Demokratie immer häufiger intern kritisiert und auch grundlegend infrage gestellt werden, ein solches Bündnis kann keine Strahlkraft entwickeln, weder eine einende nach innen noch eine abschreckende nach außen. Sich jetzt hinzustellen und Putins Einmischungspolitik zu kritisieren, nachdem westliche Intellektuelle genau diese Einmischung in allen möglichen Konfliktlagen selbst seit Jahrzehnten fordern und nationale Souveränität als Teufelszeug und Nazi-Idee verteufeln, ist peinlich und lächerlich. Und mehr noch: Es zeigt, dass man selbst Teil des Problems ist.
Wer sich für eine Welt in Freiheit und Demokratie einsetzen will, der muss jedem Volk das Recht auf nationale Souveränität und Selbstverteidigung zugestehen, ganz egal, ob in der Ukraine, oder im Irak, oder in Mali, in Libyen oder in Afghanistan. Nur dann kann man die politische Stärke entwickeln, um Aggressor*innen und andere Arschlöcher*innen der Weltpolitik tatsächlich im Zaum zu halten.