07.10.2021

Demokratie als Haltung, Wählen als Ritual

Von Kolja Zydatiss

Titelbild

Foto: Arnaud Jaegers via Unsplash / CC0

Der Demokratiebegriff wird neu definiert, statt für politische Repräsentation steht er zunehmend für eine moralische Haltung. Da kann man Wahlergebnisse auch einfach schätzen, wie jüngst in Berlin.

Komplett identische Meldeergebnisse für verschiedene Wahllokale, die sich später als „Schätzungen“ herausstellen, fehlende, vertauschte und hastig am Kopierer nachgedruckte Stimmzettel, illegale Stimmabgaben von Minderjährigen, viel mehr abgegebene Stimmen als Wahlberechtigte und stundenlanges Schlangestehen vor Wahllokalen. Die Pannenserie bei den in Berlin am 26. September zeitgleich abgehaltenen Wahlen zum Deutschen Bundestag, Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen (hinzu kam noch ein Volksentscheid über die Enteignung von großen Wohnungsunternehmen) übersteigt selbst die wildesten Fantasien des Autors, der 1989 in Berlin geboren wurde und rund 90 Prozent seines Lebens in der oft dysfunktionalen Bundeshauptstadt verbracht hat.

Ein regierender Bürgermeister wollte mal, dass Berlin „arm aber sexy“ sei (er hielt das wohl für sexy Marketing, viele Bürger durchschauten es allerdings schnell als armseligen Zynismus). Von „arm aber sexy“ zum „failed state“ war dann kein großer Schritt mehr. Heute meint der Diplomat a. D. Volker Seitz, zuletzt von 2004 bis 2008 Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Kamerun: „Ich sehe mich nach dem Chaos am Wahltag in dem überforderten und defekten Gemeinwesen Berlin nicht mehr in der Lage, afrikanische Staaten zu kritisieren, wenn sie demokratische Wahlen nicht angemessen organisieren können. Identische Wahlergebnisse gleich in 22 Wahllokalen habe ich in 17 Jahren in Afrika nie erlebt.“

„In der erzieherischen Haltungs- oder Werte-‚Demokratie‘ spielen konkrete Wahlergebnisse als Abbildung des Volkswillens nur eine untergeordnete Rolle.“

Der konservative Publizist Alexander Kissler schiebt die jüngsten Pannen auf eine in Berlin vorherrschende „Alles-egal-Attitüde“, die sich nun auch auf die Durchführung von Wahlen auswirke. Aber ich denke, das ist ein wenig zu einfach. Sicherlich spielen auch weitere Faktoren eine Rolle. Der mit linkspopulistischen Politikansätzen sympathisierende deutsche Soziologe Wolfgang Streeck weist etwa in seinem aktuellen Werk „Zwischen Globalismus und Demokratie: Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus“ (Suhrkamp, Juli 2021) auf eine schleichende Neudefinierung des Demokratiebegriffs hin. An die Stelle der „Repräsentation der Unterklasse in der Demokratie als Institutionensystem“ trete zunehmend die „Erziehung der Unterklasse in der Wertedemokratie“.1

Im Zuge eines politisch-ökonomischen Transformationsprozesses von der „sozialen“ zur „liberalen“ Demokratie, vom „demokratischen“ zum „neoliberalen“ Kapitalismus2 sei Demokratie „von einer plebejischen Institution in eine moralische Haltung“ umdefiniert worden („unter bemerkenswert enthusiastischer Beihilfe eines Teils der akademischen ‚Demokratietheorie‘“).3 Man gelte heute als „Demokrat“ oder eben nicht als solcher, je nachdem, ob man bereit sei, die „Werte“ der Demokratie anzunehmen, welche von „deliberierenden Rechtsexperten erkannt statt von streitenden Bürgern beschlossen“ würden (mit „demokratischen Werten“ meint der Autor in Anlehnung an die Arbeit der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe vor allem einen „allumfassenden Universalismus“, welcher „zusammen mit dem nationalen auch jeden sozialen Partikularismus aus der Welt schafft“). „Statt durch Demokratie repräsentiert werden Bürger von Bürgern, die wissen, was Demokratie ist, zu ‚Demokraten‘ erzogen“, resümiert der Soziologe [alle Hervorhebungen im Original].4 (Obwohl Streeck hierauf nicht näher eingeht, kann man sich leicht selbst denken, wer wohl die „erziehenden“ Akteure sind, zum Beispiel Schulen, öffentlich-rechtliche Medien, identitätspolitisch orientierte NGOs wie die „Neuen deutschen Medienmacher“, die staatliche Kampagne „Demokratie leben!“…)

„Vor diesem Hintergrund wird wählen gehen zu einer Art ritualisierten Handlung.“

Dieser Neudefinitionsprozess kann erklären, warum die Demokratie heute zwar ständig pathetisch beschworen wird (etwa kürzlich von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich des Tags der Deutschen Einheit), aber praktisch immer mehr ausgehöhlt wird – von der Brüsseler oder Davoser Hinterzimmermauschelei bis zur jüngsten Berliner Chaos-Wahl. Denn wenn Merkel sagt: „Demokratie ist nicht einfach da. Sondern wir müssen immer wieder für sie miteinander arbeiten, jeden Tag“ oder Promis vor Landtagswahlen in Ostdeutschland zusammen einen Song mit dem Titel „Die Demokratie ist weiblich“ aufnehmen, ist nicht die repräsentative, plebejische Demokratie gemeint, für die der Altlinke Streeck eintritt, sondern die erzieherische Haltungs- oder Werte-„Demokratie“. Und in dieser spielen konkrete Wahlergebnisse als Abbildung des Volkswillens – beziehungsweise geordnete, rechtmäßige und faire Verfahren zur Ermittlung desselben – nur eine untergeordnete Rolle.

Vor diesem Hintergrund wird wählen gehen zu einer Art ritualisierten Handlung. Die Beteiligung an Wahlen als „erste Bürgerflicht“ für jeden Wahlberechtigen könne als „fester Bestandteil postfaschistischer deutscher Ideologie“ gelten, bemerkte Magnus Klaue bereits 2009 in der Jungle World. „Denn wer nicht wählen geht – das wissen selbst die, die sonst vom deutschen Wahlsystem keine Ahnung haben –, der hilft letztlich nur den ‚Extremisten‘.“

Mag sein, dass zum Beispiel „Landtagssitze für die NPD verhindern“ unter Umständen ein ausreichender Grund ist, am Wahltag zu den Urnen zu marschieren. Aber Demokratie sollte mehr sein als eine diffuse, moralistische „Haltung“ gegen „Rechts“ oder „den Populismus“ (beides Kampfbegriffe, die ohnehin immer breiter gefasst werden, um Andersdenkende zu diskreditieren). Geht es der tonangebenden „bildungsbürgerlichen neuen Mitte“ (Streeck) überhaupt noch darum, die institutionellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass einfache Bürger sich durch die Mobilisierung von politischen Mehrheiten Geltung verschaffen können?5 Die katastrophale Durchführung der jüngsten Berliner Wahlen lässt jedenfalls vermuten, dass „deine Stimme“, anders als ständig beschworen, eben nicht zählt.

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