10.06.2022

Die Kanzlerin verteidigt ihr Erbe

Von Sabine Beppler-Spahl

Sechs Monate nach Amtsende braucht Angela Merkel einen Safe Space, um keine kritischen Fragen zu riskieren.

Jetzt wissen wir also, was Angela Merkel zum Ukraine-Konflikt zu sagen hat. Nach Wochen, in dem viel darüber in der Presse spekuliert wurde, hat sich die Altkanzlerin in der Öffentlichkeit geäußert. „Im Gespräch mit Alexander Osang stellt sich Angela Merkel erstmals seit dem Ende ihrer Zeit als Kanzlerin den herausfordernden Fragen unserer Gegenwart“, hieß es in der Ankündigung zur Veranstaltung im Berliner Ensemble. Das war viel versprochen, wenn man bedenkt, dass Merkel selbst in ihrer Zeit als Bundeskanzlerin kritischen Fragen lieber aus dem Weg ging.

Natürlich konnte jeder ahnen, was diese „kritischen Fragen" sein würden, denn Merkels Image hat gelitten. Der Einmarsch Russlands in der Ukraine hat die Schwächen ihrer Politik schneller hervorgekehrt, als man es sich im Dezember, bei ihrer Verabschiedung, hätte vorstellen können. Vor allem die Abhängigkeit von russischem Gas und die Vernachlässigung der Bundeswehr werden ihr zur Last gelegt. Kein Wunder also, dass die Veranstaltung am Dienstag mit einiger Spannung erwartet wurde.

Dem Vernehmen nach war das Theater ausverkauft. Nichts wurde bei dieser sorgfältig geplanten Veranstaltung dem Zufall überlassen. Ihr Gesprächspartner, Alexander Osang, ist einer ihrer treuesten Fans (sie werde immer seine Kanzlerin sein, sagte er, bevor sie die Bühne betrat). Fragen aus dem Publikum waren nicht zugelassen und so wurde das ehrwürdige Brecht-Theater zu einem „Safe Space“ (einem abgeschirmten Ort) für Merkel, um ihr Erbe und ihren Ruf zu verteidigen.

Das tat sie dann auch. Sie habe sich für ihre Russlandpolitik nicht zu entschuldigen, betonte sie mehrmals. Sie habe alles versucht und würde sich heute eher schlecht fühlen, wenn sie keine diplomatischen Beziehungen zu Putin gepflegt hätte. Selensky kämpfe mutig, aber 2008 sei die Ukraine noch ein von Oligarchen regiertes, korruptes Land gewesen. Sie habe immer versucht, eine Katastrophe zu verhindern. Und Nord Stream 2?  Putin habe die Invasion durchgeführt, bevor die Pipeline überhaupt in Betrieb genommen worden sei, beschwichtigte sie.

„Zeitweise erweckte Merkel sogar den Eindruck, der russische Einmarsch in die Ukraine hätte vermieden werden können, wenn sie Kanzlerin geblieben wäre."

Die Bundeswehr sei unter ihrer Ägide verlottert, erlaubte sich Osang zu sagen. Da reagierte sie unwirsch. Alle Generäle hätten ihr gesagt, die Abschaffung der Wehrpflicht sei eine Hilfe gewesen. Auch dazu stehe sie. Und so ging das Interview immer weiter, ganze 90 Minuten lang. Statt kritischer Reflektion gab es überraschend viele Seitenhiebe gegen die USA: Bidens Afghanistan-Debakel werde Putin Genugtuung bereitet haben, so die Kanzlerin. Zeitweise erweckte Merkel sogar den Eindruck, der russische Einmarsch in die Ukraine hätte vermieden werden können, wenn sie Kanzlerin geblieben wäre.

Für einige Kommentatoren war dies eine Politikerin, die mit sich im Reinen ist. Das ist die eine mögliche Interpretation des Tenors des Abends. Die andere ist, dass es sich in Wirklichkeit um eine defensive Merkel handelte, die um ihr politisches Erbe kämpft. Es überrascht nicht, dass einige ihrer alten Fans begeistert waren. Beide, sie und Osang, hätten brilliert, fand Ina Beyer vom SWR2. Offen, ehrlich, witzig und schlagfertig hätte sie ihre neue Rolle als Bürgerin erläutert, befand die Journalistin. Doch schon am nächsten Tag überwog die allgemeine Kritik an dieser Veranstaltung, bei der die Hauptbotschaft lautete: „Ich habe nichts falsch gemacht". In der taz spricht Sabine Am Orde von einem Wohlfühltermin für Merkel, während Jasper von Altenbockum von der F.A.Z. alle Fragen offen sieht.

Aber, was hätte man auch erwarten sollen? Merkel, das hat die Veranstaltung gezeigt, hat sich in den letzten sechs Monaten nicht verändert. Die Welt um sie herum allerdings schon und die Realität hat uns in Deutschland längst eingeholt. Eine Veranstaltung in einem Theater wird Merkels Erbe auch nicht retten.

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