24.12.2021

16 Jahre Merkel: Ein Rückblick und Ausblick

Von Sabine Beppler-Spahl

Titelbild

Foto: nickgesell via Pixabay / CC0

Wenn 2021 das Jahr war, das das Ende der Ära Merkel eingeleitet hat, wird 2022 dann das Jahr der großen gesellschaftlichen Spaltungen werden?

2021 war das Jahr, in dem Angela Merkel ihren Abschied nahm. Als Anfang Dezember Millionen vor dem Fernseher saßen und den großen Zapfenstreich verfolgten – mit seinen Fackelträgern und der Bundeswehrband, die „Für mich soll es rote Rosen regnen“ spielte –, mochte es manchen von ihnen warm ums Herz geworden sein. Einige meiner Bekannten sprachen gar von einem Gefühl der Niedergeschlagenheit. Das lässt sich damit erklären, dass sie in der Kanzlerin eine Art Beschützerin sahen. Merkel, heißt es, war der Fels in der Brandung, der uns vor dem Unbill der Welt schützte. Dieser Fels war es auch, der – in den Augen vieler – den Deckel auf den sozialen und politischen Spannungen in Deutschland hielt.

Paradoxerweise würden nur sehr wenige, selbst ihrer Fans, behaupten, dass sie das Land in einem guten Zustand hinterlässt. Geklagt wird über den großen Investitionsrückstand, die vernachlässigte öffentliche Infrastruktur, die vielen ungelösten Probleme der Energiewende sowie den desolaten Zustand ihrer Partei, an dem auch sie Schuld hat.

Trotzdem heißt es in den vielen Nachrufen auf ihre Kanzlerschaft, dass ihr Dank und Anerkennung gebührt: Sie habe 16 Jahre lang Deutschland durch Stürme gesteuert, die andere Staatsschiffe in Seenot brachten und auch in Berlin Leichtmatrosen über Bord gespült hätten, schreibt z.B. Berthold Kohler in der FAZ. Die große Leistung Angela Merkels, hinter der alle Kritik zurückstecken muss, ist also vor allem dies: Sich so lange an der Macht gehalten zu haben! Und das Besondere an dieser Leistung ist, dass sie sich sozusagen immer weiter antrieb, wie ein Perpetuum Mobile, je länger sie sich hielt.

„Paradoxerweise würden nur sehr wenige, selbst von Merkels Fans, behaupten, dass sie das Land in einem guten Zustand hinterlässt.“

Es wäre jedoch ein Missverständnis zu glauben, dass Merkels Fähigkeit, sich an der Macht zu halten, nur auf ihren großartigen politischen Überlebensinstinkt, den sie zweifellos hat, zurückzuführen ist. Vielmehr wurde sie von einer zunehmend verunsicherten Mittelschicht gestützt, die sie brauchte, um die Unzufriedenen, die Antiliberalen und Populisten abzuwehren. Vor allem nach der Euro-Krise, der Flüchtlingskrise und dem Aufstieg der AfD gelang es ihr, die Kräfte des Establishments hinter sich zu scharen. Von da an bekam jede Kritik an der Kanzlerin den Beigeschmack des Populismus. Diejenigen, die ihr zu Beginn ihrer Karriere noch skeptisch gegenüberstanden, verstummten zunehmend. Das ging so weit, dass einige ihrer größten Fans in der oppositionellen Grünen Partei zu finden waren (siehe Winfried Kretschmann).

Ihr sorgfältig gepflegtes Image als Garantin der staatlich gelenkten liberalen Ordnung kennzeichnete auch ihre Abschiedsrede: Sie betonte die Fragilität der Demokratie, beklagte das Leugnen von Fakten sowie das Verbreiten von Verschwörungstheorien und Hetze (ein Wink an die Kritiker der Covid-Maßnahmen) und fügte hinzu, dass überall da, wo Hass und Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen erachtet würden, unsere Toleranz ihre Grenze finden müsse. Darüber, wer entscheiden kann, was als Hass zu werten ist, verlor sie natürlich kein Wort.

Merkel war – trotz ihres Spitznamens Mutti – nie eine integrative Figur. Je mehr sich das Establishment um sie scharte, desto mehr fühlten sich diejenigen, die sie nicht mochten, ausgegrenzt. In den vergangenen Monaten stiegen ihre Beliebtheitswerte infolge der Covid-Krise wieder an (Angst ist meistens ein schlechter Ratgeber). Aber die Vorstellung, dass es ihr gelungen wäre, die Konflikte des Landes für immer unter der Decke zu halten, ist eine Illusion. Ihre letzte Amtshandlung war es, die allgemeine Impfpflicht zu fordern.

„Merkel war – trotz ihres Spitznamens Mutti – nie eine integrative Figur. Je mehr sich das Establishment um sie scharte, desto mehr fühlten sich diejenigen, die sie nicht mochten, ausgegrenzt.“

Jetzt, da Merkel nicht mehr im Amt ist, versucht die neue Koalition mit großer Nervosität, in ihre Fußstapfen zu treten. Als handele sie in vorauseilendem Gehorsam, hat sie sich Merkels Vorschlag, die allgemeine Impfplicht einzuführen, zu eigen gemacht. Außerdem hat sie die Ungeimpften faktisch aus dem öffentlichen Leben verbannt – und das, obwohl alle Koalitionsparteien im Wahlkampf eine solche Maßnahme noch ausgeschlossen hatten. Es scheint, als habe Olaf Scholz die Warnungen der scheidenden Kanzlerin vor den Grenzen der Toleranz sehr wörtlich genommen. Das braucht niemanden zu wundern, da er sich ja schon im Wahlkampf als ihr natürlicher Nachfolger präsentierte. Allerdings gibt es ein Problem: Noch im November war die Zahl der ungeimpften Erwachsenen höher als die Zahl derer, die ihn überhaupt gewählt haben!

Nun, da sich das Jahr dem Ende zuneigt, haben manche Kommentatoren ihn schon zum Kanzler der Ausgrenzung erkoren. Bereits jetzt, da die Regierung erst wenige Wochen im Amt ist, zeigt sich ein wachsendes Protestpotential: „Wie aus dem Nichts“, schreibt die Berliner Zeitung, seien die Corona Demos in ganz Deutschland wieder aufgeflammt. Und das, obwohl viele Kommunen ein Demonstrationsverbot ausgesprochen haben. Zunehmend finden sich auch wohlwollende Artikel über diese Demonstrationen, vor allem in den kleineren, lokalen Zeitungen. Gleichzeitig haben sich Juristen und Wissenschaftler in unterschiedlichen Appellen gegen die Impfpflicht ausgesprochen.

Dass den Bürgern zudem mitgeteilt wurde, sie müssten, vorgeblich wegen der Pandemie, an diesem Silvester wieder auf ihr geliebtes Feuerwerk verzichten, wird die Stimmung nicht besser machen. Wenn 2021 das Jahr war, das das Ende der Ära Merkel eingeleitet hat, wird 2022 dann das Jahr der großen gesellschaftlichen Spaltungen werden?

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